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Weltpolitik
Moral und Interesse

Der Westen hat die Welt ins Chaos gestürzt, weil er anderen Ländern seine Vorstellungen und Institutionen aufzwingen wollte: Das ist die These des Politikwissenschaftlers Carlo Masala, die er in seinem neuen Buch "Weltunordnung" formuliert.

Von Conrad Lay | 19.12.2016
    Der deutsche Philosoph Immanuel Kant ("Kritik der reinen Vernunft") in einem Stich von Johann Leonhard Raab nach einem Gemälde von Gottlieb Döbler aus dem Jahr 1781.
    Moral wird von Kant als einschränkende Bedingung der Politik gesehen. In Carlo Masalas Beispielen dient die Moral als Grundlage für Interventionen in fremden Ländern. (dpa / picture alliance / Bertelsmann Lexikon Verlag)
    Ob Afghanistan, Irak, Libyen oder Syrien – in vielen Ländern haben westliche Staaten in den vergangenen 25 Jahren militärisch eingegriffen. Zugrunde lag diesen Interventionen die Vorstellung, nachdem der Kalte Krieg gewonnen worden sei, müsse der Westen das internationale Staaten-System gemäß den eigenen Vorstellungen umgestalten, um so zu einem dauerhaft stabilen Weltfrieden zu gelangen. Ein Vierteljahrhundert später sind die Ergebnisse ernüchternd: Carlo Masala spricht davon, der Versuch, die Welt zu verwestlichen, sei gescheitert, ja, er habe in nicht unerheblichem Maße dazu beigetragen, dass wir in einer "Welt der Unordnung" leben. Carlo Masala:
    "Na ja, wir haben in den letzten 25 Jahren sehr viele Versuche erlebt, seitens des Westens, allen voran der Vereinigten Staaten, mit der Unterstützung der Europäischen Union teilweise, bestimmte Normen und Prinzipien zu universalisieren. Da geht es um Demokratisierung, da geht es um Menschenrechte, da geht es um andere völkerrechtliche Normen, und diese Universalisierung ist zum Teil mit militärischen Mitteln versucht worden, also regime-change, in einigen Ländern dieser Welt mit ökonomischen Druckmitteln, das sind alles die Versuche, die Welt zu transformieren, und wenn wir uns heute im Jahr 2016 einmal umblicken, dann sehen wir, dass der Widerstand gegen diese Versuche der Transformation sehr erheblich ist."
    Wenn alle Probleme wie Nägel aussehen
    Man hätte ja eigentlich annehmen können, dass die USA als einzig verbliebene militärische Supermacht ihre Stellung dazu benutzt, Stabilität in den internationalen Beziehungen zu schaffen. Doch dies war offenkundig nicht der Fall:
    "Ja, seitens der Vereinigten Staaten verleitet diese unipolare Stellung auch zu Abenteuern, denn wenn Sie eine Situation haben, in der Sie die militärisch bei weitem stärkste Macht sind – und die Unipolarität, die hatten wir ja nur im militärischen Bereich, die hatten wir nie im ökonomischen Bereich - aber wenn Sie diesen Eindruck haben und er entspricht ja auch der Realität, dann werden Sie versucht sein, dieses Instrument zur Durchsetzung Ihrer Ziele einzusetzen; und genau das haben die Vereinigten Staaten gemacht, es gibt dieses schöne Sprichwort: wenn Sie nur einen Hammer haben im Werkzeugkasten, dann sehen alle Probleme aus wie Nägel. Und genau das ist in den USA passiert: man hatte diesen Hammer, militärische Macht, militärische Stärke, und alle Probleme dieser Welt sahen plötzlich so aus, dass man sie mit dem Einsatz militärischer Macht lösen könnte."
    Politik der Doppelmoral
    Was ursprünglich als eine Politik der globalen Demokratisierung gedacht war, verführte jedoch bald dazu, Länder unterschiedlich zu behandeln. Carlo Masala sieht in der Vermischung von Demokratisierung und Machtpolitik einen Grund dafür, dass dem Westen "Doppelmoral" vorgeworfen wurde.
    "Wir behandeln Saudi-Arabien richtigerweise als einen strategischen Partner, klagen aber Menschenrechtsverletzungen in anderen Staaten massiv an und isolieren diese. Das machen wir mit den Saudis nicht, weil: Die Saudis sind uns zu wichtig. Wie soll denn das ein normaler Bürger verstehen, dass wir Saudi-Arabien einerseits so behandeln, andere Regime aber völlig anders behandeln. Also wäre mein Petitum: Sagen wir die Wahrheit, wir sagen: wir mögen die Saudis nicht, aber wir brauchen sie, wir mögen das andere Regime nicht und brauchen es nicht, deswegen können wir dort eine andere Politik verfolgen."
    Interessen klar formulieren
    Carlo Masala schlägt deshalb vor, künftig weniger auf Moral und Demokratie zu setzen als vielmehr auf Stabilität und Frieden, also auf klassische Interessenpolitik. Er schreibt: "Der Ausweg aus dieser Doppelmoral (des Westens) wäre eine von vielen Bürgern als zynisch erachtete interessengeleitete Realpolitik, die ihr Handeln mit dem nationalen Interesse und der nationalen Sicherheit begründet und sich auch nur von diesen Kategorien leiten lässt. Das wäre ehrlich und konsistent."
    Nimmt man die Definitionen der klassischen Philosophie als Maßstab, dann hat sich das Verhältnis von Politik und Moral stark verändert. Immanuel Kant etwa hatte in seiner Schrift "Zum ewigen Frieden" formuliert: "Die Politik sagt, 'Seid klug wie die Schlangen'; die Moral setzt (als einschränkende Bedingung) hinzu: 'und ohne Falsch wie die Tauben'."
    Plädoyer für interessengeleitete Politik
    Moral wird von Kant also als einschränkende Bedingung der Politik gesehen. In den von Carlo Masala genannten Beispielen diente jedoch die Moral genau umgekehrt dazu, Interventionen in fremde Länder über das "strategisch notwendige" Maß hinaus auszudehnen. Anders als die Moral – so mutmaßt Masala - würde sich eine interessengeleitete Politik sogar eher zurückhalten. Insofern hat sich das Verhältnis von Politik und Moral völlig verkehrt: "Na ja, ich denke halt, sie produziert genau die Probleme, die wir heute in der internationalen Politik haben: Nämlich, dass wir als doppelzüngig angesehen werden, dass wir mit unseren Ansprüchen oftmals an die Grenzen der Umsetzung stoßen, weil wir den moralischen Imperativ im Vergleich zu der strategischen Notwendigkeit zu stark in den Vordergrund rücken."
    Die Folgen einer an nationalen Interessen orientierten Politik ergäben nach Ansicht Masalas eine gelockerte Bündnissolidarität, die "nicht als primäres Ziel der deutschen Außenpolitik" verstanden werde, sowie häufiger sich bildende "Koalitionen von Willigen und Fähigen", insgesamt also eine differenziertere Außen- und Sicherheitspolitik. Deren bisherige Pfeiler, nämlich EU und NATO, verlören demgegenüber "nachhaltig an Bedeutung", weil das ihnen zugrundeliegende "Prinzip der Einstimmigkeit" nur selten umgesetzt werden könne. Deshalb solle Deutschland sein Handeln "strikt an seinen eigenen Interessen ausrichten". Mit derlei provokanten Thesen zur "Weltunordnung" hat Carlo Masala den Finger in eine offene Wunde gelegt.
    Carlo Masala: "Die globalen Krisen und das Versagen des Westens"
    C.H. Beck, 176 Seiten, 14,95 Euro.