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Wenn alle Gefühle erkalten

Ernst-Wilhelm Händlers neuer Roman porträtiert einen Werksleiter, der im exponierten Kapitalismus das Gefühl für seine Mitmenschen verliert. Es ist keine Anklage gegen die verschrienen Wirtschaftsbosse, sondern eine Untersuchung ihres Zwangs, dauernd zu funktionieren.

Von Michael Schmitt | 31.03.2013
    "Menschen mit meinen Defekten sind üblicherweise nicht fähig, andere Menschen gezielt zu beeinflussen, sie zu lenken. Sie sind zu sehr mit sich selbst beschäftigt und damit, ihre Unzulänglichkeiten zu kaschieren und durch komplizierte Konstruktionen auszugleichen. Ich bin auch sehr mit mir selbst befasst, aber meine Kapazität ist größer, sie reicht auch noch für anderes. Ich verberge, ich verdecke, ich enthülle nur das, was ich preisgeben muss, um die Reaktion auszulösen, die ich erreichen will."

    Wer spricht? Ein Psychopath? Ein Autist? Ein Mensch mit Einfluss und Macht? Des Rätsels Lösung: Es ist der Leiter der Leipziger Werksniederlassung eines international agierenden Unternehmens der Zuliefererindustrie. Ein Mann in einer Führungsposition, aber in einem Alter, in dem ihm die Gefahr droht, durch Jüngere ersetzt zu werden. Ein Mann, der sich gewisse Eigenmächtigkeiten erlaubt, der also angreifbar und deshalb auch doppelt aufmerksam ist. Er ist Hauptfigur und Erzähler in Ernst-Wilhelm Händlers neuem Roman "Der Überlebende" und fügt dem Spektrum von Figuren aus dem Wirtschaftsleben, die der Regensburger Schriftsteller und ehemalige mittelständische Unternehmer seit den neunziger Jahren in seinen bisherigen Büchern beschrieben hat, eine weitere Facette hinzu.

    Auf den ersten Blick bedient das Selbstbild dieses Mannes viele der gängigen Klischees, die über den Menschentyp in Umlauf sind, der sich dem Kapitalismus in seiner exponierteren Form voll und ganz verschrieben hat. Es gibt wissenschaftliche Untersuchungen dazu und noch mehr Vorurteile darüber, wie groß der Prozentsatz von Psychopathen auf den höheren Ebenen von Unternehmen und auch in der Politik wohl sein könnte. Es gibt eine Vielzahl von Romanen und Sachbüchern, in denen der Geist des entfesselten Kapitals und die Charakterzüge seiner Propheten aufs Schärfste gegeißelt werden. Egozentrik, Machtgier, Allmachtsfantasien gehören hierher. Aber auch die scheinbar unabweisbare Logik des Marktes. Im vergangenen Sommer hat etwa Rainald Goetz in seinem emphatisch-anklagenden Roman "Johann Holtrop" einen solchen Menschen nach dem Vorbild von Thomas Middelhoff gestaltet, und die von Joseph Vogl 2010 veröffentliche Untersuchung "Das Gespenst des Kapitals" ist mittlerweile fast schon kein Klassiker geworden.

    Aber: Ernst-Wilhelm Händler wäre nicht der Schriftsteller, der er ist, wenn er sich mit einem anklagenden Roman in diese Reihe einordnen würde. Er hat in den letzten Jahren viel zu oft die Defizite eingeklagt, die er in der neueren deutschsprachigen Literatur findet, wenn sie sich den Erscheinungsformen und Krisen des Kapitalismus zuwendet. Weil sie, wie er sagt, immer nur aus der Perspektive derjenigen auf dessen Funktionsweisen blicke, die unten stünden. Weil sie es vermeide, auch einmal den Blick von oben zu gestalten. Also hat er in seinen eigenen Büchern gewissermaßen dagegen gehalten, hat komplexe Fiktionen aufgebaut und an der Sprache gefeilt, um vielschichtiger zu erzählen, auch analytischer – doch stets aus kühl-kalkulierter Distanz. Vor allem "Wenn wir sterben" von 2002 muss in diesem Zusammenhang genannt werden, die kalt-glühende Geschichte von drei zunächst befreundeten, dann gnadenlos konkurrierenden Unternehmerinnen. Ein Buch, das Furore gemacht hat, nicht nur wegen des Plots, sondern auch weil Ernst Wilhelm Händler darin viele Zungenschläge der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur imitiert und geplündert hat, um seinen Charakteren Gestalt zu geben. Kann es ein besseres Bild für die Fähigkeit des Kapitalismus geben, sich alles anzueignen, einzuverleiben, anzuverwandeln?

