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Wenn die Schutzwälle der Zivilisation einstürzen

Vergewaltigung, Folter, Mord: Sie sind in Krisengebieten keine Einzelfälle. Doch was bringt Menschen dazu, andere zu quälen, zu töten? Das Team des Neuropsychologen Thomas Elbert hat Kindersoldaten befragt und kommt zu dem Schluss: Der Mensch ist von Natur aus aggressiv.

Von Ingeborg Breuer | 17.01.2013
    Thomas Elbert, Professor für klinische und Neuropsychologie an der Universität Konstanz, interviewt einen ehemaligen Kindersoldaten im Kongo. Er will wissen, welche Erfahrungen der junge Mann als Kindersoldat gemacht hat. Was fühlte er, als er zum ersten Mal einen Menschen tötete? Ich habe ihn zerhackt, antwortet der junge Mann. Und - warst du stolz?, fragt Elbert. Ja, antwortet der Junge, ich war sehr stolz. Wir waren die erste Generation von Kindersoldaten.

    Dr. Maggie Schauer, Leiterin des "Kompetenzzentrums Psychotraumatologie" der Universität Konstanz:

    "Das sind klinische Interviews. Das ist der letzte Teil, die Aggressionsfragen. Have you ever, also haben Sie jemals sich im Kampf verteidigen müssen, das wäre ja die reaktive Aggression, haben Sie etwas zerstört von einer Person, um die zu ärgern? Da geht's schon los, das ist so das erste Element, dass die was kaputt machen. Dann: haben Sie ne andere Person gejagt, weil sie ihm schaden wollten, … haben Sie ne andere Person schreien lassen oder ihn so viel Schmerzen zugefügt, dass sie geschrien hat? Das ist so'n Maß, wie sadistisch ist meine appetitive Gewalt?"

    Die Öffentlichkeit ist schockiert, wenn sie von Gewaltexzessen erfährt, wie sie etwa in den Krisengebieten Afrikas, zur Zeit im Bürgerkrieg in Syrien oder – nach dem Irakkrieg – von amerikanischen Soldaten im Gefängnis von Abu Ghuraib praktiziert wurden. Wie können Menschen gegen andere Menschen so grausam sein? Dieser Frage gehen Thomas Elbert und sein Team in dem Forschungsprojekt "Psychobiologie menschlicher Gewalt- und Tötungsbereitschaft" nach. Und unterscheiden zunächst einmal zwischen verschiedenen Formen von Aggression. Maggie Schauer ist ebenfalls an dem Projekt beteiligt:

    ""Da ist die Unterscheidung zwischen der reaktiven Seite, wo ich mich verteidigen muss, die ja mit sehr unangenehmen Gefühlen einhergeht, da ist die Aggression ne Erleichterung, wenn ich sie erfolgreich angewendet habe. Und auf der anderen Seite, auf der lustvollen Seite, da steigt die Erregung an, wenn ich gewalttätig bin. Und es ist ein angenehmer Erregungsanstieg."

    Neben jener Aggression, die aus Notwehr ausgeübt wird, gibt es auch eine andere, eine "appetitive Aggression". Sie entsteht nicht primär aus dem Gefühl der Bedrohung, sondern sie verschafft Lust. Sie sucht den Kampf, weil es erregend ist. Weil es Spaß macht, andere zu jagen, zu quälen und zu töten. Auf Thomas Elberts Frage, ob es mehr Spaß mache, den Gegner zu besiegen, wenn er blutet, antwortet der junge Mann im Kongo:

    "Ja, wir haben ihre Körper verscharrt, verbrannt oder an Bananenbäume gebunden und wir haben ihnen den Penis abgeschnitten."

    Die Lust, andere Menschen zu jagen und zu quälen, bricht dann hervor, wenn die Schutzwälle, die die Zivilisation errichtet hat, einstürzen. Beispielsweise in Kriegs- und Krisengebieten, wenn moralische und gesellschaftliche Hemmungen wegfallen. Es ist übrigens fast ausschließlich eine männliche Lust.

    Maggie Schauer: "Sozialisierung spielt eine große Rolle und dann natürlich auch dieses angeborene biologische Element. Wenn Sie die Kinder - die männlichen - in der Entwicklung ansehen, ab fünf Jahren sind die sehr gerne aggressiv und kämpfen auch gern. Und wir verbieten es ihnen, wir sozialisieren unsere Kinder in die Richtung, dass sie das nicht tun dürfen. Wenn Sie aber einen Kindersoldaten nehmen, der systematisch belohnt wird, das hast du gut gemacht, der Commander kommt und gratuliert dir, dann schalten Sie Hemmschwellen aus."

