Donnerstag, 28. März 2024

Archiv


Wenn man nie richtig dazugehört

Das Anwerbeabkommen mit der Türkei sei eine Geschichte mit vielen Brüchen, Widersprüchen und Ungereimtheiten, sagt der Autor Imran Ayata. Der Sohn türkischer Einwanderer hofft, dass der Aspekt der Herkunft und der Abstammung in Zukunft nicht mehr die Bedeutung haben werde wie in seinem Leben.

Imran Ayata im Gespräch mit Anne Raith | 28.10.2011
    Anne Raith: Eigentlich war der Zeitkorridor abgesteckt. Zwei Jahre sollten die Gastarbeiter aus der Türkei bleiben, um in Deutschland zu arbeiten, dann sollten sie zurück in ihre Heimat. Doch aus diesem Zeitkorridor wurde eine Zäsur, die die deutsche Geschichte bis heute prägt. Unter den Gastarbeitern der ersten Stunde war auch der Vater von Imran Ayata. Er hat Anfang der 60er-Jahre auf dem Bau hier in Deutschland gearbeitet, später dann seine Frau nachgeholt. Imran Ayata ist dann in Ulm geboren, heute ist er Kommunikationsberater, DJ und Schriftsteller, gerade ist sein Roman "Mein Name ist Revolution" erschienen. Auch die Eltern des Protagonisten sind Gastarbeiter aus der Türkei. Mit ihm habe ich vor der Sendung über seine Sicht auf den Jahrestag gesprochen und zunächst zurückgeblickt, welche Schwierigkeiten seine Eltern hatten, nicht nur nach Deutschland zu kommen, sondern auch anzukommen.

    Imran Ayata: Die Schwierigkeiten, da gibt es ganz vielfältige. Zum einen geht es darum, erst mal Zugang zu finden zu dieser Gesellschaft. Aus deren Warte sind sie natürlich sehr neu, sehr andersartig, von Sprache über Alltagssituationen bis Arbeitsabläufe. Das ist ja eigentlich ein komplett neues Leben, wenn Sie so wollen.

    Raith: Sie sind dann, Herr Ayata, 1969 in Ulm geboren. Welches sind denn Ihre ersten aktiven Erinnerungen an die Kindheit in Deutschland?

    Ayata: Ach die sind gar nicht so anders als bei den meisten anderen, also eher so was wie nicht zum Kindergarten gehen wollen und solche Dinge, nicht sehr spezifisch.

    Raith: Und wenn Sie sich zurückerinnern, wie wichtig war da Ihre Herkunft? Welche Rolle hat die gespielt?

    Ayata: Ich bin gar nicht so sicher, ob die Herkunft so eine Rolle gespielt hat, sondern was viel wichtiger war, war eigentlich immer der Blick der anderen auf mich oder deren Verhältnis zu mir. Die Stationen, die sind alle stark für mich auch dadurch konturiert, dass man zwar immer dabei war, aber nicht richtig vollständig dazugehört hat. Das heißt, dieses Phänomen des ausgegrenzt seins durchzieht sich ja eigentlich durch solche Biografien sehr, sehr lange.

    Raith: An welche Situation erinnern Sie sich zum Beispiel?

    Ayata: Ich erinnere mich an die Situation, dass man nicht mit dem eigenen Vornamen gerufen wurde, sondern Ali gerufen wurde, weil in der Wahrnehmung Ali das Synonym für den Türken war. Von modischen Bezeichnungen wie Kümmeltürke und so weiter, da könnte ich jetzt eine ganze Sendung lang in Anekdoten verfallen. Das ist das, was so Ausdrücke von Alltagsrassismus ist.

    Raith: Das heißt, man hat Ihnen in gewisser Weise immer ein Etikett aufgeklebt?

    Ayata: Ja nicht durchgehend und auch nicht jeden Tag. Aber ich denke, es ist ein Kontinuum meines Lebens in Deutschland, klar.

    Raith: Was haben Ihnen denn auf der anderen Seite Ihre Eltern mitgegeben, dass Sie zum Beispiel Deutsch lernen sollen, dass Sie, auch wenn Sie das Wort nicht mögen, sich integrieren sollen?

    Ayata: Nein. Zum Glück reden meine Eltern nicht in der Sprache, in der Politiker über solche Themen reden. In der Tat haben sie mir nicht eingebläut, ich möge mich integrieren. Für meine Eltern war eigentlich die Leitorientierung, sich über Bildung einen Weg zu bahnen. Sie haben sehr viel ihrer Zeit und Ressourcen dafür eingesetzt, damit ich den Weg der Bildung wähle.

    Raith: Und den haben Sie gewählt, Sie haben Politik studiert. Wie oft stellt man Ihnen eigentlich heute noch die Frage, woher Sie kommen?