    "Der Überlebende" steht in dieser Tradition, diesmal als Beschreibung einer toten Seele, die sich selbst als tote Seele nicht wahrnehmen möchte, aber in den eigenen Taten immer neu den Beweis dafür erbringt – und auch selbst erkennt –, dass sie nichts anderes ist und nichts anderes sein kann.
    "Wenn sich Gott für uns so wenig interessiert, wie Pfarrer Grenzfurtner es predigt, braucht man keinen Teufel mehr. (…) Will ich durch böse Taten eindeutig schuldig werden, kein Halbschuldiger mehr sein?Das Böse, das keinen Platz mehr hat, muss sich doch irgendwo sammeln. Nicht bei den Untergebenen, nicht bei den Vorgesetzten, nicht bei den Robotern. Einer muss es doch zum Vorschein bringen! Alle müssen die Rückseite des gewienerten Fortschritts ertragen. Die teuflische Seite, die Finsternis, die Schatten, sie müssen doch irgendwo greifbar werden! Das tun sie in mir. Ich bin der böse Geist meiner Untergebenen, meiner Vorgesetzten. Der Roboter. Ich gebe dem Bösen meinen Körper, es nimmt Platz in meiner Person. Dafür kann der Fortschritt unbehelligt und ohne Schuldgefühle Riesenschritte machen. Die Wahrheit des Bösen, das bin ich."

    Der Roman ist in drei großen Kapiteln als Selbstgespräch des Werksleiters angelegt, als immer neuer Versuch zur Rechtfertigung seiner Handlungsweisen im inneren Dialog mit Menschen, die er für seine Zwecke benutzt und geopfert hat: meist mit seiner Frau Maren, aber auch mit seinem Ziehsohn Peter und mit seiner Tochter Greta. Er hat, um es auf einen harten Kern zu reduzieren, seine gesamte Familie, alle, die ihm nahestehen, in das Unternehmen, für das er arbeitet, und in dessen Aktivitäten hineingezogen – und sie damit zerstört. Er hat sich mit Erfolg der abstrakten Logik des Überlebens in einem von Konkurrenz bestimmten Firmenumfeld verschrieben. Aber wie steht er nun da? Als Verkörperung einer reinen Funktionalität? Als Musterbeispiel für einen entfremdeten Menschen im Sinne klassischer kritischer Theorie? Nicht ganz – denn auf eine verquere Weise ist er auch nicht entfremdet, der Teil seiner Arbeit, der ihn am meisten interessiert und für den er die größten Risiken eingegangen ist, ist nämlich rational nicht begründbar, weil er weder der Firma noch dem Werksleiter Gewinn eintragen kann. Es sei denn, die zweckfreie Entwicklung von Perfektion sei ein hinreichendes Ziel an sich ...

    Die Firma heißt D'Wolf und ist ein recht rentables aber unspektakuläres Unternehmen für Steuerungselemente, das in den USA und in Japan Unternehmenssitze unterhält, weltweit agiert und sich mit vielen konkurrierenden Unternehmen auseinandersetzen muss. Der Werksleiter hat als Manager, also als Angestellter, eine überaus beachtliche, aber keine großartige Karriere gemacht. Doch was ihn eigentlich umtreibt, ist ein kleines Roboterlabor, das er in der Leipziger Niederlassung gegen die Entscheidungen der weit entfernten Unternehmensleitung im Verborgenen weiterbetreibt, das er eigenmächtig finanziert, und das ihn den Kopf kosten könnte, wenn seine Handlungsweise bekannt würde.

