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Wenn Kinder Kinder missbrauchen

In der aktuellen Debatte um sexuellen Missbrauch stehen erwachsene Täter im Rampenlicht. Weit weniger beachtet wird, dass auch Kinder im strafunmündigen Alter sexuelle Gewalt gegenüber anderen Kindern ausüben. Wissenschaftler der Uni Duisburg-Essen haben sich mit den Fällen beschäftigt.

Von Isabel Fannrich | 29.04.2010
    Der fünfjährige Frederik kommt an einem Wintermorgen vor zwei Jahren zu seinen Eltern ins Bett und will wissen: "Was ist Sex?" Die Mutter - hier Sandra Bergheim genannt - wird hellhörig und spricht vorsichtig mit ihren Zwillingssöhnen.

    "Und was wohl passiert ist, dass dieses Nachbarskind die beiden wirklich in die Fabrik gelockt hat mit Versprechen von Bonbons, und dass sie dann eben zusammen dahin gefahren sind und da haben die, glaube ich, tatsächlich zusammen Pipi gemacht haben, so wie das Jungs in dem Alter manchmal zusammen machen. Aber dann muss das eben schon ziemlich weit gegangen sein, was eben dieser Zwilling, den das besonders betroffen hat, wirklich erzählt hat, war, dass der Junge offensichtlich zumindest versucht hat, zu penetrieren bei ihm in den After. Weil: Er hat dann eben erzählt: Warum machst du das denn, da ist Kacka drin, das ist doch eklig. Und was uns am meisten geschockt hat, war, dass er offensichtlich noch auf ihn uriniert hat."

    Nach Einschätzung von Fachleuten werden immer mehr Fälle bekannt, in denen sich strafunmündige Kinder sexuell an Gleichaltrigen vergangen haben. Auch die polizeiliche Kriminalstatistik verzeichnet eine steigende Zahl der Tatverdächtigen. Im Jahr 1996 wurden in Nordrhein-Westfalen 132 Kindes eines sexuellen Übergriffes verdächtigt. Zwölf Jahre später waren es mit 239 Kindern, davon elf Mädchen, fast doppelt so viel.

    "Allerdings ist es mit der polizeilichen Kriminalstatistik immer etwas schwierig zu interpretieren, weil die natürlich auch teilweise das Anzeigeverhalten der Bevölkerung widerspiegelt. Und möglicherweise ist einfach auch die gesellschaftliche Sensibilität für diese Problematik gewachsen."

    Bislang ist in Deutschland nur wenig über sexuell übergriffige Unter-14-Jähriger bekannt. Der Psychologe Andrej König von der Universität Duisburg-Essen hat im Auftrag der Landesregierung in NRW sexuell gewalttätige Kinder untersucht. Er sprach mit 56 Jungen und fünf Mädchen während ihrer Behandlung in ambulanten und stationären Einrichtungen. Die Acht- bis 14-Jährigen verglich er mit aggressiv-übergriffigen sowie unauffälligen Kindern.

    König fand heraus, dass sowohl die sexuell gewalttätigen als auch die aggressiven Kinder sich ähnlich dissozial verhielten und klauten, Feuer legten oder verbal ausfällig wurden. Unterschiede fand der Wissenschaftler hinsichtlich der familiären Situation und der Persönlichkeit:

    "Also bei sexuell übergriffigen Jungen dominierte insbesondere zusätzlich zu dieser dissozialen Komponente eine depressiv-ängstliche Komponente verknüpft mit sozialen Problemen. Und die sexuell übergriffigen Jungen stammten häufiger aus Familien, in denen sie massive körperliche, psychische oder auch sexuelle Gewalterfahrungen erleiden mussten. Also etwa die Hälfte unserer sexuell übergriffigen Jungen hat selber sexuelle Missbrauchserfahrungen erleiden müssen."

    "Für mich hört sich das so an, als hätte dieser Nachbarjunge etwas selber erlebt, was er weitergegeben hat. Also das war eigentlich die Reaktion von vielen Fachleuten, die wir kontaktiert haben, die gesagt haben: Das klingt nicht gut. Und dass fast dieser Junge mehr Schutz braucht als unsere Kinder."

    Die in der Studie untersuchten Jungen stammten häufig aus unvollständigen Familien, in denen eine männliche Bezugsperson fehlt.

    "Das sind oft auch Kinder, die schon auch selbst eigentlich hilflos sind, die eigentlich auch durchaus in Kontakt mit anderen Kindern kommen wollen, die die Aufmerksamkeit der Erwachsenen eventuell haben wollen und merken zum Teil, also eigentlich können sie zum Beispiel zu Hause machen, was sie wollen, und sie werden nicht beachtet oder nur am Rande beachtet. Und die dann eben auch merken, wenn ich jetzt Macht ausübe - und das ist ja auch Macht gegenüber anderen Kindern -, dann kriege ich schon Anerkennung; oder Angst zumindest","

    … sagt Sigrid Richter-Unger von "Kind im Zentrum". Immer mehr Kindergärten und Schulen hätten in den vergangenen Jahren in der evangelischen Beratungsstelle in Berlin um Rat gefragt. Auch mehr Eltern bringen ihre Kinder wegen übergriffigen Verhaltens zur Therapie.