    Ayata: Nach meiner subjektiven Wahrnehmung viel zu häufig, aber ich kann es jetzt nicht in Zahlen oder in eine Regel überführen. Aber für mich kommt es immer noch absurd hoch vor.

    Raith: In einer Reportage zum 50. Jahrestag des Anwerbeabkommens schildert jemand das, was Sie schildern mit diesen Etiketten, als Dilemma der zweiten Generation. Er sagt, wir dachten, wir gehören dazu, gehören wir aber nicht. Empfinden Sie das auch so?

    Ayata: Ich glaube, es ist nicht eine Frage der Generation, sondern ich glaube, die zentrale Frage, die da zum Ausdruck kommt, was sind wir für eine Gesellschaft und wie wollen wir zusammenleben, und solche Etikettierungen und Zuschreibungen sind immer ein Ausdruck davon, dass man nicht gleichberechtigt und auf Augenhöhe zusammenleben möchte, sondern dass man so Hierarchien bildet.

    Raith: Eine Zeit lang haben Sie sich ja auch selber etikettiert. Sie gehören zu den Mitbegründern des Zusammenschlusses "Kanak Attack" Ende der 90er-Jahre und haben sich gegen Rassismus auch eben in seiner subtilen Form eingesetzt. Warum dann damals das Selbstetikett Kanake?

    Ayata: Das war ein Moment des Versuches der Selbstermächtigung, eben diesen Diskurs zu drehen, und zwar selbst zu bestimmen und zu definieren, wann, unter welchen Umständen man sich so nennt. Das heißt, selbst diese Art war ein Ausdruck eines politischen Verständnisses, das sehr stark davon geprägt war, selbstbewusst und mit Haltung zu gesellschaftlichen Themen Stellung zu beziehen.

    Raith: Was hat Sie damals so wachgerüttelt oder so aufgerüttelt, sich so zu etikettieren?

    Ayata: Im Wesentlichen waren das zwei Entwicklungen: einmal im Zuge der Wiedervereinigung die rassistischen Übergriffe, die ich so mit Orten wie Rostock, Lichtenhagen, Solingen, Mölln et cetera verbinde, und zum anderen eigentlich eine ewig währende Debatte, Diskurs über Multikulturalismus, die eine Debatte war, die nicht uns weiterbrachte.

    Raith: Hat es Sie denn weitergebracht, sich bei "Kanak Attack" zu engagieren? Hat sich an der Wahrnehmung irgendetwas geändert?

    Ayata: Ja es hat sich dahin gehend verändert, dass wir versucht haben, eine Sprache und Begriffe dafür zu finden, unser Leben und das, was uns für wichtig erscheint, in Begriffe, in Geschichten, in Forderungen zu formulieren. Das heißt, es hat meinen Blick dafür geschärft, wenn Sie so wollen, die Dinge beim Namen zu nennen und eben auch zu solchen Fragestellungen wie Rassismus Stellung zu beziehen.

    Raith: Hat sich denn auch die Wahrnehmung, wenn man das so verallgemeinern will, der Gesellschaft auf Sie geändert?

    Ayata: Das kann ich natürlich so pauschal nicht beantworten. Ich glaube, was eine Folge war, dass in bestimmten Milieus – da bin ich bescheiden genug; ich würde das jetzt nicht beanspruchen, das für die ganze Gesellschaft zu sagen, aber in bestimmten Milieus – tatsächlich begonnen wurde, anders über Themen, Fragen der Einwanderung und Migration nachzudenken, und dass wir heute beispielsweise den Begriff von Rassismus nutzen, ist, glaube ich, auch ein Ausdruck dieser Zeit und dieses politischen Anspruches.

    Raith: Die Schauspielerin Renan Demirkan empfindet die Distanz zwischen Deutschen und jenen Deutschen mit dem sogenannten Migrationshintergrund stärker als in ihrer Kindheit. Wenn Sie zurückblicken, geht Ihnen das auch so?

    Ayata: Das ist für mich schwer zu beantworten. Was ich sagen kann, ist, dass man je nachdem wo man sich bewegt, also in welchen auch gesellschaftlichen Milieus und sozialen Milieus, das sich sehr unterscheidet. Ich glaube, wenn zwei Banker sich irgendwie in einem Café begegnen und sich über die Welt unterhalten, haben die wahrscheinlich mehr gemeinsam, obwohl der eine mit, der andere ohne Migrationshintergrund ist, als ein Banker möglicherweise, der sich mit einem Hartz-IVler über die Welt und ihre Zustände unterhält.

    Raith: Dennoch beschäftigt uns das Thema ja stetig. Woran liegt das, an Versäumnissen in der Integrationspolitik, an mangelnder Integrationsbereitschaft?

