Mittwoch, 17. April 2024

Archiv

Wendy Lowers
Hitlers Helferinnen - Deutsche Frauen im Holocaust

Von Mirko Smiljanic | 18.08.2014
    Dieses Buch ist keine der üblichen historischen Analysen, die sich an den Thesen von Vorgängern reiben, neue Interpretationen liefern, sonst aber den Diskurs geräuschlos weiterführen. "Hitlers Helferinnen" von Wendy Lower ist mehr. Es ist ein Buch, das zu lesen bis weit über die Schmerzgrenze geht: Schonungslos beschreibt die Historikerin, zu welchen Gräueltaten Frauen fähig waren. Johanna Altvater etwa, eine 22-jährige Sekretärin aus Minden, arbeitete ab 1941 in Wolodymyr-Wolinsky, einer kleinen polnisch-ukrainischen Grenzstadt. 1942/43 wurden im dortigen Getto Juden massenhaft getötet. Johanna Altvater war zwar nicht unmittelbar eingebunden, wollte aber trotzdem ihren Teil zur "Endlösung" beitragen.
    "Am 16. September 1942 betrat Altvater das Getto und näherte sich zwei jüdischen Kindern, einem Sechsjährigen und einem Kleinkind, die in der Nähe der Gettoummauerung wohnten. Sie winkte ihnen und gestikulierte, als wollte sie ihnen Süßigkeiten geben. Der Knirps kam zu ihr herüber. Sie nahm das Kind auf die Arme und hielt es so fest, dass es schrie und sich wand. Daraufhin packte Altvater das Kind bei den Beinen, hielt es kopfüber und schlug seinen Kopf mit voller Wucht gegen die Mauer, als würde es einen Teppich ausklopfen. Schließlich warf sie das leblose Kind dem Vater vor die Füße."
    Als "Ansiedlungsbetreuerinnen" in den Ostgebieten
    Wendy Lower hat aufwendig recherchiert. Fast ein Drittel des Buches ist für Anmerkungen und Register reserviert. Ihr Ergebnis in diesem Fall: Johanna Altvaters "Spezialität" war das Töten von Kindern. Manchmal lockte sie die Kleinen mit Süßigkeiten zu sich. Wenn sie kamen und den Mund öffneten, schoss sie ihnen mit einer silbernen Pistole in den Mund. Ein verstörender Sadismus, der im krassen Widerspruch steht zu der weit verbreiteten Vorstellung, Frauen hätten im NS-Männerstaat keine aktive Rolle gespielt - so wie das 1936 von Adolf Hitler vorgegebene Frauenbild sie an Heim und Herd verbannte.
    "Man sagte oft: 'Sie wollen die Frau aus allen Berufen drücken'. Ich will ihr nur die Möglichkeiten weitestem Ausmaß verschaffen, heiraten zu können und eine eigene Familie mitgründen helfen zu können und Kinder bekommen zu können, weil sie dann - und das ist nun meine Überzeugung - unserem Volk natürlich am Allermeisten nützt."
    Spätestens mit Beginn des Überfalls auf Polen im September 1939 hatte diese Ideologie keinen Bestand mehr. Bis 1943 ließen sich im neuen Siedlungsgebiet "Gau Wartheland" mehr als 600.000 Deutsche nieder - darunter auch Sekretärinnen, Lehrerinnen, Krankenschwestern, Hebammen und Kindergärtnerinnen. "Der Osten braucht Dich", hieß die Parole, mit der Hunderttausende junger Frauen als "Ansiedlungsbetreuerinnen" in die Ostgebiete gelockt wurden. Junge, ehrgeizige Frauen, die eine Chance sahen, aus den engen Verhältnissen ihrer Heimat auszubrechen - und aus der dumpfen NS-Frauen-Ideologie.
    "Schon bald erkannten die Krankenschwestern, Lehrerinnen und Sekretärinnen, dass es sich bei diesem Krieg, wie Hitler sich das gewünscht hatte, um einen Vernichtungsfeldzug handelt. (...) Die Annäherung an den Völkermord war für die meisten Frauen irritierend und erschütternd, denn in ihrer Ausbildung hatten sie nicht gelernt, wie man Gewalttaten begeht oder darauf reagiert."
    "Keine der in diesem Buch vorkommenden Frauen musste töten"
    Diese Frauen entwickelten unterschiedliche Strategien. Wendy Lower unterteilt sie entsprechend in drei Kategorien: Die "Augenzeuginnen", "Komplizinnen" und "Täterinnen", denen sie jeweils ein eigenes Kapitel widmet. Weitere Kapitel beschäftigen sich mit der Frage, warum die Frauen gemordet haben und was mit ihnen nach Kriegsende geschah. Die meisten Frauen, deren Lebenswege Lower minutiös verfolgt, waren Mitläuferinnen und "Schreibtischtäterinnen". Sie wussten von Gräueltaten, hörten Gewehrsalven vor der Stadt - und dachten, Verwaltungsarbeit sei unblutig. Wie falsch sie damit lagen, erklärte eine Sekretärin nach Kriegsende so.
    "Im Vorzimmer lag ein großer Haufen Akten. Wenn nun zum Beispiel 100 Akten dalagen und nur 50 erschossen werden sollten, dann lag es an den Damen, wie sie nach Gutdünken die Akten herauszogen."
    Wie schon vielfach thematisiert, entwickelte sich während des Krieges ein Klima enthemmter Gewalt, alle zivilisatorischen Tabus fielen. Hieran hatten auch Frauen ihren Anteil. Verbunden mit Sexualität - natürlich nur mit SS-Offizieren - und der Vorstellung, als Herrenmensch mit Untermenschen zu tun zu haben, entstand ein Nährboden für unglaubliche Gräueltaten. Die Historikerin Lower schildert etwa, dass ein Offizier und seine Frau auf einer privaten winterlichen Jagd Juden erschossen, weil kein Wild erschien. Erna Petri, selbst Mutter, erschoss auf ihrem Privatgrundstück jüdische Kinder, um sich "gegenüber den Männern zu profilieren", wie selbst bei einer Vernehmung angab.
    "Noch einmal: Keine der in diesem Buch vorkommenden Frauen musste töten. Hätten sie sich geweigert, Juden umzubringen, so hätte das keine Bestrafung zur Folge gehabt. Wenn man sich jedoch entschloss, den Opfern zu helfen, kannte das Regime keine Gnade."
    Ein ebenso überfälliges wie erschütterndes Buch
    Johanna Altvater, deren "Spezialität" das Töten kleiner Kindern war, kehrte zurück nach Minden und arbeitete in der Stadtverwaltung als Jugendsozialarbeiterin. Zweimal wurde sie wegen ihrer Taten angeklagt, zweimal aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Sie starb 2003 im Alter von 84 Jahren.
    "Hitlers Helferinnen - Deutsche Frauen im Holocaust" von Wendy Lower ist ein ebenso überfälliges wie erschütterndes Buch. Klar strukturiert verfolgt Lower die Lebenswege deutscher Frauen in Polen, der Ukraine und Weißrussland, benennt ihre Taten, versucht - was schwierig ist - die Motive zu ergründen und zu erklären, warum nach Kriegsende nur wenige Frauen angeklagt wurden. Wer den Holocaust verstehen will, kommt an diesem Buch nicht vorbei!
    Wendy Lower: Hitlers Helferinnen. Deutsche Frauen im Holocaust. 336 Seiten, Hanser Verlag, 24,90 Euro. Übersetzung: Andreas Wirthensohn.