Donnerstag, 28. März 2024

Archiv


Weltuntergang en miniature

Annika Scheffels erster Roman "Ben" war ein poetisches Coming-of-Age-Märchen. Nun, drei Jahre später, präsentiert die Autorin ihr neues Buch über ein dem Untergang geweihtes Dorf. Es ist nicht minder fantasiereich als ihr Debüt.

Von Ulrich Rüdenauer | 12.08.2013
    Das erste Buch ist ein Spiel. Kein Kinderspiel zwar, aber doch eine schöne, noch etwas vage Angelegenheit: Niemand erwartet etwas, man schreibt meist ohne größeren Resonanzraum – kein Lektor, kein Verleger, keine Sorge vor dem Kritikerurteil sitzen einem drohend im Nacken. Beim zweiten Buch muss sich erweisen, ob das Spielerische des ersten Versuchs sich bewahren lässt. Annika Scheffel hat mit "Ben", erschienen 2010 im kleinen Kookbooks Verlag, ihr Gesellenstück abgeliefert und mit dieser Adoleszenzgeschichte respektablen Zuspruch gefunden.

    Nun folgt der berüchtigte zweite Roman. "Bevor alles verschwindet" erscheint im Suhrkamp Verlag, und dort gleich als Spitzentitel in der deutschsprachigen Belletristik.

    "Ich habe probiert, den Druck zu vermeiden, aber natürlich war er im Hinterkopf trotzdem da. Wenn man nicht möchte, dass das zweite so besprochen wird, dass man sagt: Naja, das erste war ganz toll, aber das zweite… sollte sie sich lieber einen anderen Job suchen. Und das hat man natürlich im Hinterkopf, aber eher im Vorfeld. Als ich dann angefangen habe mit dem Schreiben, war das weg, da habe ich mich wirklich aufs Schreiben konzentriert. Und dann ist es natürlich so, dass jetzt, wo das Buch draußen ist, das Thema wieder auftaucht. Aber beim Schreiben selbst hat mich das zum Glück nicht behindert."

    Schon im Herbst des vergangenen Jahres konnte man einen Auszug aus dem Buch hören – beim Kritikerempfang des Suhrkamp Verlags während der Frankfurter Buchmesse, eine traditionsreiche, noch immer höchst aufgeladene Veranstaltung, bei der mit einem ausgewählten Titel aus dem kommenden Programm bei den Anwesenden Erwartungen geschürt werden sollen.

    "Es war ungewohnt, weil ich saß, und alle Kritiker standen über mir, sozusagen, also konnte ich nur die ersten ein, zwei Reihen sehen. Das war schon anders als bei anderen Lesungen, wo alle sitzen und man eher auf einer Ebene ist. Aber wie gesagt, es hat mir bei der Lesung Spaß gemacht. Und danach ging es in der Presse sehr stark darum, dass bei mir eine Figur beschrieben wird, dass sie 'rahmspinatgrüne Augen' hat. Und das war dann ein großes Thema, was ich sehr interessant fand, weil das nur ein kleines Detail ist; aber was dann innerhalb von so einem Kritikerempfang hängen bleibt und was die Gemüter erhitzt, das hätte ich nicht erwartet, dass es gerade die 'rahmspinatgrünen Augen' sind."

    Die 'rahmspinatgrünen Augen' blitzen in dem Buch tatsächlich nur an einer Stelle auf; sie gehören einem Mann in dunkelblauem Anzug, der in offiziellem Auftrag schlechte Nachrichten in ein kleines Dorf bringt. Vordergründig erzählt Annika Scheffel von einem Weltuntergang en miniature, und weil alles hier ein bisschen kleiner und damit jedes Detail wichtiger ist, können auch die rahmspinatgrünen Augen ins Auge stechen, einen größeren Wahrnehmungsreiz auslösen.

    Übersichtlich ist die Handlung, überschaubar das Personal, und winzig das Dorf, das einem großen Bauprojekt weichen und geflutet werden soll. Ein Stausee wird in wenigen Monaten diese heile Welt verschlucken, mit ihr die malerischen Häuser, die Dorflinde, und die ganzen darum sich rankenden Lebensgeschichten.

    "Zum einen kann man diesen Fakt erzählen, dass zum Beispiel in der Lausitz oder in NRW durch den Tagebau tatsächlich Orte verschwinden, dass Leute vor die Tatsache gestellt werden, dass sie alles verlieren, nicht nur ihr Zuhause. Das Zuhause ist ganz weg, alle Erinnerungen, die in diesem Ort gespeichert sind, verschwinden mit dem Ort. Da kann man drüber streiten, ob sie wirklich verschwinden oder ob sie in den Personen weiter existieren. Aber es gibt keine Erinnerungsorte mehr, an die man gehen kann."

