Samstag, 20. April 2024

Archiv


Wenn Gletscher sich lösen

Weit oben im Norden tut sich etwas. Grönland ist die größte Insel der Welt, rund sechsmal so groß wie Deutschland, mit gerade 56.000 Einwohnern in den eisfreien Küstenregionen.

Von Marc-Christoph Wagner; Redakteurin am Mikrofon: Britta Fecke | 16.02.2008
    Die Grönländer wollen vollständig Herr werden im eigenen Haus und hoffen auf das große Los in Form von Öl und Bodenschätzen vor den heimischen Küsten. Die Tage der außenpolitischen Abhängigkeit von Dänemark scheinen gezählt.

    Aber Grönland hat Probleme: Die Mord- und Selbstmordrate gehört zu den höchsten der Welt. Armut, Alkoholprobleme und vernachlässigte Kinder deuten auf ein schweres koloniales Erbe. Kalaallit Nunaat, das Land der Menschen, als das die einheimische Bevölkerung Grönland bezeichnet, steht vor enormen Herausforderungen - auch jenseits von Klimawandel und Gletscherschmelze.

    Eis und Ewigkeit, darüber gleißendes Licht oder winterwährende Nacht. Wenn der Wind vom Meer her weht, dann geht er ungebremst über die weiße Weite Grönlands. Kalaallit Nunaat, Land der Menschen, nennen die Grönländer ihre Insel, doch den ungezügelten Elementen setzen sich nur wenige dauerhaft aus. Den ungezügelten Elementen setzen sich nicht viele Menschen dauerhaft aus. Nur knapp 57.000 Einwohner leben auf der arktischen Insel. Fast alle sind Nachfahren der Inuit-Völker, die von Kanada aus Grönland besiedelten. Lange Zeit lebten die Inuit weitgehend unbehelligt vom Rest der Welt.

    Auch heute erreicht man sie noch nicht so leicht - und am besten aus der Luft, denn die See ist oft zugefroren und das Land zu 4/5 von Eis bedeckt. Wer kann, kommt mit dem Hubschrauber:



    Die große weite Weiße aus der Luft
    " Aufgrund des Wetters gibt es keine zwei Tage, die einander gleichen. Das Leben in der Arktis ist hart. Es gibt keine Bäume, nur Felsen, weite Ebenen, offenes Wasser. Hier bestimmt die Natur den Gang der Dinge. Da draußen kann man nirgendwo Schutz suchen. Die Elemente haben freies Spiel. "

    Qaarsut an der Westküste Grönlands, cirka 600 Kilometer nördlich des Polarkreises. Eine Landebahn auf einem Felsvorsprung, unten am Meer einige Holzhäuser - der Ort Qaarsut ist ebenso karg wie die Landschaft um ihn herum. Knapp sechs Stunden hat der Flug von der Hauptstadt Nuuk im Südwesten Grönlands hierher gedauert, dreier Zwischenlandungen inklusive. Pilot Martin Nørgaard hat die Starterlaubnis erhalten. Mit dem Hubschrauber geht es nach Uummannaq auf die andere Seite der Bucht:
    " Das ist einer der Gründe, warum ich hier arbeite. Die Natur hier ist einzigartig. Ich könnte mehr Geld verdienen, würde ich in der Nordsee zu den Ölplattformen fliegen. Aber diese Eindrücke hier, die kann mir niemand bezahlen - da verzichte ich gerne auf etwas Gehalt. "

    " Im Moment fliegen wir über das Meer, das hier 600 Meter tief ist. Rechts und links sind steile Felsen, nahezu 1000 Meter hoch, die senkrecht ins Wasser fallen und an den Seiten wie mit Puderzucker bestreut sind. Oben drauf liegt eine dicke Schneeschicht. Man sieht, wie der Wind den Schnee über die Kanten fegt - wie weiße Fahnen, die da in der Luft stehen. Und dann ist da die tief stehende Sonne zu dieser Jahreszeit, die dem Himmel diese rosaroten Farben verleiht. "

