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Wende in der Kurdenpolitik?

Im Bürgermeisteramt von Sur wird der Besucher neuerdings auf Kurdisch "Willkommen" geheißen. Die Info-Broschüren gibt es in diesem Stadtteil von Diyarbakir ebenfalls seit kurzem zweisprachig. Und auch die Bürgerberatung findet auf Wunsch auf kurdisch statt - schließlich haben 70 Prozent der Einwohner von Diyarbakir in einer Umfrage kurdisch als Muttersprache angegeben. Der türkische Staat stelle sich endlich der Realität, findet der stellvertretende Bürgermeister von Sur, Naksi Sayar:

Von Gunnar Köhne | 28.10.2009
    "Ich glaube, dass bald auch die letzten Widerstände und Gesetze gegen einen freien Gebrauch unserer Sprache fallen werden. Das können sie auch daran sehen, dass selbst der staatliche Gouverneur für diese Region inzwischen kurdischsprachige Telefonistinnen in seiner Behörde hat. Damit kommt er den Bedürfnissen des Volkes entgegen."
    Doch dies alles ist eigentlich noch nicht die große "kurdische Öffnung", die Ministerpräsident Erdogan seit Monaten verspricht. Die scheint erst einmal auf Eis gelegt, weil sich Erdogan von der PKK vorgeführt sieht. Als nach etlichen Geheimverhandlungen vergangene Woche 35 PKK-Kämpfer aus ihren Lagern im Nord-Irak in die Türkei zurückkehrten, sollte dies das Ende von 25 Jahren Terror und Gewalt einleiten. Doch selbst die liberale Öffentlichkeit in der Türkei war entsetzt darüber, wie die in Kampfanzügen gekleideten PKKler in den Straßen von Diyarbakir und anderswo wie Helden gefeiert wurden. Die Angehörigen gefallener türkischer Soldaten warfen daraufhin voller Empörung ihre Märtyrerauszeichnungen aus dem Fenster, Ultranationalisten drohten mit Gewalt und die Opposition sieht die Regierungspartei AKP seitdem als Büttel von Terroristen. Die geplante Rückkehr von weiteren 15 PKKlern aus dem europäischen Exil ließ die Regierung daraufhin vorerst stoppen. Die Enttäuschung Erdogans über die kurdische Seite ist groß, doch ein zurück in alte Zeiten hat er immer wieder ausgeschlossen. Längst hat er sein eigenes politisches Schicksal mit der Lösung der Kurdenfrage verbunden. Der kurdische Verleger Ümit Firat findet, dass der bislang eingeschlagene Weg richtig war:
    "Erstmals wird über ein großes politisches und gesellschaftliches Problem in der Türkei eine offene Debatte geführt an der sich viele gesellschaftliche Gruppen beteiligen. Früher sagte der Staat: Wir nehmen uns der Sache an und erledigen das. Jetzt initiiert die Regierung einen Dialog mit dem Ziel eine gemeinsame Lösung zu finden. Das ist neu."
    Zwar ist die nationalistische Empörung über den angeblichen Triumph der PKK groß, doch nur die rechtsextreme Graue-Wölfe-Partei MHP stellt sich gegen jede Art von Zugeständnis an die Kurden. Die kemalistische Republikanische Volkspartei CHP dagegen zeigt sich zumindest gesprächsbereit - nur mit ihr gemeinsam brächte die Regierung jene Zweidrittelmehrheit im Parlament zusammen, mit der die kulturellen Rechte der Kurden auch in der Verfassung festgeschrieben werden könnten. Der CHP-Vorsitzende Deniz Baykal reist in der kommenden Woche erstmals in den Irak, und trifft sich dort auch mit den irakischen Kurdenführern. Selbst aus dem türkischen Generalstab kommen keine vernehmbaren Einwände gegen die neue Kurdenpolitik - die innenpolitische Macht der Generäle ist durch zahllose Skandale und Putschgerüchte ohnehin erschüttert. Die Zeit ist also günstig für einen großen Wurf in der Kurdenfrage, findet Ümit Firat, doch am Ende werde der Frieden nicht gelingen ohne direkte Gespräche mit der PKK:
    "Man darf einfach nicht vergessen, dass die PKK aus der Zeit stammt, als all dass, was jetzt nach und nach erlaubt wird, streng verboten war und zum Teil mit Gefängnis bestraft wurde. Also ist die PKK Teil des kurdischen Problems. Wer alle Kämpfer von den Bergen herunterholen und entwaffnen will, der muss letzten Endes mit der PKK reden."
    In der aufgeregten Debatte über die Rückkehr der PKK-Kämpfer ist fast völlig unbeachtet geblieben, was in dem Brief stand, den die selbst ernannten Friedensbotschafter bei sich trugen. Darin wird ein Ende der Militäroperationen gegen die PKK gefordert und eine verfassungsmäßige Anerkennung der kurdischen Volksgruppe. Kein Wort von früheren Forderungen nach einer kurdischen Unabhängigkeit oder auch nur nach einer Autonomie. Beide Seiten, so scheint es, waren sich noch nie nahe wie derzeit.