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Wenn Lolita endlich spricht

Was Vladimir Nabokovs "Lolita" im gleichnamigen Roman erlebt und passiert, erfährt der Leser durch ihren Stiefvater und Liebhaber. Die Heranreifende selbst kommt nicht zu Wort. In "Darling River" gibt die Autorin Sara Stridsberg diesem literarischen Objekt der Begierde nun eine eigene Stimme.

Von Barbara Sichtermann | 23.08.2013
    Wie hat sie wohl selbst empfunden? Die schwedische Schriftstellerin Sara Stridsberg erzählt in ihrem Roman "Darling River" von Dolores, einer jungen Frau mit einem ganz bestimmten Schicksal, das die Leserschaft über die Kontinente hinweg schon lange kennt. Diese Dolores, Lolita genannt, ist eine der provokantesten Gestalten der erotischen Literatur und wird durch ihren Erfinder Vladimir Nabokov von einem Ich-Erzähler vorgestellt; sie selbst kommt nie mit eigener Perspektive zu Wort. Hier greift Sara Stridsberg ein und an. Sie versucht in "Darling River" dem Objekt der Begierde eine eigene Stimme zu geben.

    Bei Nabokov ist es Humbert Humbert, ein Schweizer Literat, vermögend, unabhängig, unterwegs in den USA, der Lolita entdeckt und ihr verfällt. Gleich zu Beginn des Romans vertraut er seinen Lesern an, dass es ganz junge Mädchen sind, die es ihm angetan haben, hübsche, langbeinige, vulgäre Luder, nicht mehr Kind, aber auch noch nicht Frau, frech und lasziv, ihrer Reize nicht wirklich bewusst, aber irgendwie doch. Nabokov nennt diese verführerischen Wesen zwischen elf und 14 Jahren "Nymphets", also etwa "Nymphchen". Lolita ist die Tochter von Humberts Zimmerwirtin Mrs. Haze. Die arme Dame verliebt sich in den Untermieter, der heiratet sie, um der Tochter nahe zu sein. Als bald darauf Mrs. Haze bei einem Unfall stirbt, ist Humbert der legale Beschützer seiner Lolita. Er reist mit ihr durch die Staaten, eifersüchtig darum besorgt, dass niemand der Geliebten nahe kommt. Irgendwann entwischt Lolita ihm. Er sucht und findet sie als schwangere Ehefrau eines gewissen Richard Schiller. Humbert erschießt den Rivalen und stellt sich. Die Geschichte seiner Liebe schreibt er im Gefängnis.

    Das lesende Publikum kennt Lolita nur als Geschöpf Nabokovs und als Liebesobjekt Humberts. Es mag sich immer mal gefragt haben: Wie hat Lolita selbst empfunden? Nabokov lässt das Innenleben seines Nymphchens im Ungewissen. Kunstvoll weckt er Ahnungen, wie es wohl um sie selbst bestellt sei, er konturiert ihre Erscheinung, er legt dem Leser nahe, sie sich als süßes, aber schlichtes, ein wenig ordinäres Kindweib zu denken, dessen Wünsche über eine Eiswaffel, ein neues Kleid und eine Zukunft im Reihenhaus nicht hinausgehen. Aber es bleibt ein rätselvoller Rest: Wer war sie wirklich?

    Sara Stridsberg nun hat diese liegen gebliebene Perspektive aufgegriffen und lässt Lolita "Ich" sagen. Anders als Nabokov, der klassisch-gradlinig erzählt, ist Stridsberg dem raffiniert verwirrenden postmodernen Erzählstil verpflichtet, sie fügt unterschiedliche narrative Stränge aneinander, springt zwischen den Zeiten, zerdehnt einzelne Motive und verdichtet andere. Ging es Nabokov darum, Lolita indirekt durch die Blicke ihres Liebhabers zum Leben zu erwecken, so wählt Stridsberg den umgekehrten, direkten Weg und spricht von Lolitas eigenem Blick auf die Welt. Ihr Roman "Darling River" spielt wie "Lolita" in den 1950er-Jahren in Amerika, und wie bei Nabokov wird die Geschichte als Road-Movie erzählt. Immer wieder sitzt Lolita, dem Nymphchen-Alter nun entwachsen, in einem mal vom Stiefvater, mal vom Ehemann Richard Schiller chauffierten Auto, sie lebt dort, liest, isst, trinkt, träumt auf ihrer Rückbank und will eigentlich immer nur eins: in Ruhe schlafen. Das Mädchen heißt auch bei Stridsberg Dolores, was bei Nabokov ebenfalls sein "eigentlicher" Name war und was aus dem Lateinischen übersetzt "Schmerzen" heißt. Im Untertitel nennt Stridsberg ihr Buch: "Doloresvariationen".