    Zehn Minuten später ist Uummannaq erreicht - ein 1300-Seelen-Ort, dessen bunte Holzhäuser sich den Hang hinauf erstrecken. Die Boote im Hafen sind von einer dicken Eisschicht umschlungen. Auf der Bucht sind einige Schneescooter und Fischer mit ihren Schlittengespannen zu sehen - dunkle Punkte auf dem riesigen Weiß. Martin Nørgaard zieht den Pilotenhelm vom Kopf:
    " Es ist rau hier oben, die Natur verzeiht keine Fehler. Seien Sie vorsichtig, gehen Sie nicht alleine da raus. Es hat Fälle schon Fälle gegeben, wo wir Leute fünf Tage lang gesucht haben, obwohl sie nur 10 Kilometer vom Ort entfernt waren. Sie hatten die Orientierung verloren und waren in die falsche Richtung gegangen. Fünf Tage lang haben sie sich nur von Beeren ernährt - unglaublich, dass sie überlebt haben. "



    Wer ein dickes Fell hat oder eine Speckschicht unter der Haut, dessen Tisch ist in den arktischen Gefilden reich gedeckt, in dem kalten, sauerstoffreichen Wasser tummeln sich Fische und Krill zu Hauf, sie bilden die Nahrungsgrundlage für Minkwale, Buckelwale, Schwert- und Narwale, für verschiedene Robbenarten und Walrösser. Auch auf dem Eis bzw. dem Land leben große Säuger, wie Eisbären, Moschusochsen und Rentiere.

    Lange Zeit bestimmte das Leben der Inuit ausschließlich die Jagd. Doch inzwischen schmelzen ihnen die Jagdgründe gewissermaßen unter den Füßen weg: Grönlands Eisdecke wird immer dünner und das noch schneller als Klimaexperten lange Zeit prognostizierten. Seit 2004 schmilzt jährlich dreimal soviel Eis ab als in den Jahren zuvor. Noch ist der grönländische Eispanzer der zweitgrößte der Welt, wenn er weiter so schwitzt und komplett abschmelzen würde, könnte der Meeresspiegel, nach Berechnung der Wissenschafter des Weltklimarats, um sechseinhalb Meter ansteigen.

    Vor zehn Jahren waren die Fjorde ab Oktober gefroren, doch jetzt müssen die Jäger schon auf den Januar warten bis die Scholle den Schlitten wieder trägt:


    Mit dem Schlitten auf die Jagd
    Hans Grønvold präpariert den Schlitten, legt drei Rentierfelle auf die Sitzfläche. Dazu einen Eisstecher. Eine Thermoskanne mit Tee. Eine große Tasche mit allem Möglichen. Und ein Gewehr - für alle Fälle. Die Hunde laufen an ihren Ketten hin und her:
    Wenn sie mich sehen, dann wissen sie, es geht bald los. Dann verrichten sie schnell noch ihr Geschäft und sind bereit. Sie sind am liebsten draußen auf dem Eis.

    Hans Grønvold ist Mitte 50, sein Gesicht von Wind und Wetter gezeichnet. Die Bucht von Uummannaq kennt er wie seine eigene Westentasche. Grønvold ist hier geboren und hat fast sein ganzes Leben in dem 1300-Seelen-Dorf gelebt. Wann immer er kann, fährt er zum Fischen raus aufs Wasser.
    " Für uns hier im Norden ist ein guter Winter einer mit einer dicken Eisdecke - dann können wir fischen und jagen. Im Süden Grönlands ist das anders. Da wollen sie eisfreie Gewässer, damit die Versorgungsschiffe anlegen können. "

    Es geht hinaus in die Bucht. Nahezu lautlos rennen die vierzehn Hunde vor dem Schlitten - vorbei an Eisbergen, die sich aus der Tiefe des Meeres erheben und die weiße Fläche von unten durchstechen. Nur selten muss Hans Grønvold den Kurs durch Rufen oder mit der Peitsche korrigieren. Um diese Jahreszeit schafft es die Sonne noch nicht über die Gipfel der Berge. Um so schärfer deren Konturen vor dem eisig-klaren Blau des Himmels.