    "Der Swarm-bot war in die Wirklichkeit gesprungen. Zehn beliebig im Raum verteilte S-bots hatten sich zu einer nicht vorprogrammierten Form zusammengesetzt und eine dreißig Zentimeter lange Eisenstange transportiert. Aus dem jovial beauftragten und nachsichtig kontrollierten Hin und Her, dessen Unschlüssigkeit jedoch Anlass zur Sorge gegeben hatte, war eine perfekt funktionierende Folge in Raum und Zeit geworden.(...)

    Meine gewöhnliche Arbeit langweilt mich nicht, ich mache sie nicht nebenbei und vernachlässige sie nicht. Mit den Swarm-bots weiche ich nicht aus, ich lenke mich nicht ab. Aber die Steuerungen sind kein Experiment, ihre Entwicklungspfade sind erwartbar. Die Steuerungen sind - logisch. Was die S-bots bedeuten oder nicht bedeuten?Es ist wohl eine Art gesellschaftliches Experiment. Die S-bots bewältigen ihr Leben, indem sie Gemeinschaftsarbeit lernen."


    Dieses Roboter-Labor dient keinem direkt erkennbaren Zweck des Unternehmens oder des Werksleiters. Es ist vor allem der Spiegel und das Spielfeld seines kühl-konstruierenden Geistes, ein Ort jenseits seiner alltäglichen sozialen Zusammenhänge, wo er emotionslos und ohne Schuldgefühle mit anderen Wesen experimentieren und bei diesen Experimenten immer weiter gehen kann. Die Swarm-bots sind kleine, fünfundzwanzig bis dreißig Zentimeter große Roboter, die gegen immer neue Widerstände koordiniertes Handeln erlernen sollen, die immer wieder umgebaut und neu konfiguriert werden müssen. Eine direkte Verbindung mit früheren Versuchen der Firma beim Bau von Mars-Robotern ist nicht erkennbar. Eine plausible mögliche Perspektive für die Verwendung der Erfahrungen, die man bei den Versuchen macht, gibt es nicht. Faktisch ist das Roboter-Labor also vor allem eine private Manie und eine echte Gefährdung der Stellung des Werksleiters – und daraus, nicht aus dem ganz normalen Druck des alltäglichen Geschäftslebens entspringt fast alles, was er im Verlauf des Romans tut: denn er fürchtet, dass auch nahestehende Mitarbeiter ihn ausspionieren und anschwärzen könnten.

    "Geheimnisse verleihen Macht. Geheimnisse zu bewahren kostet Kraft. Manche Geheimnisse nutzen den Bewahrer ab, verschleißen ihn. Das sind die diejenigen, die damit zu tun haben, wer man ist. Was war mein Ziel mit unseren Robotern?

    Bei jedem neuen Experiment, von dem wir nicht wissen, ob es so ausgeht, wie wir uns das vorgestellt haben, kommt immer alles in Vibrieren, der Raum, die Zeit, aber auch die Menschen, Peter, ich. Wenn das Experiment gelingt, dann schwingen der Raum und die Zeit, die S-bots und die Menschen synchron. Es hat nichts mit Harmonie zu tun. Es geht um Konzentration. Ist das unser Geist, der da in der Materie, in den Robotern schwingt? Es gibt keinen Geist. Es gibt nur uns und die Roboter. Manchmal denke ich, die Arbeit im Labor besteht darin, alle möglichen Schwingungen auszuprobieren ... Wenn wir alle denkbaren Möglichkeiten realisiert haben, dann sind die Roboter – nein, nicht wie Menschen – nein, nicht perfekt. Dann haben die Roboter ihren Lebensspielraum ausgeschöpft."


    Das Labor als der Ort, an dem die Möglichkeiten der eigenen Schöpfung bis zum Letzten ausprobiert werden, steht traditionell gelesen vielleicht beispielhaft für die schöpferische Zerstörungskraft, die Joseph Schumpeter einst als die treibende Kraft des Kapitalismus herausgestellt hat. In Händlers Roman wird diese Logik jedoch über sich selbst hinaus getrieben. So emotionslos wie er seine eigenen Lieblinge, die kleinen Roboter betrachtet, so gefühllos handelt der Werksleiter auch an den Menschen, die ihn mit dem Leben jenseits des Labors und des Unternehmens verbinden, die ihm aber auf die eine oder andere Weise im Wege sind, wenn es gilt, dieses Labor zu schützen. Auch deren "Lebensspielraum" schöpft er nach Gutdünken aus, er experimentiert mit ihnen im Rahmen der Unternehmensaktivitäten genauso, wie er im Labor mit den Robotern experimentieren lässt. Und auch dabei geht er immer weiter.

