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Wendezeit
Wie eine Gruppe Leipziger den Mauerfall einleitete

Eine Gruppe von Menschen, denen Deutschland viel zu verdanken hat: Der Journalist Peter Wensierski präsentiert einige der Protagonisten, die 1988 in Leipzig die spätere Wende einleiteten. "Die unheimliche Leichtigkeit der Revolution" erzählt von jugendlichem Widerstand, Freiheitsliebe und mutigem Engagement.

Von Henry Bernhard | 29.05.2017
    Eine Bronzeplatte mit Fußabdrücken erinnert an die Montagsdemo vom 09. Oktober 1989 in Leipzig auf dem Nikolaikirchhof.
    Eine Bronzeplatte mit Fußabdrücken erinnert an die Montagsdemo vom 09. Oktober 1989 in Leipzig auf dem Nikolaikirchhof. (Deutschlandradio / Nicolas Hansen)
    Ein heruntergekommenes sanierungs- bis abbruchreifes Mietshaus und ein Altersheim mit 15 Betten in einem Raum, in dem die Alten und die Pfleger um ein letztes bisschen Würde vor dem Sterben kämpfen, bilden in Peter Wensierskis Buch im Frühjahr 1988 die Ausgangsszenerie für das, was im Oktober 1989 als Wunder von Leipzig endete: Als 100.000 Menschen für ein freies Land demonstrierten und damit das zuvor unerschütterlich scheinende Gewaltregime der SED zum Einsturz brachten.
    Im kirchlichen Albert-Schweitzer-Haus in Leipzig arbeiteten in den 80er Jahren junge Menschen als Pfleger, die im staatlichen Getriebe keinen Platz finden konnten oder wollten. In der Mariannenstraße 46, im Leipziger Bahnhofsviertel, trafen sich junge Leute, die weder in einer Neubauwohnung noch in einem Mehrbettzimmer in einem Studentenheim leben wollten, sondern selbstbestimmt - wenn auch ohne Bad und mit einer Toilette im Hof.
    Anpassung war keine Option
    Pfleger also, Theologiestudenten, Musiker, Medizinstudenten, ein Fotograf - Lebenskünstler, Aussteiger und Halbaussteiger - allesamt Menschen, die einen Platz im Leben finden wollten, einen Platz in dem Land, in das sie hineingeboren wurden und in dem sie sich mehr als Insassen denn als Bürger fühlten.
    Der Autor, der SPIEGEL-Journalist Peter Wensierski, kannte die DDR schon aus Korrespondentenzeiten in den 80er Jahren. Schon damals war er verblüfft, dass kaum 20-Jährige in Leipziger Hinterhöfen Klügeres über die DDR-Wirklichkeit artikulierten als mancher im Westen hofierte DDR-Schriftsteller.
    "Und ich finde es faszinierend, dass das 17-25-Jährige waren und nicht die Älteren, sondern, dass die den Mut hatten, da voran zu gehen. Und diese Jugendlichen hatten natürlich auch einen mächtigen Gegner, den Geheimdienst, die Stasi, die Lehrer, die Universitäten, viele wurden ja auch gar nicht zum Abitur zugelassen, schon wegen Kleinigkeiten: Weil sie einen Sticker "Schwerter zu Pflugscharen" in ihrer Jugend an ihrer Jacke hatten, auf der Straße angehalten wurden und die Volkspolizisten haben das mit der Schere abgeschnitten.
    Ihre Lebenswege wurden verbaut, sie konnten nicht das studieren, was sie wollten; sie konnten nicht die Bücher lesen, die sie wollten; sie konnten nicht die Filme sehen, die sie wollten; sie konnten nicht reisen, wohin sie wollten. Kurzum: Sie konnten nicht ein selbstbestimmtes Leben leben. Aber das wollten sie! Und das hat sie auch abgeschreckt, in die Fußstapfen der älteren Generation zu treten, nämlich die hießen: Anpassung. Und das wollten sie nicht mehr. Und das war der Grund, warum sie dann Sachen gemacht haben, wo sie nicht genau wussten, wie die ausgehen. Aber sie haben was riskiert und sie sind in die Aktivität gegangen."
    Die Aktivitäten der Leipziger Unangepassten beschreibt Wensierski in epischer Breite und mit größter Genauigkeit. Wer besuchte wann wen, um welches Flugblatt zu entwerfen; wer trug dessen Entwurf an den Ort, wo es gedruckt werden sollte; wer besorgte auf welchem Wege eine primitive Ormig-Kopiermaschine; wo wurde das Papier gekauft; welcher Pfarrer schloss seine Räume auf ohne wissen zu wollen, was darin geschieht; wie lange wurde in welcher Nacht gedruckt; wer war dabei; wie und von wem wurden die Flugblätter am Ende verteilt? Wensierski ist kein Detail zu klein - und das macht die große Stärke seines Buches aus. Wo Historiker nur das Flugblatt zitieren, zeigt Wensierski das Mikrogetriebe, die Feinheiten, die Differenzen, den Aufwand, vor allem aber den Mut der Menschen, die sich selbst ermächtigen, um die quälende Lähmung im Land zu überwinden.
