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Wenn die Mutter ihren Sohn nicht lieben kann

Tilda Swinton spielt in ihrem neuen Spielfilm "Wir müssen über Kevin reden" eine Mutter, die mit dem Amoklauf ihres Sohnes klarkommen muss. Swinton wird gerne für solche Rollen besetzt, liebt vor allem das Independent-Kino.

Mit Sigrid Fischer | 14.08.2012
    Sigrid Fischer: Tilda Swinton, eine Mutter kann ihr Kind nicht lieben, nicht annehmen. Sie sind selbst Mutter: Konnten Sie sich diese Situation vorstellen, als Sie sich mit der Rolle von Kevins Mutter für diesen Film auseinandersetzen mussten?

    Tilda Swinton: Ich erinnere mich, als meine Zwillinge auf die Welt kamen. Ich fand sie von der ersten Sekunde an fantastisch, sie interessierten mich und ich wusste, dass es leicht für mich sein würde, sie zu lieben. Mir war in dem Moment aber auch bewusst, dass es genauso gut anders sein könnte. Vor der Geburt habe ich nie daran gedacht, aber in dem Moment kam mir der Hauch einer Möglichkeit in den Sinn, dass ich nicht so empfinden könnte. Und genau diesen Moment hat Lynne Shriver für ihren Film gewählt. Und sie hat ihn ausgedehnt zu dieser Horrorstory. Als ich das Drehbuch las, überkam mich das Gefühl des Tabubruchs.

    Sigrid Fischer: Warum ist denn dieses Thema so ein großes Tabu?

    Tilda Swinton: Es ist nichts Außergewöhnliches. Wir wissen alle, dass es Millionen Frauen und Kinder und Väter gibt, die damit leben. Das zu tabuisieren ist nur ein anderer Weg, zu erreichen, dass Frauen sich schlecht fühlen. Ich meine, Eltern zu sein ist eine verdammt harte Angelegenheit. Kind zu sein auch. Und alle Versuche, diese Erfahrung aufzuarbeiten, rational zu erfassen, sind gescheitert. Das funktioniert nicht, weil sie emotional und chaotisch ist. Und voller Fragen, auf die es wenig Antworten gibt. Aber jeder versucht doch schließlich sein Bestes. Niemand will scheitern. Alle probieren neue Wege aus. Und scheitern doch damit. Hauptsache, man scheitert auf andere Art als die eigenen Eltern.

    Sigrid Fischer: Der Film lässt offen, ob man von einem Scheitern der Eltern sprechen müsste. Und es geht um viel: Kevin wird zum Amokschützen. Haben Sie sich darüber informiert, wie Mütter damit klarkommen?

    Tilda Swinton: Ich habe einiges gelesen und - ganz allgemein gesagt - das sehr Spezielle an diesem Teil der Geschichte, an diesen Morden ist: Es sind letztlich eine Art Selbstmorde. Kevin versucht damit, die Aufmerksamkeit seiner Mutter zu bekommen. Es gibt die Stelle im Buch, die wir auch gedreht haben, wo sie ihn im Gefängnis fragt: Warum hast du mich nicht umgebracht? Und er sagt: Wenn man eine Vorstellung inszeniert, erschießt man nicht das Publikum. Also, das ist hier schon ein sehr spezielles und abstruses Szenario. Ich finde auch, die Tatsache, dass wir nie genau wissen, was jemand anderer durchmacht und was er wirklich denkt, hat etwas Magnetisierendes. Das interessiert mich auch als Cineastin, als Kinogängerin immer: das Rätsel, das sich in einem Gesicht verbirgt. Was denkt die Person, wer ist sie, welche Erfahrungen hat sie gemacht? Während gleichzeitig klar ist, dass man das nie genau wissen kann. Und wenn es um die Beziehung zwischen Mutter und Kind geht, ist das besonders spannend, weil wir ja unbedingt glauben wollen, dass Mutter und Kind sich sehr gut kennen. Wir wissen aber alle, dass das nicht der Fall sein muss. Dass es im Gegenteil oft extrem kompliziert ist. Und diese Einbildung, es sei einfach, es noch komplizierter macht.

    Sigrid Fischer: Solche Figuren, solche Charakterstudien in kleinen Arthousefilmen zu spielen, Figuren, die diese Filme auch stark prägen, das ist aber auch Ihre Spezialität als Schauspielerin.

    Tilda Swinton: Das kann ich am besten. Ich arbeite am liebsten sehr präzise an jedem einzelnen Bild eines Films. Ich bin als Schauspielerin nicht gut genug für diese kurzen Einsätze. Ich hab es ein paar Mal gemacht. Man fliegt kurz ein, kommt mitten in den Dreh, dreht seine Szene, muss dabei ganz schnell die Stimmung am Set erfühlen. Ich bewundere Schauspieler, die das können, das ist ein besonderes Talent, das ich nicht habe. Ich fühl mich langsamer rein. Ich arbeite lieber mit kleinerem Kaliber, vor allem, wenn ich so ein Projekt schon zehn Jahre lang mit entwickelt habe. Dann habe ich schon viel von der Arbeit vorher erledigt.

    Sigrid Fischer: Aber in großen Mainstreamfilmen, in Hollywoodfilmen, hat man sie schon häufiger gesehen. Ob "Die Chroniken von Narnja" oder "Benjamin Button", "Burn after Reading" von den Coen-Brüdern. Wie sehen Sie selbst den Weg, den Sie da gehen?

