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Weltliteratur weltweit verlegen

In einer Dreizimmerwohnung in Kalkutta verlegt Literaturfreund Naveen Kishore Bücher in englischer Übersetzung, die in Dependancen des Verlages auf der ganzen Welt erhältlich sind. Viele westliche Verlage hielten ihn trotz seines Erfolges noch immer für eine dubiose Figur, erzählt Kishore.

Von Christoph Burgmer | 07.04.2011
    Die ausgetretenen Holzstiegen führen in den ersten Stock. Es ist dunkel und riecht muffig. Der Hausflur erinnert an renovierungsbedürftige Berliner Mietskasernen. Allerdings, das handgeschmiedete Eingangsportal ist ein Hinweis auf bessere Zeiten. Vergilbte Fotografien an den Flurwänden zeigen das Haus an der Circus Avenue am Stadtrand von Kalkutta. Umgeben von hochgewachsenen Palmen, inmitten einer tropischen Gartenlandschaft. Doch von der einstmals bevorzugten Lage ist nichts geblieben. Die Circus Avenue ist in der indischen Gegenwart eine doppelstöckige, mehrspurige Verkehrstrasse. Täglich gelangen so Hunderttausende ins Zentrum der westbengalischen 15 Millionen-Einwohner-Metropole und wieder hinaus in die Vorstädte.

    Die Abgase haben Fassade, Fenster und sogar den Flur des dreistöckigen Hauses mit einem schwarzen Dreckfilm überzogen. Aber es ist wie so häufig in Indien: Verborgen hinter heruntergekommenen Fassaden, umgeben von Dreck, Elend und unendlichem Gestank, beginnen die Geschichten, wie die von Naveen Kishore, der mit seinem Seagull Verlag das internationale Verlagswesen revolutionieren will:

    "Bis 2005 haben wir in Indien Bücher verlegt. Wir sind fü25 Jahre lang ausschließlich ein Theater-, Film- und Kunstverlag gewesen. 2005 haben wir dann erstaunt bemerkt, dass die großen westlichen Verlage, Harper Collins, Simon & Schuster, Random House und andere neue Filialen in New Delhi eröffnet haben. Einerseits, weil sie sich vom englischsprachigen Markt in Indien guten Profit versprochen haben. Andererseits ist es damals aber auch einfach chic gewesen, weltweit Filialen zu eröffnen und sie erhielten dafür viel Beifall aus der Politik. Auch wir sind von dieser Aufbruchsstimmung inspiriert worden. Wir haben uns ausgemalt, wie es wohl sein würde, wenn auch wir Literatur und Sachbücher in englischer Übersetzung nicht nur in Indien, sondern in London und New York verkaufen würden. Geld ist schließlich Geld, und auch mit unserem Geld kann man Bücher von Toni Morrison, Pablo Picasso und Jean-Paul Sartre machen."

    Naveen Kishore öffnet mir persönlich die Türe und lässt mich ein. Zu erkennen sind nicht allzu große, hohe, helle Räume mit Stuck und Holzböden. Für Garderobe, Empfangsräume, Sekretärinnen, Vorzimmer, ja selbst für Schreibtische ist hier kein Platz. Jeder der neun Mitarbeiter des Verlages hat sich irgendwo seinen Arbeitsplatz gesucht. Überall Bücher, in Regalen, neben den PCs, gestapelt zu Türmen unterschiedlicher Höhe. Naveen Kishore führt mich ins hinterste Eck der Wohnung. Vor einen Bildschirm sitzt die Grafik Designerin Sunandini Banerjee und illustriert "Viktor Halbnarr", die einzige Kindergeschichte des österreichischen Autors Thomas Bernhard aus dem Jahr 1966. Kishore:

    "Die Geschichte ist im Deutschen nur wenige Seiten lang, die Übersetzung von Martin Chalmers ins Englische einige Seiten länger. Sunandini Banerjee illustriert sie, so dass das Buch jetzt 96 Seiten hat. Wir haben bislang sechzehn deutsche Bücher so kunstvoll illustriert, weitere dreißig sind vorgesehen. Denn in der Regel machen wir nicht nur ein Buch eines Autors, sondern direkt mehrere."

    Thomas Bernhards Kindergeschichte wurde 2006 mit den wunderbaren Illustrationen des österreichischen Künstlers Alfons Schweiggert neu aufgelegt. Naveen Kishore ließ den Text ins Englische übersetzen und jetzt werden im indischen Kalkutta seit Wochen Grafiken und Bilder zur Illustrierung gestaltet. Im Frühjahr soll die bibliophile Ausgabe im indischen Seagull Verlag erscheinen. Dann wird die Kindergeschichte erstmalig weltweit zu kaufen sein, in Indien genauso wie in Thailand, in Pakistan, den USA und Polen, in Mexiko, Brasilien, Taiwan, Kanada, Japan und zahlreichen anderen Ländern. Überall unterhält Naveen Kishore Dependancen.

