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Wenn man im Kino die Augen schließt

Es verkörpert für ihn künstlerische Souveränität und den Willen zur Wahrhaftigkeit: Der renommierte polnische Filmkritiker Wojciech Kuczok setzt sich in essayistischer Form mit dem europäischen Kino auseinander, besonders mit jenen Filmen, die die Schwelle des Erträglichen überschreiten.

Von Hans-Martin Schönherr-Mann | 19.08.2008
    Carl Orffs "Carmina Burana" ermöglicht dem Zuschauer die Augen zu schließen und sich damit dem grausigen Finale von Pier Paolo Pasolinis "Salò oder die 120 Tage von Sodom" zu entziehen. In heutigen Filmen muss der Betrachter sich auch noch die Ohren zuhalten, um die Schreie der Gefolterten und Sterbenden nicht zu hören. Trotzdem ist in der Filmgeschichte dieser Film der berühmteste jener Werke, die von den Kritikern verflucht und verdammt werden, die als "Höllisches Kinos" gelten – so Wojciech Kuczok, der nach eigenem Bekunden solche Filme liebt, die für ihn der Forderung Pasolinis genüge tun, der kurz vor seiner bis heute unaufgeklärten Ermordung 1975 in der Nähe von Ostia postuliert:

    Was die Künstler machen müssen – und die Kritiker verteidigen und alle Demokraten in einem entschlossenen Kampf von unten unterstützen müssen –, sind Werke, die so extremistisch sind, dass sie selbst noch für die aufgeschlossensten Ansichten der neuen Macht(-haber) inakzeptabel sind.

    Radikalität und Pessimismus packt Pasolini in seinen Film "Salò oder die 120 Tage von Sodom". Er verknüpft die nach dem Sturz Mussolinis 1943 in Norditalien unter nazideutscher Ägide gegründete Republik von Salò, einem Ort am Gardasee, die die Herrschaft Mussolinis an Grausamkeit gehörig überbot, mit jenem Opus von Marquis de Sade "Die 120 Tage von Sodom", ein 7000 Seiten Konvolut, das dieser in den achtziger Jahren des 18. Jahrhundert während eines zwölfjährigen Gefängnisaufenthalts schreibt. Penibel in allen Einzelheiten und Wiederholungen schildert de Sade, wie Adlige in einem einsamen Bergschloss eine Gruppe von Jungen und Mädchen vergewaltigen, foltern und ermorden. De Sades Devise lautet dabei:

    Man muss dem Gegenstand seines Verlangens Gewalt antun; um so größer ist die Lust, wenn er sich hergibt.

    Zweifellos befriedigt de Sade damit sein eigenes ungestilltes Verlangen im Gefängnis, in das er wegen ähnlicher sexueller Ausschweifung, der Misshandlung von Prostituierten auch mit Todesfolge geworfen worden war. Andererseits hält er dabei auch einen Spiegel seiner zeitgenössischen Gesellschaft vor, die Moral heuchelt, und sich doch gerne mit sexuellen Grausamkeiten vergnügt – eine Sachlage, die sich seither wohl nicht über die Maßen verbessert hat, wenn wir an die heutigen Verbrechen und Skandale denken.

    Pasolini überträgt de Sades Konstellation in seinem Film "Salò" nicht einfach auf die Zeit des Faschismus, um dessen Grausamkeit anzuprangern. Dieser dient ihm wiederum nur als Spiegel für das Italien der siebziger Jahre, gehört Pasolini zu jenen zahlreichen linken Intellektuellen, die der westlichen Welt ständig vorwarfen, sie reproduziere ob mit dem Konsum oder ihren Waffenarsenalen faschistische Strukturen. Pasolini, als Homosexueller allerdings seit den vierziger Jahren in Italien ständiger öffentlicher wie juristischer Verfolgung ausgesetzt, kritisiert enttäuscht und verbittert sogar die sexuelle Liberalisierung, wenn er 1975 in der Tageszeitung Corriere della Sera schreibt:

    All das, was sexuell 'anders' ist, wird dagegen ignoriert und abgelehnt, und zwar mit einer Gewalttätigkeit, die allenfalls in den nazistischen Konzentrationslagern Parallelen findet (wobei natürlich nie darüber gesprochen wird, dass die sexuellen Minderheiten genau dort gelandet sind).

