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Wenn die Skyline New Yorks als Onaniervorlage dient

Michael Fassbender spielt in 'Shame' einen Geschäftsmann, der sexsüchtig ist. Neben zwanghafter Selbstbefriedigung zu jeder Zeit, an jedem Ort, fehlt es ihm auch nicht an Gespielinnen. Die einzige Frau, für die er keine erotischen Gefühle, aber Liebe hegt, ist seine Schwester.

Von Josef Schnelle | 01.03.2012
    Wo auch immer der smarte New Yorker Geschäftsmann Brandon sich befindet, er versucht Sex zu haben. Schnellen, fast brutalen Sex. Er ist ein großer Verführer. Selbst beim kurzen Trip in der U-Bahn starrt er mit seinem magischen Blick eine junge Frau an, bis das Augenspiel bei ihr offenbar eindeutige Fantasien auslöst. Um sich zu schützen, schlägt sie die Beine übereinander. Danach verlässt sie fluchtartig den Zug. Brandon hastet ihr hinterher, verliert sie aber im Getümmel. Ganz kurz steht er unschlüssig herum und geht dann wieder die Treppe hinunter in den Abgrund der U-Bahnhöhle. Diese Szene enthält irgendwie den ganzen Film. Brandon ist ein Getriebener. Er kennt die Regeln der Verführung, kann aber doch seinem Grundgefühl nur vorübergehend entkommen: seiner Verzweiflung. "Shame" ist ein Film über die Einsamkeit. Und über das kalte Licht der Nächte der Großstadt. Natürlich helfen Brandon die routiniert realisierten sexuellen Abenteuer mit Frauen, die er eigentlich nur als Sexobjekte sieht und deswegen verachtet, nicht weiter. Beim Treffen mit einer Kollegin, die er wirklich mag und die eine Beziehungspartnerin sein könnte, stellt er sich denn auch ausgesprochen tapsig an.

    "Ich versteh den Sinn nicht."

    "Von Beziehungen?"

    "Kommt mir unrealistisch vor: ein Mensch für den Rest deines Lebens? Ich meine: Man kommt in Restaurants und sieht dort Paare miteinander sitzen und die reden nicht miteinander. Sie haben sich nichts zu sagen."

    "Vielleicht sprechen die nicht miteinander, weil sie sich auch so verstehen." - "Oder sie langweilen sich."


    Wenn Brandon seinen Laptop aufklappt, meldet sich eine Sexhotline. Sein Rechner in der Firma ist pornografisch tief durchseucht. Wenn er einmal eine Frau nicht rumkriegt, ruft er gleich ein paar Callgirls an. Und selbst die Skyline von New York genügt ihm als Onaniervorlage. Der Konzeptkünstler und Regisseur Steve McQueen hatte mit seinem Film "Hunger" über den Hungerstreik des IRA-Terroristen Bobby Sands in seinem Debütfilm 2008 schon einmal einen sehr körperbetonten und radikalen Film mit seinem Hauptdarsteller Michael Fassbender vorgelegt. Mit "Shame" erweist er sich als legitimer Nachfolger des italienischen Meisterregisseurs Michelangelo Antonioni als Chronist der Entfremdung des modernen Menschen. Brandon hat ein Geheimnis, das der Film nicht verrät. Seine Verzweiflung wird nicht psychologisiert oder begründet. Vielleicht ist es das, was die Frauen gerade so an ihm anzieht. Und wenn die Kamera sein Gesicht in Großaufnahme beim Orgasmus zeigt, dann ist da keine Lust, keine Spur von Erlösung zu sehen, nur unendlicher seelischer Schmerz. Große mimische Schauspielkunst von Michael Fassbender. Etwas erfahren wir dann doch noch über Brandon: Er liebt seine jüngere Schwester Sissy. Er liebt sie wirklich ohne jeden sexuellen Unterton. Als er sie zum ersten Mal in diesem Film trifft, duscht sie gerade in seiner Wohnung. Immer wieder drängt er ihr ein Handtuch auf, mit dem sie ihre Blöße bedecken soll. Doch sie wirft es ihm immer achtlos um die Ohren. Er soll ihre Nacktheit einmal nicht als sexuelles Signal begreifen, sondern als Zeichen von Vertrautheit und Vertrauen. Die Wende in diesem Film. Irgendwann hat Brandon Sissy Zweitschlüssel zu seiner Wohnung gegeben. Und nicht damit gerechnet, dass sie eines Tages auftauchen wird und sein Leben durcheinanderwirbelt. Und in einer Bar singt sie die melancholischste Variante von Frank Sinatras Hymne auf New York, wo man es - was auch immer - schaffen kann und muss. Brandon muss sich geschlagen geben. Der toughe Großstadttyp kann die Tränen nicht zurückhalten.

    Diese Szene wird den Kreischfaktor auf den roten Teppichen der Welt noch verstärken, wenn Michael Fassbender auftritt. Ein Mann, der weint, hat mehr als einen Schlüssel zu den Herzen der Frauen. Filmcharakter Brendan muss aber in diesem stilsicheren und furchtlosen, teilweise auch drastischen Film noch mehr lernen. Das Schlüsselwort heißt: Empathie.

    "Du bist mein Bruder. Ich bin Deine Schwester. Wir sind eine Familie. Wir müssen aufeinander aufpassen."

    "Du passt nicht auf mich auf. Ich passe selbst auf mich auf."

    "Ich versuchs. Ich versuche Dir zu helfen."