    Ayata: Ich glaube, das beschäftigt uns deswegen, weil wir als Gesellschaft und Deutschland als Land damit konfrontiert ist, sich Antworten zu suchen auf die Frage, wie wollen wir im Kontext der Globalisierung und vor allem des Phänomens der Migration, das sich eben nicht so steuern lässt, wie viele einem glauben machen wollen, dass das so präsent und so wichtig für uns ist, dass wir permanent über diese Fragen sprechen und diskutieren müssen. Das heißt, die Fragestellung, ob die Menschen jetzt integriert sind oder nicht integriert sind, ob sie genug Deutsch sprechen oder nicht Deutsch sprechen, ist letztendlich, wenn Sie so wollen, ein Ausdruck der Veränderung Deutschlands, und deswegen ist das so ein wichtiges Thema, was uns auch künftig noch stärker beschäftigen wird.

    Raith: Wenn Sie zum Beispiel auf die dritte und vierte Generation blicken?

    Ayata: Ich glaube, dass wir einen neuen Blick und eine neue Perspektive und neue Begrifflichkeiten brauchen, jenseits dieser einstudierten Floskeln, wenn es um Einwanderer und um Migration geht. Ich vermute und ich hoffe, dass der Aspekt der Herkunft und der Abstammung nicht die Bedeutung hat, die es in meinem Leben hatte. Ich glaube, das wird sich sukzessive auflösen, weil ich vermute, dass das Nationale, also das Denken in nationalen Kategorien, in ethnischen Kategorien, mit zunehmender Globalisierung nach hinten gedrängt wird und dass dort dann Fragen wie nach Rechten und Teilhabe viel wichtiger werden als ethnische Abstammung. Wenn Sie so wollen, in der Formel gesagt: Es wird mehr um Demokratie als um Integration gehen.

    Raith: Aber trotzdem sehen wir ja auch in der dritten und vierten Generation, dass es nicht allen gelingt, Fuß zu fassen, und wir sortieren ja immer noch ein in diejenigen, die die Schule abbrechen, die, die keinen Job finden. Da spielt der Migrationshintergrund immer noch eine große Rolle.

    Ayata: Ja der Migrationshintergrund spielt deswegen eine Rolle, weil wir feststellen, dass beispielsweise bei Bildungsfernen und bei Leuten, die keinen Zugang zu den gesellschaftlichen Ressourcen haben, der Anteil der Migranten proportional höher ist. Nun gibt es einen fortwährenden Streit darüber, liegt das jetzt daran, dass die Migranten so sind, wie sie sind, oder liegt das an unserem Umgang mit ihnen. Und ich glaube, sehen wir mal von einzelnen Ausnahmen hinweg, dass es eher daran liegt, an den Phänomenen von Ausgrenzung und Rassismus, als an dem Widerwillen der Menschen, eine Sprache nicht lernen zu wollen. Das gibt es punktuell auch, aber das ist nicht das Problem.

    Raith: Die türkische Gemeinde in Deutschland kommt dennoch zu dem Schluss, oder trotzdem zu dem Schluss, dass die politische, gesellschaftliche und kulturelle Teilhabe im Großen und Ganzen gelungen ist. Wenn ich jetzt die vergangenen Minuten rekapituliere, kommen Sie zu einem differenzierteren Schluss.

    Ayata: Ich komme zu dem Schluss – in der Tat, ich finde, Sie haben das sehr auf den Punkt gebracht -, ich komme zu einem sehr differenzierten Blick. Es gibt solche, wenn wir hinschauen – und das sind auch die, die im Rahmen dieser Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag des Anwerbeabkommens zwischen Deutschland und der Türkei auf der Bühne sind, die man zeigt, die erfolgreich sind -, die sind natürlich genauso ein Teil dieser Geschichte wie der Umstand, dass unglaublich viele Menschen sozial benachteiligt sind, nicht Zugang zur Bildung haben, in Stadtteilen wohnen, wo wir beide wahrscheinlich nicht wohnen. Das sagt eigentlich, dass diese Geschichte eben ganz und gar nicht abgeschlossen ist, dass sie nicht stromlinienförmig verläuft, dass es unglaublich viele Brüche, Widersprüche, Ungereimtheiten gibt auf der einen Seite, und auf der anderen Seite wir nüchtern konstatieren können, dass diese Geschichte ein Teil der Geschichte Deutschlands geworden ist.

    Raith: Der Autor, DJ und Kommunikationsberater Imran Ayata im Gespräch mit dem Deutschlandfunk. Haben Sie herzlichen Dank!

    Ayata: Ich danke Ihnen.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

    50 Jahre türkische Einwanderung - Programmschwerpunkt im Radiofeuilleton bei Deutschlandradio Kultur