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Weniger herkunftsbedingte Unterschiede bei Schülern im Osten

In einigen westdeutschen Bundesländern entscheide die Herkunft und das Elternhaus über die Leistungen in der Schule, sagt Jutta Allmendiger. Die Präsidentin des Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung fordert daher, das dreigliedrige Schulsystem wieder auf den Prüfstand zu stellen.

Jutta Almendinger im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 12.10.2013
    Dirk-Oliver Heckmann: Wenn in Deutschland wieder einmal eine Bildungsstudie vorgestellt wird, dann ist den Autoren höchste Aufmerksamkeit gewiss, besonders seit dem Schock der PISA-Studie aus dem Jahr 2001, die offengelegt hat, Deutschland ist keineswegs an der Spitze, was die Schulbildung angeht, mehr noch, in kaum einem anderen Land hängt der Bildungserfolg so sehr von der sozialen Herkunft ab wie in Deutschland. Gestern veröffentlichte die Kultusministerkonferenz eine Studie, die die Fähigkeiten der Neuntklässler in Mathematik, Biologie, Chemie und Physik unter die Lupe nahm. Ergebnis, grob zusammengefasst: Die ostdeutschen Bundesländer haben zum Teil weit die Nase vorn, der Abstand zu den Schülerinnen und Schülern etwa aus Hamburg, Bremen und Nordrhein-Westfalen entspricht einem Zeitraum von bis zu zwei Schuljahren! Am Telefon ist Professorin Jutta Allmendinger, Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung, WZB. Schönen guten Morgen!

    Jutta Allmendinger: Guten Morgen, Herr Heckmann!

    Heckmann: Frau Allmendinger, waren Sie überrascht von den Ergebnissen?

    Allmendinger: Ich war überrascht über mindestens drei Dinge: Ich war überrascht, dass manche Länder doch erhebliche Fortschritte erzielen konnten, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, aber auch Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, Niedersachsen. Das zeigt doch, dass solche Bildungserhebungen etwas nützen und Folgen haben. Ich war zweitens überrascht darüber, dass Masse doch auch Klasse heißen kann. Und damit meine ich, dass Bundesländer, die sehr viele Personen auf den Gymnasien haben, zu den Bundesländern gehören, die die besten durchschnittlichen Kompetenzen zeigen.

    Das heißt also, wir können die Gymnasien öffnen, ohne dass wir etwas verlieren. Und zum Letzten war ich überrascht, sehr positiv überrascht, dass die Mädchen wirklich noch mal zugelegt haben in den Naturwissenschaften und viel besser mittlerweile sind als die Jungs.

    Heckmann: Jetzt sagen ja einige Bildungsforscher, diese Studie sei eigentlich wenig aussagekräftig. Statt Bundesländer zu vergleichen, müsste man eigentlich Regionen miteinander vergleichen, weil der Migrantenanteil und ländliche Strukturen gar nicht berücksichtigt würden bei der vorliegenden Studie.

    Allmendinger: Nun, das ist ja nicht richtig, der Migrantenanteil wird selbstverständlich berücksichtigt. Ich finde, dass man aus solchen Studien sehr viel lernen kann. Man kann sehen, dass die Bundesländer, die umgestellt haben von einem dreigliedrigen auf ein zweigliedriges System innerhalb der letzten fünf Jahre, diejenigen Länder sind, die zugelegt haben, die es also besser gemacht haben.

    Wir können sehen, dass die Bundesländer, die Lehrer nicht fachfremd einsetzen, die besseren Länder sind. Und jetzt muss man sich mal vorstellen: In Bremen werden 37 Prozent der Mathematikstunden von Lehrern unterrichtet, die überhaupt nicht für Mathematik ausgebildet sind, in Sachsen sind es vier Prozent. Das kann man daraus auch lernen.