    Einen Ort, an dem das Gedächtnis an die verschwundenen Dörfer bewahrt werden soll, gibt es aber doch – in der Lausitz.

    "Das 'Archiv verschwundener Orte' ist ein Museum, das eigentlich nur aus einem Raum besteht, und dort gibt es auf dem Boden einen Infoteppich, so wurde das genannt, und über den Teppich kann man mit einem Infosauger drüberfahren, der Teppich ist wie eine Landkarte angelegt. Und immer wenn man mit dem Infosauger über einem dieser ehemaligen Orte ist, kann man auf einen Knopf drücken, und man erfährt dann im Display des Saugers etwas über diesen Ort, der verschwunden ist."

    Erinnerungen aufsaugen: Das mag auf den ersten Blick etwas makaber erscheinen angesichts des Verlusts von Heimat, die einfach so weggekehrt worden ist. Aber zugleich ist es auch eine gute Beschreibung dessen, was unser Bewusstsein fortwährend tut: Die Krümel, die von Vergangenem übrig bleiben, saugen wir gierig auf, wollen sie einsammeln, um ein wenig Ordnung zu schaffen im Chaos des Verlorenen. Was in diesem Verlorenen verborgen liegt, ist ja meist nicht die reine Idylle. Erst die Dinge, die im Verschwinden begriffen sind, machen uns anfällig für Melancholie, manchmal auch für eine größere Einsicht ins Geschehen.

    "Gleichzeitig hat mich interessiert, wie durch so eine äußere Setzung von 'Ihr müsst wegziehen' alte Strukturen aufbrechen in diesem Ort. Es ging mir nicht darum, eine perfekte Welt zu erzählen, die zerstört wird; sondern in dieser Welt stimmt ja schon vieles, bevor dieser Ort dem Untergang geweiht wird, nicht. Durch dieses erzwungene Wegziehen brechen natürlich Sachen auf oder müssen sich die Figuren, die Personen des Romans mit Sachen auseinandersetzen, mit denen sie sich sonst wahrscheinlich nicht auseinandergesetzt hätten, weil sonst alles weitergelaufen wäre wie vorher."

    Was vielleicht einfach so weitergelaufen wäre, sind die lange eingespielten Routinen, das Eingeschlossensein in die eigene Gedankenwelt und das Ausgeschlossensein von der Welt: Da ist Bürgermeister Martin Wacholder, der seiner Frau nachtrauert und seinen längst erwachsenen Sohn behandelt wie ein etwas zurückgebliebenes Kind; da ist die Familie Salamander mit den Zwillingen Jula und Jules, die kaum einen Zentimeter voneinander weichen; da ist Mona Winz, die irgendwann einmal einen Aufbruch gewagt hat und dann doch zurückgekehrt ist, um für immer zu bleiben.

    Oder die alte Greta Mallnicht, die mit ihrem toten Mann weiter eine Ehe führt als gäbe es zwischen Tod und Leben nicht einmal eine unsichtbare Grenze. Unsterblich erscheinen diese Figuren, unsterblich wollen sie sein. Es soll sich, ginge es nach ihnen, nichts ändern. Dabei wohnen in ihren Fachwerkhäuschen auch die Traurigkeit und der Mangel und das Begehren, nur merken sie das erst, als die Bagger anrollen und ihnen an die Substanz wollen – und die Fassaden einreißen, hinter denen sie sich verstecken konnten.

    "Für mich ist es vorstellbar, dass so eine Situation, die ja so absurd und groß für das ganze Leben ist, die ja das ganze Leben übern Haufen wirft, das man völlig neu ordnen muss, dass man da nicht sagt, klar, glaub ich, und jetzt handele ich pragmatisch und gradlinig und so wie's sinnvoll ist, sondern dass man da immer wieder zwischen Wahnsinn und Verzweiflung schwankt auch zwischendurch, das war für mich sehr gut vorstellbar. "

    Tatsächlich verändert sich nach der Ankündigung des Energieprojekts und der drohenden Umsiedelung einiges: Die seelischen Abhängigkeiten werden sicht- und schmerzhaft fühlbar; die Eltern und ihre erwachsenen Kinder bemerken, wie die Nabelschnur zwischen ihnen spannt, weil der Bewegungsraum für sie größer wird und jeder seines Weges ziehen muss.

    Aus der Ohnmacht entsteht so auch eine gewisse Kraft: Ein paar Bewohner leisten Widerstand, ein paar brechen auf, ein paar zusammen. Sie kämpfen so oder so gegen einen Verlust, aber auch für eine Geschichte, die noch nicht zu Ende ist. Dabei kommt es zu grotesken Situationen, zu Wut, zu Trauer.

