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Wenn es Mama nur per Mausklick gibt

Die Idee zu der Erzählsammlung "Skype Mama" entstand 2011 auf der Leipziger Buchmesse, inspiriert von den Ergebnissen eines ukrainischen Literaturwettbewerbs für Kinder: Sie erzählten in ihren Texten von Verzweiflung über die Abwesenheit der im Ausland arbeitenden Eltern.

Von Brigitte van Kann | 30.09.2013
    Der Titel könnte nicht besser gewählt sein: "Skype Mama" – so heißt auch eine der elf Erzählungen renommierter Autorinnen und Autoren aus der Ukraine, die in diesem schmalen broschierten Bändchen versammelt sind. Allesamt handeln sie vom Schicksal ukrainischer Arbeitsmigranten und von ihren zurückgebliebenen Kindern. Etwa fünf Millionen Ukrainer verdingen sich im Ausland – aus purer Not und Mangel an Arbeitsplätzen, aus dem Bedürfnis, den eigenen Kindern ein besseres Leben zu bieten, ihnen ein Haus oder eine Wohnung zu hinterlassen und eine Ausbildung zu finanzieren.

    Sie "Gastarbeiter" zu nennen, wäre ein Euphemismus. Schätzungsweise ein Drittel von ihnen lebt und arbeitet illegal in der Fremde, das heißt, vollkommen rechtlos und ausbeutbar, in ständiger Angst und Gefahr. Viele der ukrainischen Arbeitsmigranten sind Frauen, die ihre Kinder in der Obhut überforderter Großeltern zurücklassen.

    In der Titelgeschichte sehnt sich der viereinhalbjährige Maksym nach seiner Mutter, die er erst vermisst, seit er im Kindergarten erlebt hat, dass seine Spielkameraden Mütter haben. Seine Mutter hat die Familie verlassen, als Maksym sechs Monate alt war. Seither hat niemand mehr etwas von ihr gehört. Als sein Vater mit seiner alten Bekannten Sofia in München skypt, glaubt der Junge, es handele sich um seine Mutter. Notgedrungen spielen der Vater und die fremde Frau das Spiel mit. Nur die bärbeißige Tante, die sich um den Haushalt kümmert, setzt alles daran, dass die richtige Mutter gefunden wird – für sie ist sie eine "verantwortungslose Schlampe", die noch nicht einmal Geld für den Jungen schickt. In jähem Wechsel erlebt Maksym Hoffnung und Verzweiflung.

    Mehrere der hier versammelten Schriftsteller sind Kinderbuchautoren. Überdies legt die Materie es nahe, die Geschichten aus kindlicher Sicht zu erzählen. Dass damit der Stil einer Erzählung insgesamt zu schlicht gerät, ist eine Gefahr, der nicht alle Autoren des Bands entgehen.

    Sehr eindringlich hingegen ist ein Auszug aus dem Roman "Frau Müller hat nicht die Absicht, mehr zu bezahlen" von Natalka Sniadanko, erzählt aus der Perspektive der Arbeitsmigrantin Chrystyna, die früher Musiklehrerin war und nun in privaten Haushalten in Deutschland putzt und – ob sie will oder nicht – tiefe, meist abstoßende Einblicke in das Leben ihrer Kundschaft gewinnt. Dabei bleibt Chrystynas Geschichte aber nicht stehen: Der Leser erlebt eine Frau, die versucht, sich die schwere, unangenehme Arbeit mit Hilfe ihrer Imagination zu erleichtern, die sich allmählich zur Konsumverweigerung erzieht und um ihre innere Freiheit in einer Welt ringt, wo ihr das Leben im Vergleich zu ihrer Heimat leichter und zugleich so viel schwerer erscheint.