    Doch nicht allein weil Pasolini in "Salò oder die 120 Tage von Sodom" die zeitgenössische Gesellschaft mit den schrecklichsten Seiten des Faschismus gleichsetzt und sich dabei des Opus von Marquis de Sade bedient, gilt der Film als "Höllisches Kino". Vor allem wirft man ihm seine extreme Grausamkeit vor, die sich mit sexuellen Perversitäten paart. Doch einerseits hat die Gegenwart sowohl hinsichtlich von Gewaltdarstellungen als auch in pornographischer Perspektive Pasolinis Film längst überholt.

    Trotzdem setzt sich in "Salò oder die 120 Tage von Sodom" immer noch ein bis heute gültiger Tabubruch fort. Wojciech Kuczok diagnostiziert in seinen Essays und Filmkritiken immer wieder, dass heute der Film Gewalt und Tod bis ins kleinste Detail und die letzte Grausamkeit schildert, während man das vom Sex nicht sagen kann. Warum das so ist, darauf antwortet Kuczok:

    "Weil das Tabu weder im Tod noch in der Liebe liegt, beide werden im Kino doch bloß gespielt – es geht also um das Tabu der Nacktheit. Nacktheit ist immer echt, sie ist die höchst natürliche und genuine Eigenschaft eines jeden Menschen, (. .). Nacktheit lässt sich nicht vortäuschen, wovon wir uns überzeugen können, wenn wir ein durchschnittliches Hollywood-Produkt des Familienkinos anschauen, wo die Heldin allein in der leeren Wohnung aufwacht, aber, wenn sie aus dem Bett steigt, sich ganz in ein Laken einhüllt. Die Menschheit schaut lieber auf die Qualen bekleideter Körper als auf die Lust der nackten."

    So durchziehen nicht nur die Themen Gewalt und Sex die Essaysammlung von Wojciech Kuczok. Vielmehr beschäftigt er sich intensiv mit der Darstellung des Todes in den Filmen der letzten 20 Jahre, z.B. in Nanni Morettis "Das Zimmer meines Sohnes", Tim Robbins "Dead Man Walking" oder Andrzej Zulawskis Blue note. Dabei gibt Kuczok gerne philosophische Weisheiten von sich, die manchmal überraschen, ein anderes Mal jedoch banal erscheinen, wie dass der Wert des Lebens doch erst im Angesicht des Todes deutlich wird. Andererseits neigt Kuczok zur Kritik der Kultur- und Unterhaltungsindustrie aus den sechziger Jahren, als Herbert Marcuse ähnlich wie Pasolini darin die Wiederkunft des Faschismus ablas.

    So begreift Kuczok das von ihm sogenannte Popkino als das wichtigste Produkt der Massenkultur. Es bewirkt die "massenhafte Verbreitung von Todesbildern" und die "Marginalisierung des Todes gegenüber dem penetranten Hedonismus der Kulturindustrie. Die Popkultur erträgt keine Paradoxa, sie strebt danach, die derart gefilterte Wirklichkeit zu reproduzieren, damit sie in vereinfachter, markanter, eindeutig erkennbarer Gestalt bestehen kann."

    Es verwundert also nicht, wenn Pasolini zu Kuczoks Helden zählt, die wie denn auch Pasolinis Nachfolger z.B. Ulrich Seidls "Hundstage" oder Gaspar Noés "Irreversibel" den vergnügungssüchtigen Zeitgenossen einen erschreckenden Spiegel vorhalten. Dabei verteidigt er Pasolini auch gegen den Vorwurf, de Sades "Die 120 Tage von Sodom" nicht gerecht geworden zu sein. Denn Pasolini folgt de Sade gerade durch die gleiche starre Ritualisierung von Folter, Vergewaltigung und Mord.
    Ist das indes wirklich der richtige Spiegel? Spiegelt sich darin überhaupt die Wirklichkeit? Erfüllt ein Spiegel seinen Zweck, wenn er uns – und davon ahnt Wojciech Kuczok selber – zum vorzeitigen Verlassen des Kinos motiviert? Oder auch nur zum Schließen der Augen wenn diese Musik ertönt …


    Wojciech Kuczok: "Höllisches Kino. Über Pasolini und andere"
    aus dem Polnischen von Gabriele Leupold und Dorota Stroinska
    Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M., 2008, 139 S., 9 Euro