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Wenig Hoffnung in der Wüste

Im März vorigen Jahres hatten radikale Islamisten Malis Norden erobert. Im Januar dieses Jahres vertrieb die französische Armee die Rebellen. Die Bevölkerung leidet jedoch bis heute unter den Folgen der Belagerung.

Von Katrin Gänsler | 13.08.2013
    Zwei Jungen vor einem zerstörten Haus in Timbuktu
    Zwei Jungen vor einem zerstörten Haus in Timbuktu (picture alliance / dpa / Philippe De Poulpiquet)
    Billy Saloum sitzt in seiner kleinen Schneiderwerkstatt in Gao. Mit geübten Griffen legt er weißes Garn in die Spule und holt ein großes Stück Stoff hervor. Daraus muss er bis morgen Abend ein Kleid schneidern. Eine aufwendige Arbeit ist das nicht. Die Kundin hat keine extravagante Anfertigung verlangt, die viel Geld bringt. Schneider Billy, der in Gao auch als Radiomoderator bekannt ist, freut sich trotzdem. Endlich gibt es wieder Arbeit in seiner malischen Heimatstadt. Das war im vergangenen Jahr ganz anders. Gao war mehr als zehn Monate besetzt. Zuerst von der Befreiungsbewegung von Azawad – der MNLA – und danach von der islamistischen Gruppierung "Bewegung für Einheit und Dschihad in Westafrika" – kurz MUJAO. Billy Saloum erinnert sich:

    "Während der Besetzung? Nein, da ist niemand gekommen. Das waren nur die Kämpfer der MUJAO. Für die musste ich Kleinigkeiten reparieren. Ansonsten gab es nichts. Alle waren arbeitslos und sind zu Hause geblieben. So war es."

    Dabei ist Gao das Handelszentrum des Nordens. Das lebendige Städtchen ist die wichtigste Verbindung nach Kidal. Über den Fluss Niger, an dem Gao liegt, lassen sich Waren gut verschiffen. Langsam nimmt das wieder zu. Denn sechs Monate nach der Befreiung durch die französische Armee kehrt ein bisschen Alltag zurück. Doch die Spuren der Rebellen und Dschihadisten sind noch überall sichtbar. Am Polizeigebäude erinnern die unzähligen Einschusslöcher daran. Das Büro der Gendarmerie steht leer – und auch die katholische Schule.

    Wächter Mamai schließt das schwere Eisentor auf. Wo noch vor eineinhalb Jahren mehrere Hundert Kinder die Schulbank drückten und über den Pausenhof tobten, wuchern nun Büsche. In den Zimmern liegen dicke Sandschichten auf den Fußböden. Ein paar Ziegen suchen nach Futter. Wächter Mamai führt durch die leeren Klassenräume:

    "Hier haben sie alle Computer rausgerissen und mitgenommen", … "

    … sagt der alte Mann und dreht sich einmal um sich selbst. In einem anderen Raum, wo einst Sechstklässler unterrichtet wurden, stehen noch die die Matheaufgaben vom 16. März 2012 an der Tafel. Danach zeigt er Aula und Bibliothek. Knapp eine Stunde dauert die Führung. Der Wächter wirkt fast dankbar, dass sich jemand für seine Schule interessiert und ihm zuhört. Was viele dem alten Mann allerdings bis heute kaum glauben wollen: Das Chaos hier haben keinesfalls die Kämpfer der MUJAO bei ihrem "sogenannten heiligen Krieg" angerichtet, sondern die Tuareg-Rebellen der MNLA. Wächter Mamai:

    ""Ich weiß es doch nicht. Ich weiß nicht, warum es ausgerechnet sie waren. Die MNLA wollte einfach nur Schaden anrichten. Jemand, der Unabhängigkeit will, der sucht doch nach Argumenten. Aber sie zerstören einfach nur."