    Die Eroberung des öffentlichen Raums
    "Weil sie in der Kirche nicht mehr zu Wort kamen, entschieden sich die Gruppenmitglieder, ihre Stellungnahmen und Informationen einfach vor der Kirche zu verlesen. Rainer brachte jedes Mal Kerzen mit. Er verteilte sie an die Umstehenden, als Zeichen der Gemeinsamkeit. Er machte das hinter dem Rücken der Verantwortlichen der Nikolaikirche und gegen den Willen von Pfarrer Führer. Obwohl Hunderte von Menschen auf dem Nikolaikirchplatz standen, ihnen zuhörten und über die Lage im Land diskutierten, hielten sich Polizei und Stasi weitgehend zurück. Die Teilnehmerzahl wuchs von 200 auf über 500. Diese Wochen waren ein Einschnitt. Ab jetzt ging es nicht mehr darum, was IN der Kirche, sondern was VOR der Kirche passierte. Mit diesen Meetings wurde der Nikolaikirchplatz zum ersten von ihnen eroberten öffentlichen Raum mitten in Leipzig."
    Die Eroberung des öffentlichen Raums durch ein paar Dutzend junger Menschen ist die Kerngeschichte dieses Buches, die schrittweise Ablösung vom Schutzraum Kirche, die Selbstermächtigung und der Austritt aus der staatlich verordneten Unmündigkeit. Das Buch zeigt, wie junge Leute mit scheinbar simplen Aktionen wie einem Straßenmusikfestival oder einer "Umweltwallfahrt" entlang eines stinkenden, toten Flusses eine Staatsmacht zum Schwitzen bringen konnten, die den Anspruch erhob, den öffentlichen Raum total zu kontrollieren.
    Durch Dutzende Interviews und die Auswertung unzähliger Papiere, Tonbandaufnahmen und Fotografien vermittelt der Autor fast den Eindruck, dabei gewesen zu sein, wenn Unglaubliches passierte, aber auch, wenn gefrühstückt wurde:
    "Sie tranken Tee und aßen von Anitas selbstgemachtem Kräuterquark, Marmelade, Honig und Eier."
    Speisefolgen, ganze Dialoge, Gefühle in bestimmten Situationen, auch, wer wann wie viele Zigaretten rauchte, bevor er irgendwo klingelte - alles gibt Wensierski vor zu wissen, um die Erzählung flüssig, farbig und lebendig zu machen, was ihm zweifelsohne glänzend gelingt. Mit Dialogen, Details und präzisen literarischen Situationsbeschreibungen erweckt er so die aufmüpfige Leipziger Bohème-Szene der 80er Jahre zum neuen Leben. Doch verschenkt er durch diese Literarisierung gleichzeitig einen - wenn auch geringen - Teil der hohen Glaubwürdigkeit, die er sich zuvor durch die präzise Recherche erarbeitet hat.
    Kleine Schwäche: Wechselnde Erzählperspektiven
    Der teilnehmende Beobachter schwingt sich so plötzlich zu einem allwissenden Erzähler auf, der schon vorher weiß, wer der Stasi-Spitzel in der Truppe ist, seine Quellen aber nicht offenlegt. Diese wechselnden Erzählperspektiven lassen den Leser mitunter stutzen, können aber das Gesamtwerk nicht beschädigen.
    Das Buch liest sich sehr unterhaltsam, mitunter fast wie ein Abenteuerroman; es ist witzig, wenn die Protagonisten die Stasi in fast slapstickartigen Nummern vorführen; es lässt manch später hochdekorierten "Helden" der 89er Revolution recht armselig aussehen - gemessen an denen, die damals ihren Kopf hinhielten. Als Zugabe zeigt Wensierski noch, was aus seinen Helden geworden ist: Ärzte, Pfarrer, Ingenieure, Sozialarbeiter, Künstler, Musiker. Sehr viele sind noch engagiert in der "kleinen" Politik – oder auch gegen LEGIDA in Leipzig. Keinem von ihnen ist es damals, als die Stasi-Verhaftung immer drohte und das Demonstrieren Mut kostete, in den Sinn gekommen, sich als "Mutbürger" zu bezeichnen. Ohne es explizit sagen zu müssen, präsentiert Peter Wensierski hier aber fast 30 Jahre nach dem Geschehen eine Gruppe von Menschen, denen dieses Land sehr, sehr viel zu verdanken hat.
    Peter Wensierski: "Die unheimliche Leichtigkeit der Revolution. Wie eine Gruppe junger Leipziger die Rebellion in der DDR wagte"
    Deutsche Verlags-Anstalt, 464 Seiten, 19,99 Euro.