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"Wenn Informationen Einbahnstraßen sind, gibt es immer Verluste"

"Es gibt keine Tabuthemen mehr in diesem Bereich", konstatiert André Schulz, Vorsitzender des Bundes Deutscher Kriminalbeamter, rund um die Forderung nach einer Neustrukturierung der Sicherheitsbehörden. "Ganz, ganz viele Bereiche sind halt nur Kann-Optionen", beschreibt er ein Grundsatzproblem rund um den derzeitigen Informationsfluss.

André Schulz im Gespräch mit Gerd Breker | 18.09.2012
    Gerd Breker: Wohl selten hat ein Untersuchungsausschuss so viel bewirkt, und das liegt nicht an dem, was es eigentlich zu untersuchen gilt, sondern schon daran, alle Unterlagen zu erhalten, um ein Bild über die Ermittlungen in der NSU-Mordserie zu erstellen. So wurden dann auch die Pannen oder besser die Fehler zu einer Serie. Akten verschwanden, wurden vernichtet oder den Chefs vorenthalten oder eben nicht, dann fanden diese die Tatsache nicht dem Ausschuss mitteilenswert. Drei Leiter von Landesverfassungsschutzämtern und der Chef des Bundesverfassungsschutzes nahmen inzwischen ihren Hut – bemerkenswert für den Anfang. Bemerkenswert die jüngsten Erkenntnisse: Da war ein Unterstützer der Terrorgruppe Informant der Berliner Polizei und hat sie auch informiert, nur die hat sonst niemanden informiert.

    - Am Telefon sind wir nun verbunden mit dem Chef des Bundes Deutscher Kriminalbeamter, mit André Schulz. Guten Tag, Herr Schulz!

    André Schulz: Guten Tag.

    Breker: Wie immer man das nun auch nennen will, was da im Zusammenhang mit dem NSU-Untersuchungsausschuss zutage gefördert wurde – der Begriff "Pannenserie" ist wohl kaum zutreffend. Es wirft alles kein gutes Licht auf unsere Ermittlungsbehörden, Herr Schulz, und auch nicht auf unsere Ermittlungsbeamte.

    Schulz: Das stimmt leider, muss man zugeben. Es sieht so aus, dass die Sicherheitsbehörden da massiven Schaden von nehmen werden und auch schon genommen haben.

    Breker: Das Berliner Landeskriminalamt hat einen Unterstützer der Mordgesellen als Informanten und niemand erfährt davon. Das kann doch eigentlich gar nicht sein?

    Schulz: Kann auch nicht sein und wir sind da genauso als Bund Deutscher Kriminalbeamter interessiert, dass wirklich dann auch alles ans Licht kommt. Ich glaube allerdings nicht, dass uns da bewusst Herr Henkel jetzt was verschweigt. Ich kann das durchaus nachvollziehen und das haben wir auch im Vorfeld schon mehrfach angeprangert. Wir haben hier Defizite im Informationsfluss insgesamt. Und das scheint sich auch hier abzuzeichnen.

    Breker: Aber wer ist denn für diesen Informationsfluss – bleiben wir erst mal innerhalb solcher Behörden – zuständig?

    Schulz: Das kann man so pauschal jetzt nicht sagen. Das ist immer ein Bereich, wo man genau sich angucken muss, das wird ja jetzt auch dank des Untersuchungsausschusses gemacht, wo liegt wirklich der Fehler, gibt es hier wirklich menschliches Versagen, ist es ein strukturelles Versagen. Und dann müssen wir daraus lernen und auch diese Fehler abstellen für die Zukunft.

    Breker: Aber normalerweise sagt doch der Untergebene seinem Vorgesetzten, was er da an Erkenntnissen herausgefunden hat.

    Schulz: Die üblichen Wege sind schon natürlich so, dass die Ermittlungsergebnisse der Kollegen dem Vorgesetzten gemeldet werden, der das dann wieder seinem nächst höheren meldet. Das sind ganz klare vorgegebene Wege. Irgendwo an einem Punkt scheint das auch in diesem Fall dann nicht weitergegeben worden zu sein. Und wir werden da genau gucken müssen, woran das gelegen hat.

    Breker: Das war in Berlin ja so, dass dieser besagte Informant durchaus auch Informationen abgegeben hat darüber, wo denn diese Terrorgruppe der NSU sich aufhält. Und nichts passiert. Ein Laie kann sich das überhaupt nicht vorstellen, wie das Ermittlungsbehörden so machen.