    Es ist eine der großen Fragen in Gao: Wer steckt hinter welcher Zerstörung? Die Opfer fragen sich zudem häufig: Werden die Täter je gefunden und zur Rechenschaft gezogen? Bei den MNLA-Rebellen dürfte das in der Stadt schwierig werden. Sie mussten selbst aus Gao fliehen. Doch Mitläufer der MUJAO leben angeblich hier, Tür an Tür mit ihren Opfern. Das wird oft hinter vorgehaltener Hand erzählt. Tatsächlich überprüfen lässt es sich kaum.

    Agaly Nidinkaytane weiß nicht, wo seine Täter sind. Aber bei jedem Schritt wird er an sie erinnert. Der junge Mann hat während der Besatzung seinen rechten Unterschenkel verloren.

    "Wir hatten eine große Hochzeit. Sie fand an Tabaski, unserem Opferfest, statt. Am dritten Tag der Feier wollten wir Männer zu den Frauen gehen. Dann sind die Dschihadisten gekommen. Sie haben gesagt: Das ist haram – verboten."

    Agaly Nidinkaytane sitzt auf einer Holzbank unter einem großen Baum. Wenn er über jenen Tag spricht, verzieht er kein einziges Mal das Gesicht. Es klingt so, als ob er seine Geschichte monoton abspulen kann. Auch als er versuchte, sich mit letzter Kraft in ein Haus zu retten. Agaly Nidinkaytane berichtet weiter:

    "Die Dschihadisten sind mir gefolgt. Dann haben sie auf mein Bein geschossen. Und sie haben getroffen. Ich bin gefallen, habe geschrien und nach meinem Freund Soulai gerufen. Hilf mir, hilf mir, ich bin verwundet."

    Was folgte, waren die Operation und einige Monate später die Prothese – finanziert durch eine Hilfsorganisation. Vom zusammengebrochenen malischen Staat hat er bis heute keinerlei Unterstützung erfahren.

    Wenige Hundert Meter von Agaly Nidinkaytanes kleinem Haus entfernt steigt Oumar Tiémogo Maïga dit Samory die steilen Treppen des Grabes von Askia hoch. Der Lehmbau, der wie eine kleine Pyramide aussieht, wurde 1495 gebaut. Errichten lassen hat ihn damals Askia Mohamed, Herrscher der Songhai, der größten ethnischen Gruppe in der Region. Das Monument ist das Wahrzeichen von Gao und gehört seit neun Jahren zum Weltkulturerbe der UNESCO. Doch als die MUAJO in Gao einzog, hatte Oumar Tiémogo Maïga dit Samory große Angst:

    "Sie waren einmal hier, um das Grabmal zu besuchen. Ich wurde so wütend und habe ihnen gesagt: Ihr habt doch die ganzen heiligen Orte in Timbuktu zerstört."

    Doch zu seiner großen Verwunderung rührten die Dschihadisten das Grabmal von Askia nicht an, erzählt Oumar Tiémogo Maïga dit Samory:

    "Die Einwohner von Timbuktu und Gao sind sehr verschieden, sagten sie mir. Dann erklärten sie: Die Menschen von Timbuktu verehren ihre Monumente. Sie haben Gott vergessen. Stattdessen beten sie diese Gebäude an. Nur darin suchen sie ihren Segen. Die Menschen von Gao machen das nicht."

    Agaly Nidinkaytane tröstet das wenig. Mittlerweile ist die Sonne untergegangen. Er sitzt noch immer auf seiner Bank und hofft darauf, dass sein Bruder etwas zu essen vorbei bringt. Arbeiten und selbst Geld verdienen kann der Schlachter seit seiner Amputation nicht mehr. Doch noch mehr als das quält ihn die Frage, ob es wieder passieren könnte. Agaly Nidinkaytane:

    "Es ist nicht einfach, hier wieder Vertrauen zu finden. Immer wieder haben Menschen zu Waffen gegriffen. Es ist nicht die erste Besetzung gewesen. Anschließend wird verhandelt. Für ein paar Jahre kehrt Ruhe ein. Und dann greift wieder jemand zu den Waffen. Leicht ist all das nicht."