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Wenn der Glauben weicht

Ein junger Landpfarrer verliert zunehmend Rückhalt in seiner Gemeinde, gerät in eine Glaubens- und Lebenskrise. Subtil, mit glasklaren Sätzen zeichnet der Autor Dieter Wellershoff eine psychologische Studie, die den Leser nachhaltig beschäftigt.

Von Hajo Steinert | 05.11.2009
    Von Roman zu Roman erzählt Dieter Wellershoff eine neue realistische Geschichte über den Einfall des Unvorhergesehenen in den Alltag. Er erzählt von Menschen, die mit einer radikal veränderten Lebenssituation fertig zu werden versuchen und den Ausbruch wagen aus der Lebensroutine. Mal ist es eine erotische Verlockung, mal ein Vertrauensbruch, das Ende einer Freundschaft, ein Verbrechen, ein Unfall, die er als Ausgangspunkt nimmt. Und oft kommt vieles von alledem in einer Geschichte zusammen.

    Wellershoff ist ein mit allen Wassern psychologischer Erzählkunst gewaschener Autor. Nach der Lektüre eines Wellershoff-Romans diskutieren die Leser über das Schicksal der literarischen Figuren, als wären diese lebende Menschen, als stünde man mitten unter ihnen, als wäre man einer aus dem Bekanntenkreis. Voraussetzung für die intensive Kommunikation zwischen Autor und Leser ist die von Wachheit und Weisheit geprägte Lebenserfahrung des gerade 84 Jahre alt gewordenen Schriftstellers.

    Wellershoff lässt seine Romanhelden an bürgerlichen Wertvorstellungen und moralischen Grundsätzen scheitern, ohne dabei selbst als Moralapostel oder Besserwisser in Erscheinung zu treten. Er, der unsentimentale Realist, hat es nicht nötig, sich jünger oder dümmer, älter oder klüger zu stellen, als es seine literarischen Figuren tatsächlich sind. Der Autor macht uns nichts vor. Er erzählt Geschichten, wie sie sich wirklich hier und heute im wirklichen Leben zutragen können.

    Im ersten seit seinem Bestseller "Liebeswunsch" (2000) erschienenen neuen Roman steht ein tödlicher Autounfall bei stürmischem Wetter am Anfang. Wie ein Krimi, durchaus wie eine neue Folge des "Tatort", kommt die filmisch erzählte Handlung in "Der Himmel ist kein Ort" ins Rollen. Ein Wagen ist in den See gestürzt, die Frau und ein Kind sind ums Leben gekommen, der Fahrer wird lebend geborgen, ein Seelsorger betritt die Szene. Während der Verdacht aufkommt, es könnte sich bei der Katastrophe um einen Mord handeln, tritt der Seelsorger, ein noch junger Landpfarrer, immer mehr in den Vordergrund der Betrachtung. Weil er im Gegensatz zu allen anderen an der Unschuldsvermutung festhält und somit den Fahrer des verunglückten Autos nicht des Mordes verdächtigt, gerät er in seiner Kirchengemeinde ins Visier. Die Gerüchteküche dampft. Der Fahrer des Unglückswagens, ein niemandem sympathischer Lehrer, wird im Verlauf des Romans immer weiter ins Abseits gestellt. Er findet keinen Ausweg mehr. Er zieht die Konsequenz. Trägt am Schicksal des in die Enge getriebenen Lehrers der Pfarrer am Ende sogar eine Mitschuld?

    Pfarrer Henrichsens Lebens- und Sinnkrise wird immer offenkundiger. Sie deutete sich schon am Unfallort an, als er sich dabei ertappte, seinen seelsorgerischen, kirchlichen Auftrag nur sehr halbherzig, nur noch "wie auf Knopfdruck" wahrzunehmen. Diese berufliche Sinnkrise geht im Verlauf der Handlang einher mit einer sich zuspitzenden Sprachkrise. Bei einer von ihm erwarteten Hochzeitsrede fehlen ihm buchstäblich die Worte. Schwerer noch wiegt eine sich hinschleppende Liebeskrise. Die Freundin hatte ihn von einem Tag auf den anderen verlassen. Entscheidend für das endgültige Verlieren des Bodens unter den Füßen ist allerdings eine Glaubenskrise, die darzustellen Dieter Wellershoffs ganzes literarisches Geschick und theologisches Einfühlungsvermögen auf den Plan ruft.

    Es geht in "Der Himmel ist kein Ort" - ein eher seltenes Thema in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur - um religiöse Fragen. Dass Kirche und Glaube nicht zwei Seiten ein und derselben Medaille sind, ist eine leidvolle Erfahrung. Die, die dazu bestimmt sind, an diese Doppelexistenz zu glauben, geraten auf doppeltem Boden ins Schwanken. Wegen seines Glaubenszweifels wird der Pfarrer bis hinauf in die Büros der Amtskirche zitiert. Der Gefahr, in pure Gesellschaftskritik zu geraten, geht Dieter Wellershoff dabei nur selten nicht aus dem Wege. "Uns fehlen die Worte und die Wahrheiten und der Glaube", wird einem Kollegen Henrichsens in aller Deutlichkeit in den Mund gelegt.

    Aber auch über die behandelte Glaubens- und Gottesfrage hinaus ist der Roman mit dem verheißungslosen Titel "Der Himmel ist kein Ort" ein Buch von existenziellem Gewicht. Einsamkeit und zunehmende Isolierung ist eine schmerzhafte Erfahrung auch für die, die sich längst damit abgefunden haben, dass es keinen Gott mehr gibt und die schon lange nicht mehr in die Kirche gehen. Doch dann dies.

    Pfarrer Henrichsen gerät bei einem dieser ewig gleichen Hochzeitsessen überraschend in den Blickkontakt mit einer Unbekannten. Noch einmal verspürt er Verlangen. Einen Liebeswunsch. Es entwickelt sich ein leidenschaftlicher Briefwechsel. Doch als den Worten - in einem glänzend erzählten Showdown - Taten folgen, endet das Ganze in einem Fiasko: eine Schlafzimmerszene wie sie ernüchternder, deprimierender kaum sein kann. Wie Nadelstiche gehen Dieter Wellershoffs glasklare Sätze unter die Haut. Ein Roman, den man nicht nur wegen seiner gedanklichen und literarischen Souveränität bewundert. Ein Roman, der einen über die Zeit der Lektüre hinaus nachhaltig beschäftigt.

    Dieter Wellershoff: Der Himmel ist kein Ort
    Kiepenheuer & Witsch, Köln 2009, 300 Seiten, 19,95 Euro