    Schulz: Das ist auch schwer nachzuvollziehen. Aber wenn ich Sie beruhigen kann: Auch nicht nur für Laien, sondern auch für uns Experten, sozusagen, Profis, ist das sehr schwer nachzuvollziehen. Deswegen kann man das natürlich nicht pauschal jetzt verurteilen, bevor man nicht genau die Hintergründe kennt, die Aktenlage. Wir sagen auch, alle Fakten müssen auf den Tisch, das muss aufgearbeitet werden und so was darf nicht wieder passieren.

    Breker: Nur, Herr Schulz, ich stelle mir das so vor: Der Beamte, der die Aussage aufgenommen hat, der also jetzt weiß, diese Terrorgruppe hält sich da und da auf. Der muss doch einen inneren Antrieb haben, dass man versucht, dieser Gruppe habhaft zu werden.

    Schulz: Das ist immer so eine Geschichte. Das habe ich auch schon Herrn Edathy mal selber erzählt. Hinterher kann ich immer leicht sagen, wenn ich alle Fakten habe, das hätte man wissen müssen, das hätte man aufklären müssen. Es ist aber schwer, wenn sie selbst in Ermittlungen drinstecken, alles wirklich zu verknüpfen. Und das kann leider mal passieren, obwohl ich diesen Einzelfall in Berlin jetzt gar nicht bewerten möchte, weil man die Aktenlage kennen muss. Wir werden es sicherlich zeitnah wissen und dann können wir sagen, wo lag der Fehler.

    Breker: Aber dass diese Vernehmungsprotokolle, in denen die Aussagen waren über die Aufenthaltsorte, dass die nicht weitergegeben werden - unvorstellbar.

    Schulz: Wenn es wirklich so ist, dann ist das unvorstellbar auch für uns, ja.

    Breker: Da stellt sich die Frage, was wusste der Innensenator. Was weiß eigentlich der oberste Chef einer solchen Behörde, was da vor sich geht?

    Schulz: Leider, glaube ich – und das ist einfach systemimmanent -, nicht so viel, wie er wissen müsste. Das ist aber auch normal. Wenn ich mir alle angucke, die jetzt zurückgetreten sind in den Verfassungsschutzämtern, kann man da fest von ausgehen, dass das natürlich Personen sind, die Verantwortung übernehmen, Verantwortung für Defizite in Ermittlungen oder in ihren Behörden. Aber ihnen selber dann wenig vorzuwerfen ist, weil sie das sicherlich nicht wussten. Da muss man sich dann auch verlassen auf seine Mitarbeiter.

    Breker: Ja, wie zum Beispiel der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Da wurden Akten vernichtet und der Chef hatte keine Ahnung davon. Wer entscheidet eigentlich darüber, welche Akten vernichtet werden und welche nicht?

    Schulz: Das ist auch unterschiedlich, aber ganz klar geregelt in den Ländern, welche Fristen zu beachten sind, wann zu vernichten ist und wer vernichtet. Es ist nicht so, dass man dann wirklich bis zu seinem Innenminister, Innensenator, sagt, aber der weiß nichts davon, dass vernichtet wird, weil das eine Aufgabe natürlich der Alltagsarbeit ist. Das ist aber nicht nachvollziehbar in einigen Bereichen und so ein bisschen Sensibilität ist sicherlich auch oftmals nicht da gewesen.

    Breker: Bei dem Informationsfluss nach innen stellt sich ja die Frage, wird das gehandhabt als so eine Art Bringschuld? Muss der Beamte, der die Erkenntnisse hat, sie seinem Vorgesetzten bringen? Oder ist es eine Holschuld? Muss der Vorgesetzte nicht diese Informationen einfordern durch Lageberichte, die abgehalten werden?

    Schulz: Das kann man so gar nicht sagen, weil man wird immer im Team arbeiten. Das heißt, man hat Ermittlungsergebnisse, die man ja auch nicht nur innerhalb der Polizei bewegt, sondern auch mit anderen Behörden abstimmt auf Bundes- oder Länderebene. Da gibt es so was nicht, dass man sagt, Hol- oder Bringschuld. Das ist ganz einfach geregelt. Und ich glaube, wie gesagt, nicht, das werden aber die Untersuchungen ergeben. Wenn es da Versagen einzelner gibt, dann müssen wir die auch aufdecken und wirklich sagen, das geht so nicht, und auch die Konsequenzen ziehen daraus.

    Breker: Im Landesamt für Verfassungsschutz in Sachsen-Anhalt lagen Akten, Protokolle, Abschriften von dem, was der MAD ihnen überstellt hat. Und die waren falsch abgelegt.