    " Die kräftigen Stürme haben zugenommen. Sie kommen jetzt sehr oft und sind unberechenbar. Früher gab es ein oder zwei pro Jahr. Die Meeresströmung ist in den letzten Jahren kräftiger geworden und das bringt die Stürme mit sich. Manchmal kommen sie wie aus dem Nichts, und dann mehrere Male hintereinander. Früher war das anders. Da gab es mal einen Sturm, dann war es lange Zeit ruhig, und dann kam mal wieder einer - aber längst nicht so stark wie heute. "

    " Und noch etwas ist mir aufgefallen. Die Schneegrenze an den Felsen, die anzeigt, wo die warme Meeres- und die Kaltluft aufeinander treffen, hat sich nach oben verschoben. Und oben auf den Felsen schmilzt das ewige Eis. Vor fünfzehn Jahren standen unsere Kinder da oben selbst im Sommer auf Skiern. Heute ist dort nur noch eine dünne Eisdecke mit viel Geröll. Und im Sommer schmilzt der Schnee ganz. "

    Auch die Bucht friere nicht mehr regelmäßig zu, erzählt Hans Grønvold. Das Eis komme später und sei längst nicht so dick wie in früheren Jahren. Wind und Wellen rissen es immer wieder auf. An einen permanenten Klimawandel aber glaubt Grønvold nicht:

    " Temperaturschwankungen hat es immer wieder gegeben. Das Klima folgt Zyklen, das ist normal. Als ich Kind war, war es wärmer, in ganz Grönland war es wärmer als heute. Ich mache mir da keine Sorgen. "

    In der Mitte der Bucht stößt Grønvold ein Loch ins Eis. Sein Gesicht ist rot von der Kälte, in seiner weißen Bärenfellhose fängt sich der Wind. Einige Meter entfernt ruhen die Hunde dicht ineinander verschlungen.

    Hans Grønvold präpariert die Langleine - eine Schnur mit 70 Haken, an denen er kleine Fische aufspießt. Mehr Sorgen als das Klima bereitet ihm die Menschen in der Region. Früher hätten hier alle vom Fang und von der Jagd gelebt. Heute gebe es Quoten und Restriktionen, die sich Politiker und Bürokraten an ihren Schreibtischen in Nuuk und Brüssel ausdächten. Der Walfang sei inzwischen nahezu verboten, auch mit Robben ließe sich kein Geld verdienen - den Umweltorganisationen und Tierschützern sei Dank:
    " Es ist, als ob man bei den Tieren hier von Menschen redet und nicht von Fangtieren. Ich möchte gar nicht davon sprechen, wie die Europäer miteinander und mit ihren Tieren umgehen, aber wenn man Fische und Wale quasi zu Haustieren macht, dann können wir hier nicht überleben. Wir leben vom Fischfang und der Jagd. Natürlich soll man es nicht übertreiben, aber das wissen wir doch selbst. "

    Hans Grønvold lässt die Langleine ins Wasser, die Strömung unter dem Eis ist kräftig. Wenn er Glück hat, zieht er sie morgen hoch mit 100 kg Heilbutt an den Haken. Ein schneller Schluck Tee, ein kleiner Keks, dann packt er seine Sachen zusammen. Das hier ist mein Leben, sagt er fröhlich - wohl wissend, dass viele sein Leben heute nicht mehr teilen wollen. Auch seine beide Kinder leben inzwischen in Nuuk:

    " Die Jugend möchte das nicht mehr. Ich selbst bin mit sieben Jahren alleine rausgefahren - zum Fischen mit dem Hundeschlitten. Heute wissen die Siebenjährigen nicht einmal mehr, wie man die Hunde anspannt. "


    1721 wurde Grönland eine dänische Kolonie. Heute ist die dänische Königin zwar noch das Staatsoberhaupt, aber seit 1979 verwaltet sich Grönland weitgehend selbst. Nur die Außen- und Verteidigungspolitik wird noch durch die dänische Regierung wahrgenommen.

    Das koloniale Erbe, der Einfluss des Königreichs ist aber immer noch präsent: Die Dänen haben das Christentum und den industriellen Fortschritt nach Grönland gebracht, auch Schulen, Krankenhäuser und Altenheime wurden aufgebaut, und damit gleichzeitig der traditionelle Lebensstil vieler Grönländer untergraben.