    "Mein Vater und ich teilen die Vorstellung, dass uns jemand aus diesem Dasein erlösen sollte, dem ewigen Regen und der Einsamkeit unserer Reisen, die wir einfach immer fortsetzen. Jemand müsst uns an einen helleren Ort holen, wo wir wieder die sein können, die wir einst waren, oder besser gesagt die, die gewesen zu sein wir uns mit der Zeit einbilden. Vater sieht nicht aus, als wäre er in der groben, schlammigen Flusslandschaft zu Hause, er ist ein Fremder in seinem cremefarbigen Anzug und den glänzenden Schuhen. Wenn ich nicht wäre, würde er sich überhaupt nicht an diesen zerstörten Uferstreifen aufhalten."

    Was erfahren wir nun von der Ich-sagenden Dolores, genannt Lo? Wir erfahren, dass sie den Fortgang ihrer Existenz als eine Geschichte des Verfalls erlebt, den sie nicht aufhalten kann und mag, hierin einen Charakterzug erfüllend, den auch Nabokov andeutet: Passivität, Geschehen-Lassen, kaum eigener Wille. Als Humbert die entflohene Lolita schließlich aufstöbert, ist sie schwanger und schon von daher verändert, entstellt, der jungenhaften Schlankheit beraubt. Humbert ist das egal, er liebt sie immer noch, und seine Leidenschaft treibt ihn zum Mord an dem Nebenbuhler, obwohl das Bild des Nymphchens, dem er ursprünglich verfallen war, gar nicht mehr existiert.

    Stridsberg übernimmt dieses Motiv und lässt ihre Dolores in vielen Episoden schwanger sein, aufgequollen, krank und verwahrlost – und dennoch behält die ehemalige Kindfrau ihren magischen Appeal und zieht weiterhin Liebhaber an, die sich an das Nymphchen, das sie einmal war, erinnern und sie immer noch begehren. Am "Darling River" trifft Lolita, die sich prostituiert, ihre "Brüder", wie sie die Freier nennt und gleitet mit ihnen zum Sex ins Wasser. Gern arbeitet Stridsberg mit Ekel-Reizen. Der Verfall, dem Dolores, kaum dass sie erwachsen wurde, ausgesetzt ist, erstreckt sich auch auf den Fötus in ihrem Leib, von dem Lo nicht einen Augenblick glaubt, das er lebend geboren werden kann.
    "Ich habe das Gefühl, als wäre ich innerlich voll Schlamm, als würde meine Seele aus den Nähten platzen, und das Herz in meiner Brust faulen. Ich stelle mir vor, das Kind hätte kein Gesicht oder wäre vollkommen schwarz und vielleicht aus Gummi. Wenn es überhaupt ein Mensch ist. Ich ruhe unter den süßlichen, fettigen Schichten meiner Haare, die Haarnadeln stechen mir in den Nacken, sie sind immer von einer Fettschicht bedeckt, die Samtrosette, die einmal blau war, besteht nur noch aus Fetzen. Mein altes Ich liegt für immer unter Fett und Schmutz begraben. Zwischen Schlaf und Wachzustand kann ich immer noch spüren, wie sich meine frühere zarte Gestalt tief in mir regt, eine zerbrechliche Kontur, eine vergessene Perle auf dem Meeresboden. Mein Körper wurde ein Sarg für das Kind. Alles, was übrig blieb, war die Asche, das weiße Fleischfutter des Sargs, meine Schwielen und Schrammen."

    Stridsberg entwickelt in "Darling River" eine poetische Sprache, abgehoben, verrätselt, mit überraschenden Wendungen, ganz beherrscht von der nicht immer einfachen Aufgabe, sinnliche Eindrücke in Worte zu bringen. Auch die Verweise auf Nabokov sind nicht immer sofort und für jeden entschlüsselbar. So muss man wissen, dass der Lolita-Erfinder im Nebenberuf oder als Liebhaber Schmetterlingsforscher war, um in der Beschreibung von Dolores' Augenkrankheit die Anspielung zu erkennen. Die Ärmste wird von einem Tumor hinter den Augäpfeln geplagt und erblindet zuweilen, aber dann kehrt die Sehkraft zurück – bis zur nächsten Attacke. Die Ärzte sind ratlos.

