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Wenn Forscher kalte Füße kriegen

Manchmal ziehen Wissenschaftsjournale Artikel rückwirkend wieder zurück. Die Texte sind damit ungültig. Zur Begründung erscheinen meistens nur ein paar lapidare Sätze über den Fakt an sich, selten aber Details. Amerikanische Forscher haben über 2000 solcher Rückzüge von Wissenschaftsartikeln unter die Lupe genommen.

Von Sabine Goldhahn | 02.10.2012
    Datenfälschung – Laborbücher verloren – Patienten erfunden – Werte geschönt – Nicht reproduzierbare Ergebnisse – Fehlinterpretation

    "Wir waren erstaunt über das, was wir entdeckt haben. Eigentlich dachten wir, dass die meisten Wissenschaftsartikel wegen Irrtümern widerrufen werden. Deshalb wollten wir eine Liste dieser Irrtümer aufstellen, um dann einen Artikel zu schreiben, wie man solche Fehler vermeiden kann. Vielleicht mit Checklisten oder solchen Dingen. Doch über das Ergebnis unserer Analyse waren wir wirklich überrascht."

    Arturo Casadevall, Mikrobiologe am New Yorker Albert-Einstein-College, hatte bei seiner Literatursuche eigentlich etwas Gutes im Sinn. Als Mitherausgeber verschiedener Fachzeitschriften wunderte er sich, wie viele Artikel in den letzten Jahren zurückgezogen worden waren. Doch mit dem, was er und seine Kollegen fanden, hatte keiner gerechnet: Von 2047 wissenschaftlichen Artikeln aus dem Gebiet der Biomedizin, die in der Literaturdatenbank Pubmed seit 1973 als "Widerruf" gemeldet sind, waren nur etwas mehr als ein Fünftel auf einen "echten" Fehler oder Irrtum zurückzuführen. Zwei Drittel hingegen waren wissenschaftliches Fehlverhalten: Betrug, mehrfache Veröffentlichung derselben Ergebnisse oder Abschreiben. Casadevall:

    "Wenn ein Artikel widerrufen wird, erscheint eine kurze Meldung in derselben Zeitschrift. Doch diese Meldungen sind nicht immer korrekt, meistens sagen die Leute nur "wir konnten die Ergebnisse nicht wiederholen". Wenn man dann aber in anderen Quellen sucht wie dem Büro für Forschungsintegrität in den USA, in Zeitungsartikeln oder auf der Webseite von Retraction Watch, erkennt man, dass die Artikel nicht wegen eines Versehens widerrufen wurden, sondern wegen wissenschaftlichen Fehlverhaltens."

    Die Liste der fehlbaren Forscher ist international und durchzieht alle Sparten der Biomedizin: Falsche Ergebnisse aus Tierversuchen, erfundene Patienten, frisierte Laborwerte. Amerikanische Forscher haben am meisten betrogen. Doch Deutschland steht beim Betrug auf Platz zwei, gefolgt von China und Japan. Länder mit langer Forschungstradition, die bahnbrechende Entdeckungen und Nobelpreisträger hervorgebracht haben. Hinzu kommt, dass die meisten widerrufenen Publikationen hochrangigen Wissenschaftsjournalen entstammen. Allein 70 Artikel aus der Zeitschrift "Science", 32 davon wegen Betrugs. Insgesamt wird zwar nur eine von 24.000 Arbeiten zurückgezogen, doch irgendetwas läuft falsch in der Wissenschaft, meint Ferric Fang, der die Widerrufe gemeinsam mit Casadevall analysiert hat:

    "Heutzutage haben wir eine Wissenschaftskultur, wo es nur darum geht, ob jemand in diesen hochrangigen Fachzeitschriften publiziert. Das hat entscheidenden Einfluss auf das Ansehen, oder wenn es um die Beschaffung von Fördermitteln oder Bewerbungen auf akademische Stellen geht. Somit wird ein Anreiz geschaffen, dass die Leute alles tun, um einen Artikel in so einem Journal unterzubringen."

    Doch wie kann man das verhindern? Mehr Forschungsgelder bereitstellen, sagt Fang. Oder einfach den Anreiz wegnehmen und Forscher an anderen Dingen messen als an der Zahl ihrer Artikel in renommierten Fachzeitschriften. Oder das Fehlverhalten analysieren und publik machen. Diesen Weg verfolgt die Internetplattform Retraction Watch. In ihrem Blog beschreiben der Medizinjournalist Ivan Oransky und sein Kollege akribisch die einzelnen Betrugsfälle; sie nehmen Kontakt mit den Forschern auf und mit den Hochschulen. Auch deutsche Institute sind dabei.

    "Wir hatten das Gefühl, dass solche Widerrufe von vielen Fachzeitschriften, Forschern und Institutionen unter den Teppich gekehrt werden. Daher wollten wir die Sache als Reporter angehen, und schauen, ob Betrugsfälle in der Forschung wirklich immer ans Licht kommen. Manchmal bekommen wir Antworten auf unsere Fragen, wenngleich wir nicht wissen, ob wir wirklich alle Informationen erhalten. Mit den deutschen Universitäten arbeiten wir gut zusammen und einige haben schon Verfahrensgrundsätze für solche Fälle ausgearbeitet. Generell nehmen sie es sehr ernst."

    Um wissenschaftlicher Unredlichkeit vorzubeugen, setzen sowohl die Deutsche Forschungsgemeinschaft als auch die Universitäten auf Aufklärung: Es gibt Ombudsstellen sowie Kurse über Ethik in der Forschung und gute wissenschaftliche Praxis. Damit die Wissenschaft auch langfristig keinen Schaden nimmt.