    Denn wo sich früher die Familie oder die Dorfgemeinschaft um Kinder und Großeltern kümmerten, sitzen jung und alt heute in Kindergärten bzw. Altenheimen - Institutionen des dänischen Wohlfahrtsstaats.

    Im November und Dezember geht die Sonne über Grönland gar nicht auf. Das Leben in monatelanger Nacht mag ein Grund sein für Alkoholmissbrauch und die hohe Zahl an Selbstmördern. Doch ob dunkel oder nicht; fremdbestimmten Völkern - wie auch den Indianern oder Aborigines - scheint weltweit ein Schicksal gemein: sie müssen mit einer nationalen Identitätskrise leben. Viele scheitern daran:



    Die Verlierer des Umbruchs - das Kinderheim
    Vor dem Fenster des Gemeinschaftsraumes trocknet die saubere Wäsche im Wind. Draußen wird es allmählich dunkel. Nur am Horizont hinter den Bergen leuchtet der Himmel in polar-klaren Farben - von Rosa über Orange und Gelb, bis hin zu Lindgrün und einem frostigen, hellen Blau. Am Klavier spielt ein 14jähriger Junge weltvergessen vor sich hin.

    Hinter dem Jungen füllt sich der Raum mit anderen Jugendlichen, die nach Hause kommen - aus der Schule, vom Sport oder von der Arbeit, einige waren mit Hundeschlitten auf dem Eis. In der Küche stehen zwei Mädchen in T-Shirts, engen Jeans, ihren Handys stets in Reichweite - sie kochen Milchreis. Ein nachmittäglicher Imbiss für alle, die wollen. Eine Idylle - jedoch nur auf den ersten Blick. Die Biografien der Kinder hier haben mehr gemein mit dem Schwarzblau des Himmels als mit den leuchtenden Farben des Horizonts.

    Rebecka Jørgensen arbeitet seit 1991als Sozialpädagogin im Kinderheim von Uummannaq. Die Jahre sind nicht spurlos an ihr vorübergegangen - die Figur schmächtig, die Wangen hohl, alle Viertelstunde geht die 52jährige raus, um einige Züge zu rauchen. Rebecka weiß um die Schattenseiten Grönlands: Kinder, deren Eltern oder Geschwister sich das Leben nahmen, Jugendliche, die dies selbst versuchten, die geschlagen oder sexuell missbraucht wurden. In den meisten Fällen spielt Alkohol eine Rolle.
    " Warum trinken die Leute? Das hat eine Ursache. Sie entfliehen der Wirklichkeit, flüchten vor ihrem eigenen Leben - ob sie nun trinken oder sich auf andere Art berauschen. Alkohol ist nur ein Symptom. "

    Rebecka Jørgensen führt durchs Haus, aus dem ein oder anderen Zimmer schallt Musik, bei vielen Jungs hängen Poster von Fußballspielern an den Schränken, bei den Mädchen Schauspieler und Popstars. 30 Kinder, erzählt Rebecka, leben hier im Heim - die jüngsten sind kein Jahr alt, die ältesten Mitte 20.

    " Als ich klein war, da hat sich die ganze Dorfgemeinschaft um ein Kind gekümmert - wenn die Eltern nicht da waren, dann gab es Großeltern, Nachbarn. Heute sitzen die Alten in Altersheimen und die Familien leben isoliert, jeder kümmert sich nur noch um sich selbst. Der Gemeinschaftssinn - er ist auf der Strecke geblieben. "

    Die Veränderungen gehen zu schnell, sagt Rebecka. Binnen der letzten 50 Jahre habe sich Grönland von einer Stammes- in eine moderne Gesellschaft gewandelt - Veränderungen, für die Europa mehrere Generationen gebraucht habe. In den Küstendörfern könnten die Menschen heute kaum noch vom Fang und der Jagd leben. Viele zögen in die Städte - ohne Ausbildung, ohne Arbeit, in Wohnblöcken lebend fern ihrer Kultur. Darüber hinaus fehle es überall an geschultem Personal, das rechtzeitig eingreift und sich um die Familien kümmert:

    " Hier im Lande kann man sich lediglich zum Sozialpädagogen ausbilden. Wenn man studieren möchte, etwa Psychologie, dann muss man wegreisen, meistens nach Dänemark. Das kann nicht jeder. Je älter die Leute werden, um so schwieriger ist es, man kriegt Kinder, gründet eine Familie. Noch dazu ist es ja auch nicht ganz einfach, ein solches Studium in einer fremden Sprache zu absolvieren. "

    Im Heim kommt das Abendessen auf den Tisch - es gibt Lammbraten, Bouletten, gemischtes Gemüse. Rebecka sitzt am Ende eines langen Tisches, spricht leise mit den Kindern - reicht hier eine Gabel, dort ein Lächeln. Draußen noch immer die Wäsche im Wind. Vor einem inzwischen tiefschwarzen Himmel - mit leuchtenden Sternen.


    In den 60ger Jahren verlangte die grönländische Nationalbewegung immer vehementer nach Selbstverwaltung. Für besonderen Unmut sorgte ein Gesetz, nachdem Dänen bei gleicher Arbeit ein höherer Lohn zustehen sollte, als den Grönländern. Nach mehreren Abstimmungen, sprachen sich im Januar 1979 bei einer Volksabstimmung fast alle Grönländer für die Autonomie aus. Noch im selben Jahr erlangte die Insel endlich die Selbstverwaltung, mit eigenem Parlament und Regierung. Sechs Jahre später, 1985, trat Grönland - ebenfalls nach einer Volksabstimmung - aus der Europäischen Gemeinschaft aus, als bisher einziges Land. Zu groß war die Angst, die europäische Hochseeflotte könnte die Gewässer Grönlands leerfischen und die Rohstoffe des Festlandes plündern.

    In der Gemeinschaft mit Dänemark ist Grönland aber bis heute geblieben, denn Noch immer ist die größte Insel der Welt auf die finanzielle Unterstützung des Königreichs angewiesen. Jährlich überweist Kopenhagen rund 3,5 Mrd. dänische Kronen nach Nuuk, das sind fast 500 Millionen Euro.

    Auf die geringe Bevölkerungszahl der arktischen Insel runtergerechnet macht das einen Zuschuss von 8000 Euro pro Einwohner. Eine Unterstützung die das Selbstbewusstsein der Grönländer schmälert:



    Zwischen zwei Welten - Leben in Grönland, lernen in Dänemark
    Die Sporthalle von Nuuk. Winterjacken, Windhosen und Schals auf verstreut stehenden Stühlen. Auf dem Boden ein Wirrwarr von Kabeln. Ein Metallträger mit Scheinwerfern hängt halbhoch in der Luft. Helfer rennen hektisch umher. Auf der Bühne scherzen die Musiker. Auf der gegenüberliegenden Hallenseite grübeln drei Techniker. Einer von ihnen greift sich mit der rechten Hand an den Nacken und schüttelt den Kopf. Irgendetwas stimmt nicht mit dem Mischpult.

    Randi Broberg sitzt vor der Bühne, beobachtet das Geschehen - äußerlich ruhig, aber mit Sorgenfalten auf der Stirn. In wenigen Stunden wird sie auftreten. Das Konzert wird im staatlichen Fernsehen übertragen.

    " Klar bin ich nervös. Dieser Auftritt heute Abend ist mir sehr wichtig. Wenn ich singe, dann kommt etwas aus meinem Inneren heraus, dann bin ich ganz ich selbst und vergesse alles um mich herum. Musik bedeutet mit so viel. "

    Randi Broberg ist 29, geboren und aufgewachsen im kargen Norden Grönlands. Heute lebt sie in Kopenhagen und studiert an der dortigen Filmschule. Dokumentarfilmerin möchte sie werden, Sängerin bleiben:

    " Es fällt mir schwer, genau auszudrücken, was ich fühle - vor allem auf Dänisch. Auf Grönländisch ist das natürlich schon sehr viel leichter. Doch wenn ich singe, dann kann ich alles sagen, was ich möchte. Und ich denke, die Leute spüren das. "

    Das Mischpult ist repariert, die Probe vorbei, nun beginnt das Warten. Hinter der Halle stapft Randi durch den Schnee. Es weht ein kalter Wind, in der Dunkelheit flackern die Lichter der Stadt.