    Und man kann lernen, wie man eine gute Pädagogik in der Schule macht. Was natürlich jetzt sein muss, ist, dass man tatsächlich lernt! Also, dass die anderen Bundesländer von jenen Bundesländern lernen, die diese Fortschritte machen. Ansonsten bleiben natürlich solche Studien …

    Heckmann: Das wollte ich gerade lernen, was kann man denn lernen? Die ostdeutschen Bundesländer haben die Nase vorn, ich habe es ja gerade eben schon erwähnt. Liegt das vor allem daran, dass in ostdeutschen Ländern weniger fachfremde Lehrer für Mathematik beispielsweise eingesetzt werden?

    Allmendinger: Nun, man muss ja unterscheiden zwischen der Höhe der Kompetenzen, die erreicht worden sind, und den Veränderungen. Die ostdeutschen Bundesländer lagen ja auch das letzte Mal schon vorne, und da kann man anfangen mit Kindertagesstätten, man kann anfangen mit Ganztagsschulen, man kann anfangen mit einer späteren Trennung. Und dann muss man sich anschauen, wie kann man diese Veränderungen erklären?

    Und da muss man, auch wenn man das in Deutschland ungerne hört, die Systemfrage nach wie vor stellen. Also: Bringt es tatsächlich etwas, Schülerinnen und Schüler in drei unterschiedliche Schulen aufzuteilen? Also zusammenfassend: Mehr Zeit zum Lernen geben, länger miteinander lernen und eine gute pädagogische Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer.

    Heckmann: Zentraler Befund der Studie ist ja auch, und erneut, dass der Bildungserfolg extrem stark von der sozialen Herkunft abhängt. Sie haben den Begriff der Bildungsarmut geprägt, der ja auch weiter tradiert wird immer wieder. Weshalb hat sich daran nichts oder nichts Wesentliches geändert 13 Jahre nach dem ersten PISA-Test?

    Allmendinger: Auch da muss man sehr stark zwischen den Bundesländern unterscheiden. Also, gerade bei den Naturwissenschaften sehen wir, dass ostdeutsche Länder viel niedrigere Unterschiede haben zwischen Schülerinnen und Schülern aus herkunftsstarken, also sozial gut situierten Elternhäusern und eher ärmeren Elternhäusern. Während in anderen Bundesländern dieser Unterschied sehr hoch ist. Und auch hier kann man wiederum zeigen, dass es etwas damit zu tun hat, wie lang diese Schülerinnen und Schüler miteinander unterrichtet werden.

    Die zweite Frage, die mir natürlich am meisten am Herzen liegt, ist diejenige der Bildungsarmut. Auch hier kann man sehen, dass je nach Bundesland ganz unterschiedlich viele Schülerinnen und Schüler dieses unterste Kompetenzniveau, von dem man sagt, das muss eigentlich erreicht werden, nicht erreichen. Das sind in Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt vier bis sechs Prozent der Schüler, in anderen Bundesländern sind es 20 Prozent.

    Und hier ist es wirklich unabdingbar notwendig, dass man von den besseren Schulstrukturen in einigen Bundesländern was lernt, dass man sich die Unterschiede noch mal anschaut, auch innerhalb der Bundesländer, und dass man natürlich auch die Kompetenzen weiter fasst. Wir hatten es jetzt hier mit Mathematik und Naturwissenschaften zu tun. Aber es ist in zukünftigen Studien natürlich auch wichtig, soziale Kompetenzen mit einzubeziehen, um einen breiteren Bildungsbegriff zu verfolgen.

    Heckmann: Ich wollte gerade sagen, die ostdeutschen Länder dominieren ja die Spitze in Sachen Mathematik und Naturwissenschaften. Aber könnte das nicht bedeuten, dass in den alten Bundesländern mehr Wert auf andere Fächer oder auf andere Fähigkeiten gelegt wird, nämlich auf Geisteswissenschaften, auf selbstständiges Denken, auf Kritikfähigkeit?