    ""Also es ist sicherlich mehr ein Thema, wo Erzieherinnen, Lehrer, Betreuer mehr hingucken. Aber ich glaube auch, dass es eine Sexualisierung einer Umgebung gibt, auf die Kinder zum Teil auch reagieren. Also dass Kinder dann auch andere verletzten mit Dingen, die sie vielleicht unangemessen irgendwo sehen, die sie imitieren, oder auch mit Musik, die sie zum Teil hören."

    Was als sexueller Übergriff im Kindesalter gilt, ist nach Ansicht von Andrej König noch nicht klar definiert. Man wisse wenig darüber, welche sexuellen Verhaltensweisen vor dem 14. Lebensjahr der Norm entsprächen und welche als gestört oder auffällig zu charakterisieren seien.

    "Wenn man das klassische Beispiel Doktorspiele nimmt: Ca. 80 Prozent von jungen Erwachsenen berichten retrospektiv, dass sie vor ihrem 14. Lebensjahr bereits erste sexuelle Erfahrungen in Form von Doktorspielen gemacht haben. Da ist die Bandbreite relativ groß. Und in der Regel bekommen Erwachsene oder Erzieher oder Lehrer von diesen Handlungen auch nichts mit, da sie im Verborgenen stattfinden."

    In welcher Form Kinder und Erwachsene andere sexuell belästigen oder missbrauchen, unterscheide sich kaum. Als eine der häufigsten Verhaltensweisen fanden die Wissenschaftler, dass Kinder andere Kinder an den Genitalien anfassen. Dreiviertel der untersuchten Jungen penetrierten ihre Opfer entweder oral, vaginal oder anal.

    "Und die Grenzen liegen eben da, wenn Kinder das nicht wollen und andere es dann dennoch tun. Wenn Kinder auch andere Kinder verletzen, also, indem sie zum Beispiel versuchen, Gegenstände in Körperöffnungen einzuführen. Wenn Kinder, und das passiert dann zum Teil bei älteren Kinder gerade auch noch einmal, andere Kinder beschämen, indem sie ihnen zum Beispiel die Kleidung vom Leib reißen in der Öffentlichkeit oder sie dann auch in Situationen wie auf Toiletten fotografieren, diese Fotos rumzeigen."

    Doch nicht jede Verletzung der Intimsphäre ist sexuell motiviert. Oft geht es einem Kind darum, Macht auszuüben und das Opfer zu erniedrigen. Viele Kinder wüssten nicht, wie sie mit negativen Stimmungen umgehen sollen. Sie schieben die Trauer, Angst oder Wut durch sexuelles Verhalten weg, sagt der Psychologe Andrej König von der Universität Duisburg-Essen.

    Nur 15 Prozent der untersuchten Vorfälle ereigneten sich in Gruppen, ebenso viele wurden von Gewalt begleitet. Meist machen sich Kinder ihr Gegenüber durch Geschenke, Überreden oder Drohungen untertan. Als problematisch bezeichnet König, dass 84 Prozent der Übergriffigen ihr Opfer aus dem sozialen Umfeld oder der Familie kannten - und dieses im Schnitt drei bis vier Jahre jünger war.

    "Sodass meist gar nicht besonders viel Bedrohung oder Gewaltandrohung notwendig ist, damit es zu sexuellen Handlungen kommt. Schon allein dieser Altersunterschied oder möglicherweise die Abhängigkeit, die zwischen Opfer und sexuell übergriffigem Jungen besteht , kann dazu führen, dass das Opfer relativ schnell einwilligt in sexuelle Handlungen."

    Die Nachbarn der Familie Bergheim haben jede Auseinandersetzung über die Vorfälle abgeblockt. Obwohl die Bergheims das Jugendamt einschalteten und sich Rat beim Kölner Verein "Zartbitter" für sexuelle Missbrauchsopfer holten, fühlen sie sich als Opfer alleine gelassen. Sie wissen nicht, ob sich das Jugendamt tatsächlich um die Familie nebenan kümmert. Von "Zartbitter" bekamen sie zu hören, sie sollten das Thema erst einmal ruhen lassen und erst nach einigen Monaten mit ihren Kindern wieder darüber reden.

    Nach einem erneuten Zwischenfall verboten die Bergheims ihren Söhnen endgültig, mit dem mittlerweile zehnjährigen Jungen von nebenan zu spielen.

    "Für die war das noch zusätzlich eine Strafe, weil die überhaupt nicht begriffen haben, warum dann plötzlich dieser Kontakt nicht mehr sein durfte. Für uns war die Unsicherheit, dass wir überhaupt nicht wussten, was da weiter passieren kann. Jedes Mal, wenn die draußen waren und dieser Nachbarsjunge war auch draußen, haben wir die quasi reingeholt. Ich muss ehrlich sagen im Nachhinein, das war für mich eigentlich auch im Kern das Erschütterndste, dass man das Gefühl hatte, man konnte an dem Punkt seine Kinder nicht schützen und diese Hilflosigkeit, dass das überhaupt passiert. Also wir sind unheimlich geschockt an dem Punkt. Das hat unsere Unschuld zerstört. Weniger die von den Kindern als unsere."