    "Winners are simply willing to do what losers won't"

    so einfach ist das.

    Das trifft zunächst und vor allem seine Ehefrau Maren, deren Tod er direkt verschuldet hat. Maren hat er in den USA kennengelernt, bei einer Veranstaltung von D'Wolf. Sie ist Künstlerin, stickt Gobelins und geht mit ähnlicher Intensität, aber ganz anders in ihrer eigenen Arbeit auf als der Werksleiter in der seinen. In ihren Wandteppichen kommt sie selbst als Bild nicht vor – er aber schon, weil sie ihn auf einem der Gobelins porträtiert.

    Maren ist aber auch krank, sie leidet an einer AIDS-ähnlichen Immunkrankheit, an der sie sich vermutlich bei einer gemeinsamen Urlaubsreise des Paares in Mexiko angesteckt hat. Sie ist hilfsbedürftig und braucht regelmäßig starke Medikamente. Und genau diese Medikamente nimmt der Werksleiter eines Tages mit ins Labor, weil die Verpackungen bestimmte Versuche mit den Greifarmen der Roboter erleichtern könnten. Handelt er gedankenlos? Fahrlässig? Vorsätzlich? Opfert er Maren – oder nimmt er zumindest in Kauf, dass sie für ein leerlaufendes Experiment geopfert werden könnte? Der Erzähler weicht der Frage nicht aus, aber wird der Leser aus seiner Antwort wirklich klug? Ganz gewiss will der Werksleiter vermeiden, dass Maren mit einer Kollegin im Labor zusammentrifft. Die Folge davon wäre möglicherweise ein Kontrollverlust, eine Verbindung zwischen zwei getrennten Sphären, was er nicht riskieren will. Nach Marens Zusammenbruch, nach einer panisch-hektischen Einlieferung in die Notfallstation eines Krankenhauses verfolgt er nur, getrennt von ihr durch eine Glasscheibe, wie sie unter den Händen zweier Ärzte bei den Wiederbelebungsversuchen stirbt.

    "Während ich durch die Glasscheibe in der Tür zusah, wie der eine Arzt dir die Schalen des Defibrillators auf den Brustkorb drückte und der andere am Gerät die Ladung einstellte, wurde der hundert millionste POWERWOLF W-8 2000 fertiggestellt."

    "Wir würden es fertigbringen die Realität zu klonen, sie würde annihiliert und durch ihre Doppelgängerin ohne Menschen ersetzt werden. Die Wirklichkeit wird nicht mehr gebraucht, sie kann verschwinden, sie muss verschwinden. Neben ihrer Doppelgängerin gibt es keinen Platz für sie."


    Will sagen: Maren verschwindet aus der realen Welt, damit die Roboter als Substitut funktionieren können. Dem Erzähler ist klar, was er damit anrichtet, und dass er sich selbst einen Teil seines Lebens aus dem Leib herausreißt, aber an der Distanz, die er stets auch zu sich selbst wahrt, ändert das nichts.

    "Du schnelltest mit dem ganzen Körper hoch. Als habe Dich jemand in die Luft geworfen. Über der Bahre drehtest du dich um hundertachtzig Grad, dein Kopf war jetzt weit weg von mir. Für einen Augenblick schwebtest Du: Mit halboffenem Mund blicktest Du nach oben. Es war, als ob dich jemand anderes küsste."

    "Ich ging nicht zu dir hin. Nicht einmal nach deiner Hand fasste ich. Ich blieb dort, wo ich war. Wenn ich Dich berühren würde, dann würde ich genauso erstarren wie du. Ich würde gefrieren, aber ich würde nicht ganz bleiben wie du, ich würde zerbrechen."