    Allmendinger: Nein, das sehe ich nicht so. Zumal die Art und Weise, wie diese Kompetenzen erhoben worden sind, ist ja nicht, dass hier jetzt reines Faktenwissen abgefragt worden ist, sondern da ist die Anwendbarkeit von bestimmtem Wissen, die Übertragbarkeit von Wissen abgefragt. Und hier sieht man, dass diese selbstständige Fähigkeit des Anwendens von Wissen als eine Unterkategorie beispielsweise des Testens von Mathematik oder Naturwissenschaften in den ostdeutschen Ländern auch höher ausgeprägt ist. Wir haben im Moment noch keine solche Vergleiche, da müssen wir warten auf das nationale Bildungspanel, welches dann diese emotionalen diese sozialen Kompetenzen breiter erfasst.

    Heckmann: Sie haben gerade eben, Frau Allmendinger, das Stichwort erwähnt, längeres, gemeinsames Lernen. Das sehen Sie als so eine Art Königsweg offenbar an, um diesen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg aufzulösen. Wie kommen Sie zu Ihrer Überzeugung, woher nehmen Sie die Erkenntnis, dass ein längeres gemeinsames Lernen dort Abhilfe schaffen kann?

    Allmendinger: Wenn Sie sich mal die Daten anschauen, und am WZB hat das insbesondere Marcel Helbig gemacht, dann kann man sehen, dass in Rheinland-Pfalz umgestellt worden ist von einem Dreigliedrigen auf ein Zweigliedriges, schon im Jahr 2009, 2010. Schleswig-Holstein hat es 2010 gemacht, Hamburg hat es 2009, 2010 gemacht, Niedersachsen hat es gemacht. Das sind aber genau die Bundesländer, wo wir zwischen der ersten und jetzt dieser Erhebung hohe Kompetenzzuwächse sehen. Das ist doch noch mal ein Beleg dafür, dass dieses System Trennung den Kindern nicht guttut und dass sie sehr viel voneinander lernen können und dieses Voneinander-Lernen insbesondere Kindern hilft, die aus sozial benachteiligten Elternhäusern kommen.

    Heckmann: Im Bildungsbereich ist es Bund und Ländern ja verboten zu kooperieren. Dieses Kooperationsverbot wird derzeit auch wieder diskutiert, wie sinnvoll das ist. Aus Ihrer Sicht, ist es Zeit, dieses Kooperationsverbot aufzuheben?

    Allmendinger: Ich finde, dass das, was wir in der Forschung erlebt haben durch den Pakt für Forschung und Innovation, durch die Exzellenzinitiative, das sind ja alles Bund-Länder-Kooperationen, dass wir das auch in dem schulischen Bereich brauchen. Wir haben bislang über eines noch nicht gesprochen, wir haben noch nicht über Geld gesprochen. Wir brauchen Geld insbesondere – das ist kein schönes Wort, aber ich lasse es jetzt mal dabei – in diesen Brennpunktschulen, weil wir hier sehr viel mehr Lehrkräfte brauchen für die Kinder. Wir brauchen auch Pädagogen und Psychologen zu einem höheren Anteil, wir brauchen Hilfe, um die Eltern mit an die Schule einzubeziehen, also die Akteure alle miteinander zu vernetzen. Und das ist der Grund, warum ich sehr stark die Aufhebung dieses Kooperationsverbots und damit Bundeshilfe ermöglichen möchte für insbesondere arme Landkreise.

    Heckmann: Sicherlich auch ein Thema, das in den Koalitionsverhandlungen, in den anstehenden, eine Rolle spielen wird …

    Allmendinger: Hoffentlich!

    Heckmann: Wir haben gesprochen mit Professor Jutta Allmendinger, sie ist Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung. Frau Allmendinger, ich danke Ihnen ganz herzlich für Ihre Zeit!

    Allmendinger: Schönen Tag Ihnen noch! Tschüss!

    Heckmann: Ihnen auch!


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.