    "Mich hat interessiert die Frage, was passiert mit diesen Bindungen, die erst mal teilweise auch schädlich sein können, wie geht man damit um, wenn man nichts anderes kennt, oder wenn man sich nichts anderes vorstellen kann, und wenn man nicht weiß, wie man sich aus diesen Beziehungen befreien kann und vielleicht auch Angst davor hat, was noch Schlimmeres auf einen lauern könnte, wenn man sich daraus befreit hat. Und selbst eine schlimme Beziehung kann ja eine sein, die einen vor der Einsamkeit bewahrt. Und da diese Figuren in diesem Ort nur diesen Ort kennen, gibt es für sie ja keine Ersatzwelt für das, was sie kennen."

    Es gibt im Prinzip keine Außenwelt. Die dringt erst mit den Investoren in den Ort, den Abriss-Arbeitern, die nach ihrer Schutzkleidung "Gelbhelme" genannt werden, später dann auch mit den Schaulustigen. Diese Gemeinde ist eine geschlossene Schale, die geknackt wird – eine Nuss, in der sich dann ein paar madige Kerne finden lassen.

    Plötzlich bekommt dieser Ort aber auch etwas Magisches. Gerade die ganz jungen und schon älteren Kinder haben Zugang zu Sphären, die der Fantasie entspringen oder dem höheren Sinn für eine andere, unzerstörbare Wirklichkeit – ein der Romantik entlaufener blauer Fuchs streift darin um das Dorf herum und beißt die Arbeiter; ein stummer Geisterjunge namens Milo wird zum Gefährten, gerade als alle Beziehungen sich aufzulösen drohen. Dieses magische Moment ist natürlich etwas höchst Literarisches: In der Literatur nämlich kann der schrecklichen Realität der Glaube an eine andere Wirklichkeit entgegengesetzt werden.

    "Ja, in der Literatur ist ja erst mal alles möglich, rein theoretisch, und alles, was man sich irgendwo vorstellen kann. Und das ist für mich ein großer Reiz, wie man – es ist ja ein ganz reales Problem für Menschen in diesen Orten, oder auch eine reale Chance, wenn dieser Ort verschwindet – in Literatur sich damit auseinandersetzen kann. Und auch Teile eines solchen verschwundenen Ortes in Literatur bewahren kann. Das war für mich schon auch interessant. Und auch ein Motor beim Schreiben. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, ist es natürlich auch ein bisschen absurd, dass ich diesen Ort im Roman erschaffe, und gleichzeitig zerstöre ich ihn auch wieder. Ich stelle mir das dann lieber so rum vor, dass man auch wieder von vorne anfangen könnte zu lesen und der Ort würde weiter existieren."

    Man könnte das als Parabel lesen, wenn man dem Text viel zumuten möchte, sogar als eine Erzählung über den Untergang eines politischen Systems. Die Machart von "Bevor alles verschwindet" lässt viele Deutungen zu, weil die Figuren mehr Charakterpuppen als schmetterlingshafte Individuen sind, immer auch etwas Unzugängliches und Geheimnisvolles bewahren. Der märchenhafte Ton erzeugt dabei ein unwirkliches Flirren, das wiederum im Leser flatterhafte Gedanken und Ideen auslösen kann.

    "Vielleicht ist das märchenhaft auch in der Konsequenz und Unerbittlichkeit, in der das Programm durchgezogen wird. Was man im Märchen ja auch hat: Die Welt ist, wie sie ist. Und man hat sich dem zu fügen. Und es ist ja nicht, was Märchen heute haben, wenn sie von Disney verfilmt werden, das Süßliche, das interessiert mich gar nicht. Sondern es ist eher das fast Brutale, was die haben in ihrer Unerbittlichkeit. Und dann ist da auch die Möglichkeit, in Literatur auch Fantastisches zu erzählen, was aber nicht als fantastisch nur dastehen soll, sondern was ja auch die Funktion hat zu erzählen, wie es um die Bewohner bestellt ist in diesem Ort, wie sich ihre Wirklichkeit verschiebt dadurch, dass so etwas Absurdes mit ihnen gemacht wird, und dass sie dadurch irgendwie herausfallen aus ihrer Welt und ihre Welt dadurch ins Wanken gerät."

    Das zeigt sich auch in der kindlich unschuldigen Sprache Annika Scheffels, die angesichts des Ungeheuerlichen vielleicht ein wenig zu brav geraten ist, aber die verkapselte Welt, die erst langsam aufbricht, schön umschließt. Vielleicht hätte eine größere Konzentration dem mit 400 Seiten etwas voluminös geratenen Roman gut getan – denn auch ein Weltuntergang verträgt keine Längen. Aber doch hat Scheffel nach ihrem gelungenen Debüt mit ihrem zweiten Buch bewiesen, dass sie als Erzählerin die Linie zwischen Realem und Fantastischem spielerisch überschreiten kann.

    Annika Scheffel: "Bevor alles verschwindet".
    Roman. Suhrkamp Verlag. Berlin 2013. 412 Seiten. 19,95 Euro.