    "Wir haben uns von unserem Überschwang an Gefühlen treiben lassen, haben einige Intellektuelle, Schriftsteller und Freunde gefragt, was sie davon halten, Bücher für den Weltmarkt zu machen. Sie sind direkt begeistert gewesen. Also haben wir im April 2005 unsere ersten Verlagsfilialen im Ausland, in London und New York eröffnet. Aber uns fehlten die Bücher. Ich erinnerte mich, dass ich als Jugendlicher viel aus dem französischen Gallimard Verlag gelesen hatte und ich sein Archiv gut kannte. Also sind wir zuerst nach Paris gefahren. Aber bei Gallimard wurden heftige Zweifel an unseren Ideen geäußert. Immer wieder haben sie mich gefragt, warum ich denn Foucault und Sartre in Indien veröffentlichen will. Ich habe ihnen geduldig erklärt, dass es nicht in Kalkutta oder Indien alleine, sondern in der ganzen Welt vertrieben werden soll. Dass ich die englischsprachigen Rechte an ihren Büchern für die ganze Welt kaufen möchte. Sie sind äußerst misstrauisch geblieben, irgendwie haben sie sogar unterschwellig dagegen gearbeitet. Das war lange Zeit so. In ihren Augen bin ich bis heute eine äußerst dubiose Figur geblieben, jemand, der zwar in Euros bezahlt und auch irgendwie ganz schöne Bücher macht, aber trotzdem."

    Naveen Kishore ist Verleger mit Leib und Seele, Journalist, Künstler, Theaterfanatiker, Intellektueller, kreativer Netzwerker. Er ist ständig in Bewegung, elektrisiert von den Freiräumen der global vernetzten Welt. Freiräume, die indischen Intellektuellen wie ihn dank neuer Technologien den unzensierten Zugang zur globalen Öffentlichkeit frei machen. Nach Jahrhunderten westlicher Bevormundung und gefiltertem Informationsfluss durch englischsprachige Verlagstrusts eröffnen sich dadurch bisher unbekannte Möglichkeiten. Kishore:

    "Der Widerstand hat sich zunächst an der Verbreitung des Titels festgemacht. So hat man uns ausschließlich die Rechte für Großbritannien oder die USA verkaufen wollen. Aber ich habe darauf bestanden, die weltweiten Rechte zu bekommen. Für Titel aus der backlist wollte ich außerdem keine Listenpreise bezahlen. Es hat lange gedauert, bis sie unser Konzept begriffen hatten. Schließlich wollten wir auch etwas Neues machen: Bücher ins Englische übersetzen und weltweit vertreiben. Wir engagierten die bekanntesten europäischen Übersetzer und suchten gleichzeitig in Kalkutta kreative Designer, Grafiker und Illustratoren. So entstanden wundervolle Bücher. Wir haben weltweit Verlagsfilialen eröffnet, so dass die Bücher in zahlreichen Ländern gleichzeitig erscheinen konnten. Dieses Experiment hat ziemlich viel Geld gekostet und unser Gewinn ist bis heute gering. Dafür hat jeder europäische und deutsche Verleger eine echte Wahl. Er muss nicht mehr drei oder vier Jahre warten, bis irgendein amerikanischer Verlag sein Buch wie auch immer in den USA publiziert. Ich sage telefonisch innerhalb von 30 Sekunden, nachdem ich den Katalog des Verlages durchgeschaut habe, ob ich das Buch mache oder nicht. Die Liste der Veröffentlichungen ist jedoch inzwischen größer als das, was ich selbst überhaupt beurteilen kann. Aber auch hier gehen wir neue Wege. Wir haben unsere Übersetzer gebeten, uns ihre Wunschliste von Büchern zu schicken, die sie gerne veröffentlicht sehen wollen. Die Resonanz ist überwältigend. Denn niemals zuvor ist ein Verleger zu ihnen gekommen und hat ihnen eine derartige Mitbestimmung zugestanden."