    Erkennt er sich selbst als Teil eines "untoten Geschwaders"?
    Maren wird ihn als imaginierte Gesprächspartnerin von da an nie wieder loslassen, sie bezeichnet für immer das Defizit seiner Existenz. Mit Maren führe er Gespräche, für die er nie üben konnte, erklärt er – und Ernst-Wilhelm Händler zeichnet ihn als einen Mann, der sich selbst zu gut durchschaut, um in überkommener Weise als Opfer der Verhältnisse oder als Opfer eines falschen Bewusstseins erklärt werden zu müssen. "Der Überlebende" ist kein psychologischer Roman, sondern eine strukturelle Untersuchung darüber, wie ein Funktionsträger in einer aus dem Ruder laufenden Funktionalität aufgeht.

    Die Bilder, um das zu beschreiben, findet Ernst-Wilhelm Händler nicht nur in den Schilderungen des Roboter-Labors. Der Raum, in dem der Werksleiter existiert und agiert, ist ganz banal und sehr häufig, der Platz hinter Glasscheiben oder hinter den Monitoren von Überwachungskameras, die ihn von den Vorgängen trennen, die er selbst initiiert hat – so wie im Fall von Marens Tod. Das heißt, er ist einerseits isoliert und meist unsichtbar, nimmt aber scheinbar die Position eines objektiven Beobachters eines Experimentes im naturwissenschaftlichen Sinne ein – doch nichts von dem, was vor seinen Augen abläuft, würde passieren, wenn er die Dinge nicht gerade dahin gelenkt hätte. Hinter Monitoren gekauert beobachtet der Mann seine Mitarbeiter und Untergebenen, wenn er befürchtet, dass sie sich gegen ihn verschwören. Hinter Monitoren verborgen sieht er einer Kollegin aus den USA beim Training zu. Hinter Monitoren lauert er auch, wenn Delegationen von D'Wolf in seinem Auftrag Verhandlungen führen – und seine eigenen Mitarbeiter von ihm mit widersprüchlichen Aufträgen versehen worden sind, sodass sie gegeneinander ausgespielt werden können. So spielt er beispielsweise mit zwei Frauen, die er mal fördert und mal zurechtstutzt, so schickt er vor allem seinen Ziehsohn Peter, lange Zeit sein engster Vertrauter im Unternehmen, in eine Verhandlungsrunde um einen Großauftrag, bei der der junge Mann nur verlieren kann, weil der Verkaufsleiter der Gegenseite viel zu ausgebufft ist.

    "Er nahm Peter das Notebook weg und klappte es zu, um es sofort wieder zu öffnen. Er benötigte mehrere Anläufe, bis er sich erneut angemeldet hatte. Er klickte eine andere Datei an und warf das Notebook fast zu Peter herüber. Die Datei bot eine Übersicht über große Ausschreibungen der Y AG aus den vergangenen Jahren, Rohstoffe, Komponenten, Dienstleistungen und sogar Bauvorhaben, ein ziemlich umfassender Ausschnitt aus dem Leben eines Einkäufers. Peter war erschrocken über die Höhe der Nachlässe. Die Preise, zu denen die Y AG eingekauft hatte, konnte aus der Sicht der Lieferanten schlichtweg nicht vertretbar gewesen sein. Wie hatte der Einkaufsvorstand die Lieferanten zu diesen Nachlässen gebracht? Die Antwort durfte Peter sich selbst geben: indem er erst unglaublich freundlich gewesen war und dann eine unvorhersehbare Folge von Preisrunden gefahren war."

    Letztlich agiert der Werksleiter in einem Raum, der sich immer stärker von jeder Realität abkoppelt, die außerhalb seines Büros oder außerhalb des Unternehmens existiert. Das ist nicht unbedingt überraschend, wenn man bedenkt, dass fast jeder große Apparat sich selbst auf diese Art am Leben erhält und reproduziert. Aber Ernst-Wilhelm Händler beschreibt das mit ungewohnter Konsequenz. Er spiegelt die Motive seiner Hauptfigur nicht nur an den kleinen Robotern, an der Kunst des Gobelin-Stickens oder an der Virtualisierung der Welt hinter Bildschirmen, sondern greift noch weiter aus zu kosmologischen Standardmodellen für die Entwicklung des Universums, eines Weltalls, wo es nur drei Grad wärmer als "Absolut Null" ist, also minus 270 Grad kalt. Dass es da, wo der Werksleiter auftritt, nicht nennenswert wärmer ist, ergibt in dem Zusammenhang eine nette Pointe – interessanter ist die Parallele, die Händler zwischen der Dynamik der beschleunigten Expansion des Universums und der Dynamik der inneren Entwicklung eines Unternehmens und besonders dieses einen hochrangigen Manager suggeriert:

