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Weltkunstausstellung
Die documenta 14 wird zu Unrecht verdammt

Selbstgefällig, bigott, rückwärtsgewandt - so wurde die documenta bezeichnet. Am Sonntag ging die 14. Ausgabe der Weltkunstausstellung zu Ende. Das Kuratoren-Team um Adam Szymczyk musste viel Kritik einstecken. Doch "krachend gescheitert" sei diese documenta nicht, meint Änne Seidel.

Von Änne Seidel | 17.09.2017
    Riock Lowe sitzt mit drei Menschen um einen kleinen Holztisch am Rande einer Straße. Im Hintergrund ist ein verglastes Ladenblokal zu erkennen, das die Werkstatt für sein documenta 14-Projekt "Victoria Square Project" bildet.
    Nahe des Victoria-Platzes in Athen hat Künstler Rick Lowe einen Ort des Zusammentreffens kreiert. Die documenta in diese Stadt zu bringen, das war mehr als ein gut gemeinter Akt der Solidarität (Deutschlandradio / Charlotte Stiévenard)
    Die DNA der documenta wollte er verändern, auf dass nichts mehr so sein werde, wie es einmal war: Nichts weniger als das hatte sich Kurator Adam Szymczyk vorgenommen. Und das war nicht nur eine großspurige Worthülse. Szymczyk setzte tatsächlich das Skalpell an und machte sich am Rückenmark der traditionsreichen Weltkunstausstellung zu schaffen: Die Entscheidung, auch nach Athen zu ziehen – die Entwurzelung der documenta – , das war ein großer Schritt. Es hätte die SUPER-documenta werden können.
    Doch dann ist Szymczyks OP gründlich schief gelaufen. Statt zur Vorzeige-documenta mutierte die Ausstellung zu einem selbstgefälligen Etwas, das sich an einer Überdosis political correctness verschluckte und in den eigenen Widersprüchen verhedderte. Ein Frankenstein der Kunst. So zumindest las sich die vernichtende Meinung vieler Kritiker.
    Athen war ein mutiges Experiment
    Und in Teilen hatten sie damit Recht: Diese documenta war an vielen Stellen nicht zu Ende gedacht. Und der überhebliche Gestus, mit dem die Kuratoren uns die vermeintlich richtige Weltsicht aufzwingen wollten – der tat der Ausstellung nicht gut. Aber "krachend gescheitert", wie es immer wieder heißt, ist diese documenta nicht.
    Der Gang nach Athen war ein gutes und mutiges Experiment. Sicher, die Umsetzung der Doppel-documenta war nicht perfekt. Aber wer beobachten durfte, wie betagte Athener Bürger auf dem Syntagma-Platz vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben mit zeitgenössischer Kunst in Berührung kamen – nämlich weil sie buchstäblich über sie gestolpert sind -, der kann dieses Experiment nicht allen Ernstes verteufeln. Die documenta in diese Stadt zu bringen, das war mehr als ein gutgemeinter Akt der Solidarität.
    documenta 14 als Diskursstifter
    Und auch in der documenta-Heimatstadt Kassel war längst nicht alles schlecht. Wer diese documenta in Grund und Boden stampft, der übersieht, dass sie auch viel gute Kunst hervorgebracht hat – und dafür gesorgt hat, dass Tausende sie sehen.
    Und zeigt nicht die aktuelle Debatte um Kolonialismus-Aufarbeitung am Berliner Humboldt-Forum, dass die documenta auch thematisch einen Nerv getroffen hat? Die Gerechtigkeit, sowohl auf globaler als auch auf lokaler Ebene, ist das Thema unserer Zeit.
    Nicht zuletzt hat diese documenta dem Diskurs gut getan: Sie hat gereizt und gefordert, oft überfordert. Und so eine beeindruckende Debatte losgetreten - sowohl in Athen, als auch in hiesigen Feuilletons und Fachmagazinen. Eine Debatte, die weit über die eigentliche Ausstellung hinausging. Diese documenta hat die zeitgenössische Kunst, den Kunstbetrieb, ja sogar die Kunstkritik dazu gezwungen, sich selbst zu hinterfragen. Wenn das kein Verdienst ist!
    Wenn diese Debatte Früchte trägt und wenn sie fair bleibt, dann hat Adam Szymczyk am Ende womöglich doch noch sein Ziel erreicht: Alles wäre anders, als es einmal war.