    "Der Defekt am Auge gleicht einem Schmetterling, der unerwartet mitten in einem Flügelschlag gefangen wurde. Eine frühere Version von mir, die in mir geblieben ist, eingesperrt, schreiend, ein Schatten, der mir immer folgen wird. Flügel anstelle eines Kleides, ein Wesen, das Vorteile aus der Schönheit der Blumen zieht, wenn es von Blüte zu Blüte fliegt. Von Jägern auf der ganzen Welt gehascht und in große Kataloge und Sammelbücher platziert, bis auf dieses eine Exemplar, das sich in mein Sehorgan verirrt hat. Der Schmetterling ist unberechenbar und nimmt keine Rücksicht auf Landesgrenzen und internationale Gesetze. Aus diesem Grund wird er eingefangen. Doch genau dieses Exemplar kann nicht entfernt werden. Jedes Mal, wenn sie mein Auge öffnen, ist der Schatten verschwunden."

    Es gibt noch mehr Erzählstränge in "Darling River", von denen man nicht gleich weiß, in welcher Beziehung sie zu Lolita oder Nabokov stehen oder ob überhaupt. Stridsbergs Prosa bewegt sich auch mal von Dolores weg und lässt uns zum Beispiel an den Forschungen eines seltsamen Professors teilhaben, der in Paris versucht, einer Äffin das Zeichnen beizubringen. Man könnte die Äffin als eine Allegorie auf Lolita verstehen, an der eine ganze Parade von Mannsfiguren herumerzieht und sie mit Projektionen verstört – was ihr jedoch letztlich gar nichts bedeutet. Will sie doch einfach nur schlafen. Aber bei Stridsberg sagt sie immerhin "ich", und die Frage ist, wie sich der Inhalt ihrer Aussagen über die eigene Person zusammenfassen lässt.

    Wir erleben eine Frauengestalt, die Auskunft über ihren Verfall gibt, über ihre Unfähigkeit, dem Stiefvater oder dem Ehemann irgendetwas entgegen zu setzen bei deren Reiseplänen und Erinnerungen, ihren Ängsten, ihren Fluchten, ihrer Suche nach Nähe zu Lo. Sie geht mit, sie arrangiert sich mit der Beliebigkeit, der Verwahrlosung, der Auflösung ihres Körpers und ihrer Identität. Die Autorin teilt diese Prozesse der Vernichtung in lakonischem Sprachduktus und preziösen Formulierungen mit, sie erschafft ein animalisches Universum, dominiert von Tiervergleichen und der Inspektion und Beschreibung organischer Vorgänge.

    Man mag daraus eine späte Anklage lesen – gerichtet gegen eine Männerwelt, die nicht im Stande war, ein Wesen wie Dolores zu respektieren und es deshalb zerstören musste. Aber diese Interpretation führt nicht weit, da ja die Männer, wie einst Humbert Humbert, nicht dagegen gefeit sind, sich selbst zu zerstören. Es ist wohl eher eine bestimmte Konsequenz, die Stridsberg ins Auge gefasst hat und durchdekliniert, eine Konsequenz, die Nabokov letztlich abwehrt, indem er seinen Humbert zu einem Liebenden verklärt, die aber in Idee und Ideal des Nymphchens drinsteckt: die Tatsache, dass das erotische Objekt Kindfrau immer nur ein sehr kurzes Leben haben kann. Es beginnt zu verfallen, wenn die Pubertät kommt, und es zerfällt ganz, wenn das Mädchen von einst erwachsen geworden ist. Nur als Kunstfigur lebt Lolita für immer – jetzt noch einmal beschworen von Sara Stridsberg in "Darling River".

    Darf man das denn? Einfach einen Appendix zu einem bereits existierenden Werk verfassen? Puristen werden sagen, das größte Verdienst von "Darling River" sei es, dass manche Leser dazu veranlasst werden, Nabokovs großartigen Roman noch mal zur Hand zu nehmen. Nicht-Puristen und andere Freunde der Literatur werden darauf verweisen, dass Stridsberg einer besonders wichtigen Aufforderung der Postmoderne gefolgt sei: Der Lust am Spiel und am Weiterspinnen dessen, was schon vorhanden ist, was den Nachgeborenen seine Hände entgegenstreckt und ruft: lies mich, verändere mich, mach mit mir, was Dir einfällt. Wer Recht hat, entscheide jeder Leser, jede Leserin für sich.

    Sara Stridsberg: "Darling River"
    S.Fischer Verlag 2013, 320 Seiten, übersetzt aus dem Schwedischen von Ursel Allenstein