    Tilda Swinton: Meine Filmografie enthält die eine oder andere Ablenkung. Es gab einen Moment vor ein paar Jahren, während ich "We need to talk about Kevin" entwickelt habe und noch zwei andere Filme, was zusammen über zehn Jahre gedauert hat – da bin ich nach Amerika gegangen und habe dort ein paar Filme gedreht, die vermutlich meine bekanntesten sind. Für mich war das Ablenkung pur. Große Hollywoodfilme sind wie eine Reise für mich. Und es ist ironisch, dass viele Leute meine Arbeit erst durch diese Filme entdeckt haben. Für mich sind sie Urlaub.

    Sigrid Fischer: Zehn Jahre lang einen Film entwickeln und auf die Beine stellen, da braucht man, Tilda Swinton, aber jede Menge Ausdauer!

    Tilda Swinton: Wenn es lange dauert, einen Film auf die Beine stellt – und bei diesem waren es nur fünf Jahre-, dann ist das wie bei einem Langstreckenlauf. Man muss seine Energie aufsparen. Denn man weiß, sobald es losgeht, muss man alle Erfahrungen der letzten zehn Jahre abrufen und man seine Vorbereitungen gut nutzen. Ich bin – was meine Energie angeht - von Natur aus ein Sprinter. Schnell und günstig drehen, so hab ich immer gearbeitet, das kann ich. Die Langstrecke ist das Kräftezehrendste. Verhandlungen mit Bankmanagern, das ist der schwere Teil.

    Sigrid Fischer: Nun haben ja Schauspieler ihren Arbeitsplan, sie wissen, wann sie zur Verfügung stehen und wann nicht. Das ist in Ihrem Fall ja etwas schwierig?

    Tilda Swinton: Ich habe keinen Arbeitsplan. Ich versuche dauernd, nicht mehr zu spielen. Nach jedem Film sage ich, dass ich nie wieder einen drehen werde. Die Schauspielerei interessiert mich nicht, stopp, aufhören. Nie wieder. Sie hat mich nie interessiert, es ist immer eher Zufall. Ich weiß, Sie denken, ich bin nicht ehrlich, aber ich meine das ernst. Es ist die vollkommene Zerstreuung für mich.

    Sigrid Fischer: Heißt das, Sie verstehen sich gar nicht so richtig als Schauspielerin?

    Tilda Swinton: Ich bin nicht sicher, ob ich einen Beruf habe. Ich bin ein Amateur, ich bin ein professioneller Filmfan.

    Sigrid Fischer: Dafür stehen Sie aber oft vor Kameras. Wie kommen denn dann all die Projekte mit Ihnen zustande?

    Tilda Swinton: Ich weiß es nicht. Ich habe zum Beispiel mit meiner Freundin Lynn Ramsey über ihren nächsten Film gesprochen. "We need to talk about Kevin". Und dann wollte ich ihr helfen, ihn zu realisieren, indem ich ihn produziere. Und dann meinte sie: Es würde vielleicht helfen, wenn du mitspielst. Und dann sag ich: Okay, wenn es hilft... Ungefähr so läuft das. Ich übertreibe etwas, aber im Prinzip läuft das so. Zuerst ist da immer die persönliche Beziehung zu jemandem. Und das Gespräch. Und dann kann sich ein Projekt ergeben. Aber die persönliche Beziehung steht immer davor. Und dann gibt es diese wenigen Momente, diese Ausflüge, wo ich von Leuten, die ich nicht persönlich kenne, ein Drehbuch zugeschickt bekomme. Zum Beispiel die Coen-Brüder schickten mir ein Buch und sagten: Wir wollen gerne, dass du diese Rolle spielst. Ich sage: Okay, ich muss nicht beim Drehbuch helfen und nicht das Geld besorgen, dann komme ich einfach als Schauspielerin und spiele die Rolle. Und darüber sind wir zu Freunden geworden. Aber das ist der seltenere Fall.

    /Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

    Infos über Tilda Swinton:
    Sie legt sich in einer Londoner Galerie eine Woche lang acht Stunden täglich schlafend beziehungsweise schlafsimulierend in einen Glassarg (1995). Sie radelt die Berliner Mauer entlang und summt vor sich hin: The Wall, the Wall, the Wall must fall (1988). Sie etabliert den 8,5. Geburtstag, den Kinder mit einem seltenen Film der Filmgeschichte feiern sollen. Alles für die Kunst. Tilda Swinton macht nicht nur Außergewöhnliches, sie ist auch eine außergewöhnliche Erscheinung. Und wird in Filmen oft entsprechend besetzt. Ab Donnerstag kann man sie in der Romanverfilmung "We Need To Talk About Kevin" als Mutter sehen, die keine Beziehung zu ihrem Kind herstellen kann. Der Film lief 2011 im Wettbewerb des Filmfestes Cannes.
    Katherine Mathilda Swinton wurde am 5. November 1960 in London geboren, als drittes von vier Kindern und Spross einer reichen, schottischen Adelsfamilie. Nach dem Internat studierte sie Sozialwissenschaften und Politik in Cambridge. Sie ist Mutter von 14-jährigen Zwillingen und lebt in den schottischen Highlands.

    Schon als Studentin spielte sie Theater, unter anderem bei der Royal Shakespeare Company. Wegweisend für ihre Filmkarriere war Regisseur Derek Jarman bis zu seinem AIDS-Tod 1994. Die Virginia-Woolf-Verfilmung "Orlando" machte Swinton weltberühmt. Große Hollywoodfilme wie "Die Chroniken von Narnia" oder "Der seltsame Fall des Benjamin Button" dreht sie selten. Am wohlsten fühlt sie sich im Independent-Kino: "The Deep End", "Young Adam", "Julia". Für ihre Rolle in dem Thriller "Michael Clayton" bekam sie 2008 den Oscar für die beste weibliche Nebenrolle. Ihr neuer Film "We need to talk about Kevin " startet am Donnerstag.