    Aber warum gefällt es Männern in bestimmten Situationen, andere umzubringen? Die Forscher des Konstanzer Projekts sehen diese finstere Seite des Menschen tief in der Evolution verwurzelt. Als der Mensch sich vor Millionen Jahren vom Vegetarier zum Fleischfresser entwickelte, entwickelten die Männer einen Jagdtrieb:

    Maggie Schauer: "Der Mensch ist vor Millionen Jahren zum Fleischfresser übergegangen. Das hat ihm sehr viel einfachere Lebensbedingungen geschaffen, dadurch konnte er sich eiweißreich ernähren, konnte mehr Ressourcen akquirieren. Und wenn ich sage, wie bekomme ich dieses Eiweiß? Dann muss ich's in Gruppen tun. Diese Tiere sind groß, ich hab keine Feuerwaffen, ich muss ja zu Fuß jagen, in Gruppen und sehr viel Schmerz und Entbehrung in Kauf nehmen. Biologisch muss es einen Mechanismus geben, der uns befähigt, durchzuhalten, ein Tier zu verfolgen und auf der Blutspur zu bleiben. Und die Dispositionen bringen wir mit."

    Um die Entbehrungen und Strapazen der Jagd auf sich zu nehmen, so die These, musste diese als lustvoll erlebt werden. Nicht das in Aussicht gestellte Stück Fleisch ließ die Jäger durchhalten. Sondern die Jagd selbst – und damit auch das Töten – bereitete Freude, konnte sich gar zum Jagd- und Blutrausch entwickeln.

    Maggie Schauer: "Da kann nicht erst später ne Belohnung sein, das muss intrinsisch sein, sonst würde man das nicht tun. Man würde nicht diese Schmerzen auf sich nehmen. Wie zum Beispiel beim Sex, da sagen Sie auch nicht, die Belohnung kommt zwei Wochen später, sondern die muss sofort da sein, sonst gäb's keine Fortpflanzung. Diese Lust, aggressiv zu sein, das ist die Belohnung, das ist direkt angenehm."

    In Krisengebieten erleichtert die Faszination für Gewalt sogar die Anpassung an die gewalttätige Umgebung. Denn während die, die der ausgeübten Aggression nichts Positives abgewinnen können, später unter schweren traumatischen Belastungen leiden, verspüren jene, die dabei Lust empfinden, kaum psychische Spätfolgen.

    Maggie Schauer: "Da haben wir schon in zwei Studien zeigen können, dass sowohl in den Townships und auch bei diesen Tätern in Afrika, je mehr die gewaltbereit waren, umso weniger psychotraumatische Symptome. Das heißt es gibt so nen protektiven Faktor, wenn Sie mal umschalten von Angst auf Spaß am Kämpfen, dann sind Sie geschützter. Aber dann können Sie in der Normalgesellschaft nicht überleben."

    Doch neben der Gewaltbereitschaft gibt es – evolutionär verankert – auch noch eine andere – soziale – Seite des Menschen. Denn der Mensch braucht die eigene Gruppe, um zu überleben. Ein solidarisches Miteinander ist also existenziell. Und moralische Regeln dienen dazu, den Menschen zu zivilisieren. In intakten sozialen und familiären Verhältnissen bewegt sich der Mensch im Gleichgewicht zwischen seiner biologischen Veranlagung, grausames Verhalten abrufen zu können und sozial gelernten Hemmungen, die den Abruf kontrollieren. Es ist also, wie Maggie Schauer ausführt, eine Frage der Umwelt und der Sozialisation, die Menschen in Frieden miteinander leben lässt:

    "Es gibt sehr viel mehr Belege dafür, dass der Mensch ein soziales Wesen ist. Und wenn ich erlaube, dass es ein gewisses Staatssystem gibt und Unrecht verfolgt wird und ne gute Sozialisierung da ist, dann gibt's keinen Grund, anzunehmen, dass wir uns alle aus Lust an der Freude umbringen würden. Wenn in einem gewaltvollen Umfeld die Mutter schwanger ist, mit dem Kind ein hohes Stresshormon ausschüttet, das Kind in diesen Kontext kommt. Und dann noch die Gesellschaft vernachlässigt, ihm ne gute Sozialisierung zu geben, dann hab ich nen Menschen, der angepasst ist auf maximale Bedrohung und der wird sich auch verteidigen."