    Auf den ersten Blick würde man Randi nicht als Grönländerin erkennen - zu schmal ihr Gesicht, zu rund ihre dunkelbraunen Augen, ihr dickes Haar trägt sie in einem strengen Pferdeschwanz. Trotz ihres europäischen Aussehens fühlt sich Randi in Dänemark als Außenseiterin. Eine andere, fremde Welt ist das, sagt sie. Zu groß die innere Distanz. Wäre da nicht die Filmschule, Randi würde schon längst wieder auf Grönland leben:
    " An die Dänen kommt man nicht heran. Unsere Art, unser Humor, unsere Art zu denken sind völlig gegensätzlich. Wir Grönländer sind sehr viel bescheidener. Ich weiß nicht, ob das etwas mit der Kolonialzeit zu tun hat, aber wenn wir mit Dänen zusammen sind, dann fühlen wir uns gleich sehr viel kleiner, minderwertig. "

    " Über meine Kommilitonen an der Filmschule kann ich nichts Schlechtes sagen, da habe ich noch keine schlechten Erfahrungen gemacht. Wenn ich aber ausgehe oder mich außerhalb der Schule befinde, dann kommen all diese Vorurteile: Ihr Grönländer seid alle Alkoholiker, Ihr bringt nichts zustande - gerade auf Feten, wenn die Dänen etwas getrunken haben, hört man das immer wieder. "

    Die Halle füllt sich, in wenigen Minuten geht Randi auf die Bühne. Noch ein paar Stimmübungen, dann ein letztes Shakehands mit den Musikern. Randi ist nervös - das Lampenfieber, sagt sie. Minderwertigkeitsgefühle aber kennt sie hier in ihrer Heimat nicht. An diesem Abend ist Dänemark weit entfernt, an diesem Abend ist Randi unter Freunden.

    " Wir können beide voneinander lernen. Wir Grönländer können lernen, offener zu sein, über Gefühle zu sprechen, wie die Dänen das tun. Und die Dänen - sie können lernen, zuzuhören. "


    Der Klimawandel lässt Grönlands Gletscher schmelzen und bringt das Eis an den Küsten in Bewegung. In Bewegung sind inzwischen auch die Anrainerstaaten, denn anders als in der Antarktis sind die Verhältnisse in der Arktis noch nicht geklärt. Und die Erwärmung könnte bald den Zugang zu den Bodenschätzen erleichtern. Im Osten Grönlands wo das Eis besonders schnell zurückgeht, vermuten Experten die größten ungenutzten Ölreserven der Erde. Russland, Dänemark und auch die USA schickten nun Forschungs- und Vermessungsschiffe in die Arktis, um die Grenzen des grönländischen Schelfs zu ergründen.

    Nach internationalem Recht gehören die Bodenschätze im Kontinentalschelf den Staaten, die das zugehörige Festland kontrollieren. Das Seerechtsabkommen der Vereinten Nationen ermöglicht einem Staat zusätzliches Hoheitsrechte, wenn er beweisen kann, dass der eigene Festlandsockel mit dem Nordpol verbunden ist. Russland platzierte schon mal seine Fahne auf dem Meeresgrund, doch auch der dänisch-grönländischen Staatenbund ist im Ölfieber:


    Mit dem Klimawandel an die Bodenschätze - Grönland im Ölfieber
    Ein zweistöckiges Holzhaus über der Einfahrt zum Kolonialhafen von Nuuk. Äußerlich unterscheidet sich das Gebäude kaum von den anderen in der Straße. Hinter der grauen Holzfassade würde jeder Passant eine Familie mit Kindern vermuten. Neben der Eingangstür ein Schild aus Messing: NunaOil - Sitz der staatlichen Ölgesellschaft.
    Innen - ein kleiner Flur, rechts das Büro des Chefgeologen, links die Buch führende Sekretärin, von ihrem Büro abgehend das des Chefs, Hans Kristian Olsen, mit Blick aufs Wasser und die gegenüberliegende Landzunge. Bescheidene Verhältnisse für einen Unternehmenssitz, aber hier herrscht Pionierstimmung:

    " Bis heute hat es in Grönland erst sieben Bohrungen nach Öl gegeben. Als man seinerzeit begann, in der Nordsee nach Öl zu suchen, da bohrte man 50 Brunnen, ehe man fündig wurde. Und heute fließt das Öl aus tausenden Quellen. Was Grönland betrifft, so fängt die Suche nach Öl und Gas gerade erst an. "

    Hans Kristian Olsen führt in den ersten Stock, wenn er durch eine Tür geht, muss der schlanke 53jährige den Kopf einziehen. Oben zwei weitere Büros, ein Besprechungsraum, ein Badezimmer. Fünf Leute sind bei NunaOil beschäftigt. Derzeit sucht das Unternehmen einen weiteren Geologen. Wird man fündig, muss das Badezimmer umgebaut werden in ein Büro. Auch das nur eine mittelfristige Lösung, lächelt Hans Kristian Olsen. Auf Dauer werde man sehr viel mehr Leute einstellen und umziehen müssen. Auf Dauer will heißen - wenn die Ölquellen erst einmal sprudeln:

    " Nehmen Sie allein die Westküste Grönland. Das Gebiet ist vier bis fünf Mal so groß wie die Nordsee - und damit meine ich den deutschen, britischen, niederländischen, dänischen und norwegischen Teil zusammengenommen. Und das Gleiche gilt für den Nordosten Grönlands. Allein dieser Teil ist zwei bis drei Mal so groß wie die Nordsee. "

    Hans Kristian Olsen ist Geologe. In Dänemark hat er studiert und einige Jahre gearbeitet. 1992 kehrte der gebürtige Grönländer und Vater zweier Kinder in seine Heimat zurück - baute die Rohstoffbehörde mit auf, wurde 2005 zum Direktor von NunaOil ernannt - einem Unternehmen, das je zur Hälfte Grönland und Dänemark gehört. Mit Rohstoffen also kennt Olsen sich aus. Die Zukunft Grönlands sieht er vielversprechend:

    " In gewisser Weise merken wir den Druck vonseiten der Politiker. Aber wir Fachleute sind da sehr viel realistischer. In den letzten Jahren, wo die Suche nach Rohstoffen auch öffentlich diskutiert wird, sind viele Politiker der Meinung, man müsse nur ein einziges Loch bohren und die Quellen sprudelten. Dieses Projekt aber wird noch viel Zeit in Anspruch nehmen. Die Ölkonzerne, die gerade Bohrlizenzen erworben haben, operieren mit einem Zeithorizont von zehn bis fünfzehn Jahren. Erst dann ist eine Ölindustrie in Grönland realistisch. "

    Olsen legt eine große Karte auf den Tisch. Die von ihm angesprochenen Gebiete, für die Grönland Bohrlizenzen an Multis wie Exxon, Chevron, Husky vergeben hat, an denen NunaOil jeweils mit 12,5 Prozent beteiligt ist, liegen an der Westküste - genauer in der Disko-Bucht, direkt vor dem Gletscher, den u.a. die deutsche Kanzlerin im August 2007 besuchte, um den globalen Klimawandel mit eigenen Augen zu studieren.

    Ein natürlicher Zyklus, zuckt Olsen mit den Schultern, angesprochen auf den Klimawandel. Die Welt von heute komme ohne Öl und Gas nicht aus. Die Energiegewinnung aus erneuerbarer Quellen brauche Zeit. Durch den Verkauf von Öl und Gas könne Grönland wirtschaftlich endlich auf eigenen Beinen stehen.


    Die Aussicht die zu enormen Rohstoffressourcen erhöht die Chance, dass Grönland wie zuvor schon Norwegen durch die Ölförderung reich wird. und sich dann auch wirtschaftlich von Dänemark lösen kann. Das bedeutet aber auch - Grönland müsste im Gegenzug auf die jährliche Finanzspritze aus Kopenhagen verzichten und seine gesellschaftlichen Probleme allein bewältigen, darauf verweisen die dänischen Politiker allen voran die Dänische Volkspartei seit kurzem mit großem Nachdruck.