    "Was wird jemand sehen, der in hundert Milliarden Jahren in den Himmel blickt? Das Universum, das jetzt etwa vierzehn Milliarden Jahre alt ist, dehnt sich beschleunigt aus. Die Ursache dafür ist die dunkle Energie, der leere Raum enthält etwa dreimal mehr Energie als alle sichtbare und dunkle Materie zusammen. Die beobachtbare Materie macht nur etwa ein Zwanzigstel der gesamten Energie und Materie des Universums aus. Die Beschleunigung der Ausdehnung führt zur Entstehung eines Ereignishorizonts: von außerhalb dieser riesigen imaginären Fläche, die eine große Raumregion mit der Erde im Zentrum umschließt, erreichen uns weder Materie noch Strahlung. Das Universum wird zu einer Art umgestülptem schwarzem Loch, Materie und Strahlung sind nicht diesseits des Ereignishorizontes, sondern jenseits davon gefangen. Im Zuge der Ausdehnung des Universums wandert alle Materie durch den Ereignishorizont nach außen. Die lokale Gruppe, zu der unsere Milchstraße, die Andromeda-Galaxis und die sie umlaufenden Zwerg-Galaxien gehören, wird kollabieren und einen einzigen Supersternhaufen bilden, alle anderen Galaxien werden, eine nach der anderen, hinter dem Ereignishorizont verschwinden."

    Klingt kompliziert, bringt aber schlicht und einfach eine wachsende Verdunkelung der Welt mit sich – man könnte auch sagen eine fortschreitende Form der strukturellen Verblödung: Dann wird nämlich von der Erde aus – wenn es sie denn überhaupt noch geben sollte – am Nachthimmel nach und nach nichts mehr zu sehen sein, weil das Licht nicht schnell genug ist, um die ständig wachsenden Entfernungen zwischen den Himmelskörpern noch zu überbrücken.

    "Wir können nicht ewig leben. Weil Materie und Strahlung zum Ereignishorizont hinstreben, ihn passieren und dann jenseits gefangen sind, sinkt der Informationsgehalt in dem uns zugänglichen Teil des Universums immer weiter."

    Ein drastischeres -- und sei es auch verstiegeneres – Bild für die innere Verfasstheit der Hauptfigur des Romans ist kaum vorstellbar: Unsichtbar hinter Monitoren und hinter strategisch vorgeführten Gesten und Posen reproduziert der Werksleiter die Strukturen, die ihn am Leben halten, während alles, was ihm jemals nahe gewesen ist, in dem Moloch Unternehmen verschwunden ist wie in einem schwarzen Loch. Es geht Ernst Wilhelm Händler in diesem Roman um Konstrukte, nach deren Vorgabe die Umgebung modelliert werden kann, deren Defizite aber in der immanenten Logik nicht mitgedacht sind, die in der Selbstbeschreibung daher auch nicht auftauchen können, weil sie nicht darstellbar, also etwa artikulierbar, sind.

    Ernst-Wilhelm Händler klagt nicht an – sein Held ist nicht gierig nach Geld und nicht übermäßig karrieregeil, er hält sogar eine gewisse innere Distanz zu seinem Unternehmen, und dennoch entfaltet sich in ihm ein unermesslich zerstörerisches Potential. Zugleich jedoch ein stummes Leid, auch wenn er nicht sagen kann, wo der Schmerz genau sitzt.

    "Ich konstruierte. Immer. Niemals tat ich etwas anderes. Auch wenn ich mich selbst beobachtete. Ich dachte: Da muss es doch etwas geben, was schon vorher da war."


    Ernst-Wilhelm Händler: "Der Überlebende"
    S. Fischer Verlag, Frankfurt, Frühjahr 2013