    Schulz: Das sind dann diese Dinge, wo ich gesagt habe, menschliches Versagen kommt dann leider noch dazu, wo man immer sagt, das darf nicht passieren, gerade in diesem Bereich. Wir haben da einige Defizite, die wir auch schon mehrfach angemahnt haben. Es geht gerade um Informationsfluss, wie weit müssen Verfassungsschutz und Polizei zusammenarbeiten, wie weit sind Informationen, fließen sie in beide Richtungen. Das hat sicherlich in der Vergangenheit nicht optimal geklappt und da werden wir noch einiges aufzuarbeiten haben.

    Breker: Vielleicht, Herr Schulz, noch die Frage für die Informationen nach außen. Dafür sind doch zuständig die in der Regel von der Politik eingesetzten Leiter dieser Behörden? Oder die politisch Verantwortlichen?

    Schulz: Im Endeffekt und im letzten ja. Das ist einfach so. Aber das ist schwer zu bewerten. Man muss halt genau den Sachverhalt kennen und das müssen wir in dem Berliner Fall jetzt auch abwarten.

    Breker: Aber wenn wir zum Beispiel schauen auf die Erkenntnisse, die der MAD hatte und von denen der Verteidigungsminister wusste – wenn der das nicht weitergibt zum Beispiel an den Untersuchungsausschuss, ist das ein Fehlverhalten?

    Schulz: Es sieht so aus, wirkt so, und aus der jetzigen Draufsicht muss man das schon so sehen. Das ist aber unser Grundsatzproblem, weil wir da nicht verbindlich genug sind in dem Bereich, was muss Verfassungsschutz, was muss MAD in dem Bereich weitergeben. Ganz, ganz viele Bereiche sind halt nur Kann-Optionen, also die können Informationen an die Polizei geben, sie müssen es aber nicht. Wenn Informationen Einbahnstraßen sind, gibt es immer Verluste. Da müssen wir auf jeden Fall besser werden.

    Breker: Im Zusammenhang mit den Erkenntnissen, die durch den NSU-Untersuchungsausschuss zutage gefördert wurden, werden nun inzwischen zum Beispiel der MAD selbst infrage gestellt. Es wird die Frage gestellt, macht es nicht Sinn, dass wir auch unsere Verfassungsschutzämter neu organisieren. Was hält der Bund Deutscher Kriminalbeamter davon?

    Schulz: Man muss sich das im Einzelfall angucken. Wir müssen wirklich sagen, es gibt keine Tabuthemen mehr in diesem Bereich. Wir haben gesehen, wir sind mit unseren Strukturen zum Teil gescheitert, wir haben Reputation auch in der Bevölkerung verloren. Das ist einfach so und das muss man einfach anerkennen. Dann muss man sehen: Ist es strukturelles Versagen, ist es persönliches Versagen. Wo man von weg muss, ist so eine Massenverschwörungstheorie in Deutschland. Aber natürlich muss man sehen, ist MAD, ist der Verfassungsschutz so gut aufgestellt, wie es jetzt ist? Muss der Bund in vielen Bereichen mehr Kompetenzen bekommen und sind die Informationsflüsse dann auch verbindlich zu handhaben? Also nicht nur als Kann-, sondern als Muss-Option. Von daher gehe ich davon aus, dass gerade dieser Bereich einer Komplettrestaurierung sozusagen Bedarf. Komplett jetzt zu sagen, man muss gleich die eine oder andere Behörde verbieten oder nach dem Motto auflösen, das ist vielleicht ein bisschen zu früh gesprungen, aber das wird jetzt hier die Zukunft bringen.

    Breker: Aber Sie als Bundesverband Deutscher Kriminalbeamter, Sie würden da gerne mitarbeiten?

    Schulz: Wir arbeiten ja heutzutage schon mit. Die Kriminalpolizei ist natürlich genau der Bereich im LKA, der im Staatsschutz arbeitet. Auch da muss man sehen, wie sind die Schnittstellen, geht das so informationsmäßig, Staatsschutz, sind die so richtig aufgestellt, wie sie jetzt aufgestellt sind, klappt die Arbeit optimal auf Bundesebene, auf Länderebene. Da ist noch viel zu machen. Und dann wird man sehen, was optimal ist und wo wir besser werden können, besser werden müssen.

    Breker: Im Deutschlandfunk war das die Einschätzung des Vorsitzenden des Bundes Deutscher Kriminalbeamter, André Schulz. Herr Schulz, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.

    Schulz: Bitte.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

    Weitere Informationen bei dradio.de:
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