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Weniger Marktgeschrei in Istanbul

Die Verkäufer auf türkischen Märkten sollen leiser werden. Das schreibt eine neue türkische Verordnung vor, die daneben weitere Regeln zum Beispiel zu Hygienestandards enthält. Obwohl mancher Marktschreier die Annäherung an die EU hinter dieser Norm vermutet, liegt die Ursache wohl eher in der generellen Modernisierung der Türkei.

Von Gunnar Köhne, Istanbul | 13.09.2012
    "Was für wunderbare Tomaten heute! Kommt! Greift zu!" Sie stehen hinter sorgsam gestapelten Tomaten oder Pfirsichen, Kleidern, Gewürzen oder Haushaltswaren und geben sich lautstark Mühe, ihre Waren an die vorbei drängelnden Kunden zu bringen. Mal brüllend, mal singend. Doch seit Neuestem ist das den Händlern auf dem Wochenmarkt des Istanbuler Stadtteils Fatih eigentlich verboten. Die türkische Regierung will Marktschreier im ganzen Land durch eine erstmals erlassene Marktverordnung zum Verstummen bringen. Der 52-jährige Gemüsehändler Neset Bahcivan schüttelt den Kopf:

    "Wenn man ruft und die Männer vom Ordnungsamt kommen gerade vorbei, dann wird man ermahnt. Anfangs waren sie richtig streng, aber dann hat sich nach und nach wieder der normale Marktalltag eingestellt. Wir rufen jetzt leiser, sind vorsichtiger. Angeblich stören unser Rufe die Anrainer beim Mittagsschlaf."

    358 Wochenmärkte gibt es allein in Istanbul. Vom Ordnungsamt der Stadt wollte sich auf Anfrage niemand öffentlich zur neuen Marktpraxis äußern. Im zuständigen Wirtschaftsministerium verweist man darauf, dass es in dem Gesetz nicht bloß um Lärmschutz gehe, sondern auch um die Einhaltung von Hygiene- und Qualitätsvorschriften oder um die Bekämpfung von manipulierten Waagen. Die Türkei will auch auf ihren Märkten und Basaren EU-Standards erreichen, vermutet Bahcivan:

    "Ich kenne Marktverkäufer, die ihren Stand zu spät abgebaut haben, also nach 20:00 Uhr, und deswegen ein Bußgeld zahlen mussten. Wenn man seinen Standplatz dreckig hinterlässt, muss man auch zahlen. Und man kann deswegen bis zu zwei Wochen vom Markt verbannt werden."

    Die Märkte und Basare der Türkei leiden zunehmend unter der rasanten Modernisierung des Landes. Junge Mittelstandsfamilien kaufen heute lieber in einem klimatisierten Einkaufszentrum ein. Allein in Istanbul gibt es mittlerweile 83 Einkaufszentren, zwei Dutzend weitere sind derzeit im Bau. Für die 63-jährige Rentnerin Ayten Bakal keine Alternative zu ihrem bunten Markt in Fatih. Aber dass nun ein wenig mehr Ordnung zwischen den Holztischen eingezogen ist, begrüßt sie:

    "Sie sollen nicht viel schreien. Da tun einem ja die Ohren weh. Manche rufen immer noch, aber nicht mehr so wie früher. Es ist jetzt angenehmer, auf dem Markt einzukaufen. Wenn die Verkäufer laut durcheinander brüllen, fühlt man sich bedrängt und gestört. Es macht auch keinen Sinn, so laut zu schreien. Man geht ja sowieso überall durch und sieht sich alles an."

    Die Händler beklagen einen Rückgang der Verkaufszahlen durch die neue Marktverordnung. Was im Supermarkt die stimulierende Hintergrundmusik, sei auf dem Markt das Ausrufen der Waren: verkaufsfördernde Animation und Unterhaltung zugleich. Der 21-jährige Marktverkäufer Ozan Tardo:

    "Unsere Verkaufszahlen sind auch zurückgegangen. Vor allem die Tomatenverkäufer mussten große Verluste hinnehmen, weil die wirklich vom Ausrufen abhängig sind. Jedes Kilo, das die Konkurrenz verkauft, schmerzt, nur durchs Rufen können sie auf sich aufmerksam machen. Ein Großteil unserer Kundschaft besteht aus älteren Frauen. Viele können nicht Lesen und Schreiben. Da kann ich meine Waren noch so groß mit Preisen beschriften, die Oma bleibt nur stehen, wenn ich den Preis noch einmal laut ausrufe. Ich singe den alten Damen manchmal auch Lieder vor. Das freut sie und verschönert ihnen den Tag. Dann lachen sie mich an und dann kaufen sie mir sogar Waren ab, die sie eigentlich gar nicht brauchen."