    In nur kurzer Zeit hat der Seagull Verlag eine beeindruckende Zahl von weltbekannten Autoren veröffentlicht: André Gorz, Pablo Picasso, Gertrude Stein, Peter Weiss, Tvetan Todorov, Rabindranath Tagore, Edward Said, Paul Virilio, Sergei Eisenstein, Heiner Müller, Paul Celan und Aimé Césaire, um nur einige zu nennen. Vieles erscheint erstmalig in Englisch oder ist wieder verfügbar, nachdem die Bücher schon vor Jahren oder Jahrzehnten aus wirtschaftlichen Gründen aus den Programmen europäischer oder amerikanischer Verlage genommen wurden. Beeindruckend ist die Bandbreite europäischer Literatur, die erstmalig auch in den großen Buchhandlungen in den Ländern des Südens zugänglich ist. Die Bücher sind in ambitionierten Reihen zusammengestellt. Weltliteratur, zensierte Bücher, Theater, Kino, Interkulturelle Studien und so weiter. Neben einer französischen gibt es auch eine deutsche Reihe, mit prominenten Autoren wie Jurek Becker, Max Frisch, Peter Handke, Ingeborg Bachmann und Theodor W. Adorno. Naveen Kishore musste kreativ und mit außergewöhnlichem Engagement und Fingerspitzengefühl agieren, um die eingefahrenen Hierarchien in den Köpfen westlicher Verleger zu überwinden:

    "Ich will Ihnen das am Beispiel des Beginns unserer Geschäftsbeziehung zum Suhrkamp Verlag verdeutlichen. Zwei Jahre lang haben wir während der Frankfurter Buchmesse versucht, mit jemandem über den Kauf von Buchrechten zu sprechen. Wir haben keinen Termin bekommen. Immer sagte man uns, die verantwortliche Mitarbeiterin sei beschäftigt. Also vereinbarten wir im dritten Jahr einen Termin nach der Buchmesse. Jetzt wollten wir endlich über den Einkauf von Weltrechten reden. Wir sind aber nur bis zur Assistentin gekommen, die ihre Chefin sehr gut abschirmte. Nachdem wir eine halbe Stunde diskutiert haben, stellten wir fest, dass sie genauso wie ihre Chefin noch niemals in Indien gewesen war. Also haben wir beide eingeladen. Und tatsächlich, drei Monate später sind sie nach Kalkutta gekommen. Hier haben wir ihnen 15 Verleger vorgestellt, die ihre Bücher übersetzen und in Indien verkaufen. Ohne sich um so etwas wie Rechte zu kümmern, weil sie dafür sowieso kein Geld haben. Außerdem haben wir ein Treffen mit den führenden indischen Verlegern in Delhi organisiert. So haben sie die indische Verlagsrealität kennengelernt. Diese zwei Wochen haben ihre Sichtweise verändert. Genauso ist es einigen kleineren Verlegern ergangen, die uns mit Hilfe des Goethe-Institutes besuchen konnten. Es ist zwingend notwendig, dass man sich persönlich begegnet, damit sie unsere Lebenswirklichkeit verstehen."

    Nach der Reise überließ der Suhrkamp Verlag dem Seagull Verlag die Rechte für zahlreiche Titel. Sie machen heute das Gros der deutschen Liste aus. Naveen Kishore überreicht mir den aktuellen Verlagskatalog. Was ansonsten als bunte, marktschreierische Broschüre von Werbeagenturen als Massenprodukt gestaltet wird, ist im Seagull Verlag ein in feinstes Leder eingebundenes Buch, ein bibliophiles Kunstwerk mit Textauszügen, Illustrationen, bislang unveröffentlichten Briefen an den Verleger und Interviews. Dort findet sich auch ein Gespräch mit Hans-Magnus Enzensberger. Wie viele andere Autoren aus aller Welt ist auch er vom indischen Weltliteraturkonzept begeistert:

    "Ich war begeistert als ich davon hörte, dass sich jemand diesem Abenteuer stellt. Als ich dann Naveen Kishore zum ersten Mal traf, bin ich tief beeindruckt gewesen und zögerte keinen Augenblick. Was für ein Katalog, was für ein Design, alles ist beseelt von Leidenschaft und tiefster Überzeugung. Wenn ein Buch heutzutage keinen unmittelbaren Gewinn abwirft und es nicht bis in die Bestsellerlisten schafft, wird der Autor fallen gelassen. Das ist die Logik des heutigen Verlagswesens. Nach dieser Logik wäre Nabokov oder Kafka niemals erschienen. Deshalb unterstütze ich Naveen Kishore."

    Jedes Jahr erscheinen alleine 50 Bücher in englischer Übersetzung im Seagull Verlag, dazu kommen Titel indischer, arabischer und iranischer Autoren. In vielen Ländern sind Naveen Kishores Bücher in Universitäts- und Bahnhofsbuchhandlungen zu finden, eine Kooperation mit Chicago University Press sorgt für entsprechende Präsenz im Westen. Naveen Kishore erzählt mir von seiner Kunststiftung, von der Eröffnung einer Schule für Verleger in diesem Sommer und natürlich von den vielen wunderschönen und kritischen Büchern, die es unbedingt noch zu verlegen gilt in der Dreizimmerwohnung an der Circus Avenue in Kalkutta.