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"Wenn ihr am Leben bleiben wollt, dann schweigt"

Sie gehen, weil sie auf ein besseres Leben hoffen, und geraten in einen Kreislauf aus Illegalität und Abhängigkeit. Hunderttausende Kinder, Frauen und Männer aus Osteuropa werden jährlich Opfer moderner Sklavenhändler. Nicoletta ist ein Beispiel.

Von Gesine Dornblüth | 08.07.2010
    Das Zentrum zur Prävention von Menschenhandel in der moldauischen Kleinstadt Cahul. Etwa ein Dutzend Frauen haben sich versammelt. Alle Augenblicke bekreuzigen sie sich. Der Priester ist da, um die Räume zu segnen und die Mitarbeiterinnen in ihrer Arbeit zu bestärken.

    Das Zentrum hilft Opfern von Menschenhandel. Die Republik Moldau gilt – neben der Ukraine - als eines der wichtigsten osteuropäischen Herkunftsländer für das Geschäft mit Zwangsprostituierten und Sklavenarbeitern. Das Land ist arm, und die Menschen verlassen ihre Heimat in Scharen. Sie suchen nach einem besseren Leben, und viele geraten dabei in die Hände von Kriminellen.

    Eine Frau betritt das Zentrum, in Jacke und Mütze. Nennen wir sie Nicoletta. Ihr Unglück begann mit dem Tod der Schwiegermutter. Nicoletta war unglücklich verheiratet, hatte zwei kleine Kinder. Als die Schwiegermutter starb, verschuldete sie sich, um die Beerdigung zu bezahlen. Ihr Mann fing an zu trinken. Da bot ihr ein Bekannter Hilfe an. Er war Zugbegleiter und sagte, er könne ihr Arbeit in Russland beschaffen.

    "Ich wollte absolut nicht fahren. Irgendwie hatte ich so eine Ahnung, dass etwas nicht stimmte. Ich bin vorher nie irgendwo hingefahren. Ich habe immer im Dorf gelebt. Und ich habe nicht schlecht verdient. Aber gegen die Schulden kam ich nicht an. Und so habe ich dann gesagt, na gut, ich fahre."

    Nicoletta bekam zunächst tatsächlich Arbeit: als Verkäuferin auf einem Markt in einer Kleinstadt bei Moskau. Sie schickte sogar Geld nach Hause. Alles schien gut zu werden. Sie wohnte gemeinsam mit anderen Mädchen aus Osteuropa bei einer Bekannten des Zugbegleiters.

    "Sie hieß Alla, und sie hat sich irgendwie in meine Seele geschlichen. Im zweiten Monat sagte sie: Gib mir mal deinen Pass. Ich schicke das Geld für dich nach Hause, ich erledige das für dich, ich benötige nur deinen Ausweis. Und als ich ihn später zurückhaben wollte, meinte sie: Ach lass doch, ich schließe ihn bei mir ein, da ist er sicher. Den Mädchen hier trau besser nicht, die klauen dir am Ende Pass und Geld."

    Nach einer weiteren Zeit fragte Alla, ob Nicoletta mehr Geld verdienen wolle.

    "Klar wollte ich das, wer will denn nicht mehr Geld verdienen? Also fuhren wir nachts zusammen los. Wir fuhren lange. Als wir ankamen, waren wir in Tschetschenien. Mitten in der Einöde. Dort stand eine große Villa neben einer Fabrik. Es waren schon sehr viele Mädchen dort: aus Moldau, aus Georgien, aus Usbekistan. Tadschikinnen, Weißrussinnen. Die Männer waren Russen in Uniform, sehr viele Tschetschenen, Dagestaner, sehr viele Türken. Alle waren wegen irgendwelcher Geschäfte dort. Und dann haben sie sich mit uns amüsiert. Wir haben geweint, aber sie haben einfach gesagt: 'Wenn ihr am Leben bleiben wollt, dann schweigt, weint nicht und tut so, als würde euch das gefallen.'Ich versuche, das alles zu vergessen. Aber das ist sehr schwer. Ich habe Narben auf dem Körper von den Zigaretten ... und von den Messern. Ich kann bis heute keine Röcke tragen. Ich ziehe im Sommer wie im Winter lange Hosen an."

    Nicoletta wurde in der Gefangenschaft zwei Mal schwanger. Das erste Kind wurde ihr bald nach der Geburt weggenommen. Offenbar verkauften die Menschenhändler Kinder an zahlungskräftige Adoptiveltern im Ausland. So erzählt es jedenfalls Nicoletta. Das zweite Kind bekam sie in einem Krankenhaus in Moskau nach einer dramatischen Flucht. Mit viel Glück und internationaler Hilfe fand sie das erste Kind wieder und kehrte schließlich mit beiden nach Moldau zurück. Die Mitarbeiterinnen des Zentrums in Cahul halfen ihr, Arbeit zu finden, und die Kinder im Kindergarten unterzubringen. Dennoch hat Nicoletta große Probleme. Der Mann hat sich von ihr getrennt, der Bruder hat sie verstoßen, und die Mutter akzeptiert die in Russland geborenen Kinder nicht.

    "Sie schlägt sie jeden Tag. Manchmal weine ich und frage: Mutter, warum schlägst du sie? Sie sind doch nicht schuld daran, dass sie geboren wurden. Ich bin schuld. Sie hat mich schon oft mit den Kindern vor die Tür gesetzt. Vor Kurzem erst wieder."