    In diesen Wochen verhandelt die grönländisch-dänische Kommission über eine vollständige Selbstverwaltung Grönlands. Im Herbst dieses Jahres sollen die Grönländer in einem Referendum über das Ergebnis abstimmen. In der Selbstverwaltung sehen vielen nur den ersten Schritt zur völligen Unabhängigkeit ihres Landes: Wenn es soweit kommt stehen die knapp 60.000 Einwohner des Landes vor einer enormen Kraftanstrengung. Doch noch sind die beiden Länder politisch verbunden, auch über die zwei direkt gewählten Abgeordneten, die Grönland im dänischen Parlament vertreten:


    Das dänische Parlament an einem Montagmorgen. Juliane Henningsen ist auf dem Weg in ihr Büro. Zunächst schaut sie bei der Poststelle vorbei.

    " Ich bin ja erst seit gut zwei Monaten hier und muss mich noch immer orientieren. Es ist ein großes, aber sehr schönes Gebäude. "

    Juliane Henningsen ist 23 Jahre jung - und eine von zwei grönländischen Abgeordneten im dänischen Parlament. Bei den vorgezogenen Parlamentswahlen im November 2007 wurde die Sozialistin ins Folketing gewählt, ihr Mandat im grönländischen Landsting lässt sie derzeit ruhen:
    " Noch gibt es sehr viele Bereiche, die wir Grönländer nicht selbst verwalten, die wir nur hier in Dänemark versuchen können, zu beeinflussen. Darüber hinaus repräsentiere ich die in Dänemark lebenden Grönländer. Ich finde, das ist eine wichtige Aufgabe. Die Grönländer erwarten viel von mir. "

    Juliane Henningsen legt ihre Jacke ab, in der Küche holt sie sich einen Kaffee, im Vorzimmer sitzen ihre beiden Referentinnen. An den Wänden ihres Büros Kunst aus der Sammlung des Parlaments. Auf dem Schreibtisch einige Bücher und Papierstapel, Julianes Laptop sowie eine Bahncard erster Klasse, die jedem Abgeordneten gestellt wird. Angenehme Rahmenbedingungen, gibt die Jungpolitikerin zu. Gleichzeitig verhehlt sie nicht, dass sie die Bande zu Dänemark am liebsten kappen würde:

    " Was mich antreibt, ist die Geschichte Grönlands - wir sind keine Dänen, sondern ein eigenes Volk, haben unsere eigene Sprache, Kultur, unser eigenes Land. Der nächste Schritt ist noch mehr Selbstverwaltung und irgendwann dann die Unabhängigkeit. Natürlich können wir auf eigenen Beinen stehen - davon bin ich überzeugt. "

    Auch in Zukunft wird Grönland ein besonderes Verhältnis zu Dänemark haben, sagt Juliane Henningsen unumwunden. Zu eng seien die Familienbande, zu zahlreich die in Dänemark lebenden Grönländer, auch die Hoch- und Fachhochschulen Dänemarks seien für Grönland unverzichtbar. Heute jedoch sei Nuuk noch immer ein Anhängsel Kopenhagens. In den grönländischen Geschäften gebe es fast nur dänische Produkte. Es sei an der Zeit, sich der Welt zu öffnen, das eigene Schicksal in die Hand zu nehmen:

    " Wenn ich die grönländische Gesellschaft betrachte, das politische System, die Geschichte, dann fällt mir auf, dass wir die gleichen Probleme haben wie viele andere ehemalige Kolonien. Es ist kein Zufall, dass Grönland mit Problemen kämpft wie Alkohol, Kindes-Missbrauch, mit einer Selbstmordrate, die sehr viel höher ist als anderswo. "

    Juliane Henningsen erzählt von ihrer Schulzeit in Ilulissat, von ihrer Familie, die vom Fischfang lebt und ihr Pakete mit Robbenfleisch nach Kopenhagen schickt. Mindestens drei Kinder möchte sie haben. Ihr Vater mahnt sie stets, irgendwann ihr Verwaltungsstudium zu beenden. Ich habe ja noch ein bisschen Zeit, sagt sie lächelnd. Und man merkt: Derzeit sind ihr andere Dinge wichtiger:

    " Man lässt sich ja nicht wählen, weil man keine Ambitionen hat. Natürlich möchte ich Einfluss, gerne so viel wie möglich. Wenn die Wähler es wünschen, stehe ich gerne an der Spitze eines selbstverwalteten, später dann unabhängigen Grönlands. "