    Sehr bewegend und in eine klassische Rahmenerzählung gesetzt ist die Geschichte eines ehemaligen illegalen Arbeitsmigranten, die er einem Zufallsbekannten in einer Bahnhofsgaststätte erzählt: Nach einer Odyssee durch halb Europa ist er hoch verschuldet und mit angeschlagener Gesundheit zu Frau und Kind zurückgekehrt und fest entschlossen, gerichtlich gegen die betrügerischen Landsleute, die ihn ins Unglück lockten, vorzugehen. Der Zuhörer nennt den Mann für sich "Stepan im Glück", denn er ist ja wieder zu Hause und seine Familie hält zu ihm. Als er sich zwei Jahre später nach Stepans Schicksal erkundigt, erfährt er: Stepan sitzt im Gefängnis, denn er hat seinen Prozess verloren und Selbstjustiz verübt, indem er dem Chef der Schleuserbande, einem Milizoberst, das Gesicht mit Säure verätzte.

    Von der Verrohung und Verwahrlosung allein gelassener Kinder, die sich zu Banden zusammenschließen und ihre Umgebung terrorisieren, handelt die herausragende Geschichte "Kinderland" von Tanja Maljartschuk. In harter, glasklarer Prosa schildert die Autorin den Rausch der Freiheit, die Ganovengesetze, die Faszination der Gewalt – mit einem Wort: eine kindliche Keimzelle organisierter Kriminalität.

    Andere Erzählungen, in denen es um das Leid und die Sehnsucht der Kinder nach ihren Müttern geht, wirken in der Massierung von Unglück und Dramatik ein wenig gleichförmig und drohen sich in ihrer Wirkung gegenseitig aufzuheben:

    Da erhängt sich eine Mutter nach ihrer Rückkehr aus dem Westen an der eigenen Bluse im Wald, daraufhin begeht der Vater Selbstmord, indem er die Kirche in Brand steckt und in den Flammen stirbt.
    Da lebt ein kleines Mädchen jahrelang bei einer deutschen Pflegemutter, während die richtige Mutter nebenan der Prostitution nachgeht und schließlich tot aus der Wohnung getragen wird. "Unsichtbar" heißt die Erzählung, nach dem Skype-Modus, in dem das Kind die nächsten acht Jahre mit der vermeintlichen Mutter kommuniziert. Es ist die Pflegemutter, die in einem anderen Zimmer sitzt und versucht, ihm elektronisch die Illusion einer liebenden Mutter geben.

    Da ist der Junge, der sich so nach der verschollenen Mutter sehnt und just in dem Augenblick, in dem sie blass und krank mit einem riesigen Rollkoffer in den Hof tritt, aus dem Kirschbaum fällt.
    Viel hilft eben in der Regel nicht viel, besonders nicht in der Literatur. Außerdem zeigt sich hier das Problem von Erzählbänden zu einem eng gefassten Thema: die Gefahr, dass der Leser des sehr berechtigten Anliegens der Herausgeber, dieses für viele Menschen in Europa brennenden Problems etwas überdrüssig werden könnte.

    So ergeht es in einer der Geschichten auch einem Journalisten, der für das Blättchen einer Bäckerei-Kette über interessante menschliche Schicksale schreibt: "Die Geschichte war nichts für eine Doppelseite. Und das nicht, weil sie banal war, sondern weil es davon Hunderte oder Tausende gibt. Und mehr als zehn habe ich schon gehört, während ich in Flip-Flops Brot holen ging. Die habe ich alle gebracht und dabei am Thema Gastarbeiter das Interesse verloren."

    Dennoch muss das Fazit lauten: "Skype Mama" ist ein wichtiges, im wahrsten Sinne des Wortes "lesenswertes" Buch. Wer es liest, für den bleibt der Begriff "Arbeitsmigration" nicht länger abstrakt: Er sieht mit einem Mal die Menschen, die dahinter stehen.

    Besprochen von Brigitte van Kann.

    Kati Brunner, Marjana Sawka und Sofia Onufriev (Hrsg.): "Skype Mama. Erzählungen aus der Ukraine", Edition.fotoTAPETA, Berlin 2013, 150 Seiten.