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Wenn normale Menschen töten

Das Thema "Gewalt" in der Moderne offenbart gewaltige Widersprüche: Einerseits haben wir seit der Aufklärung eine fast physische Abscheu vor Grausamkeit entwickelt. Andererseits gehören Genozid, Vernichtungskriege, Massenmord und Folter zur Geschichte der Moderne untrennbar hinzu. Sozialwissenschaftler und Historiker versuchen Antworten auf die Frage zu finden, wie aus normalen Menschen "Exzesstäter" werden.

Von Inge Breuer | 02.10.2008
    Reemtsma: "Eines der berühmtesten Bauwerke der Welt, das Kolosseum in Rom ist gebaut worden, um da das tausendfache Abschlachten von Menschen vor Augen zu führen."

    Welzer: " Das Erstaunliche ist, wenn man Völkermorde miteinander vergleicht, also da finden ganz ähnliche Prozesse der Sinngebung statt. In Ruanda wie es auch bei den Einsatztruppen im zweiten Weltkrieg gewesen ist."

    Greiner: "Es bedarf keiner Berserker, keiner Psychopathen. Wer anders als normale Männer hätte das in Gang setzen, durchhalten, inszenieren können? Dieser Befund ist unhintergehbar, der betrifft nicht nur die USA in Vietnam, sondern trifft auf alle kriegführenden Gesellschaften zu allen Zeiten zu."
    Die Christenverfolgungen im antiken Rom, das langsame Zu-Tode-Foltern der Opfer frühneuzeitlicher Hinrichtungen, die Judenvernichtung der Nazis, ethnische Säuberungen auf dem Balkan - das organisierte Quälen und Töten von Menschen ereignet sich quer durch alle Zeiten und Kulturen. Gerade das 20. Jahrhundert ist geprägt von entfesselter Gewalt. Und das, obwohl unsere moderne Zivilisation eine besondere Sensibilität gegenüber Grausamkeiten entwickelt hat: Wie barbarisch erscheint uns heute der Gedanke, Hinrichtungen wie Volksfeste zu feiern oder Diebe mit Handabhacken zu bestrafen! Doch beides kennzeichnet die Moderne, meint der Hamburger Literaturprofessor Jan Philipp Reemtsma: Monströse Gewaltexzesse auf der einen Seite - und auf der anderen eine Abscheu vor Gewalt, die sich seit der frühen Neuzeit allmählich entwickelt hat:

    "Es entstehen Stimmen, die einen Widerstand, eine Abneigung, einen Ekel vor Gewalt artikulieren. Da sind Namen wie Montaigne oder die Kritiker der Hexenprozesse. Wenn Montaigne darüber schreibt, dass wir uns über die Kannibalen in der Karibik aufregen, er sagt, was ist eigentlich schlimmer, wenn man einen toten Menschen isst oder wenn jemand öffentlich zu Tode gequält wird? Dann spricht er da nicht eine intellektuelle Ebene an, sondern er appelliert an Emotionen, er appelliert daran, das scheußlich zu finden. Und irgendwann gibt es in Frankreich einen Angriff auf das Schafott, das Rad wird zerstört. Man fängt an darüber nachzudenken, wenn es schon die Todesstrafe geben soll, dann soll sie wenigstens schmerzfrei sein, wenn irgend möglich. Und im 19. Jahrhundert gibt es dann Schriften, die sagen, hier stehen ja immer noch Galgen rum in der Landschaft, das ist ja scheußlich, das können wir unseren Kindern doch nicht zumuten, die müssen wir jetzt abmontieren."
    Die Moderne stellt sich widersprüchlich dar, schreibt Jan Philipp Reemtsma in seinem Buch "Vertrauen und Gewalt". In der Tat hat sie einen geradezu physischen Ekel vor Grausamkeit entwickelt. Die Anwendung von Gewalt gerät zunehmend unter Rechtfertigungsdruck. Mit dem Gewaltmonopol des Staates und der rechtsstaatlichen Ordnung sind in der Moderne Institutionen entstanden, die den Bürger vor Willkür und Grausamkeit schützen.
    Doch immer wieder, so Reemtsma, "stürzte das Dach ein". Genozid, Vernichtungskriege, Massenmord und Folter im Namen einer besseren Zukunft gehören zur Geschichte der Moderne. "Wie konnte das geschehen"? fragt sich der aufgeklärte Mensch in Friedenszeiten. Wie konnte es nur passieren, dass brave Familienväter, nette Nachbarn zu Massenmördern wurden? Die Menschen am Fließband erschossen, vietnamesischen Mädchen Handgranaten in die Vagina steckten und irakische Gefangene an Hundeleinen "Gassi" führten? Eine unsinnige Frage, meint Reemtsma, wer hätte es denn sonst tun sollen? Wer, wenn nicht unsere braven Mitbürger? Denn solche Gewaltexzesse lassen sich nicht als Taten verrückter Sadisten erklären. So viele von dieser Sorte gibt es gar nicht. Und noch nie hat ein Regime, das seinen Terror- und Folterapparat aufbauen wollte, über Personalknappheit klagen müssen. Prof. Bernd Greiner, Leiter des Arbeitsbereichs "Theorie und Geschichte der Gewalt" am Hamburger Institut für Sozialforschung sieht es ähnlich:

    " Die Täter, diejenigen, die Gewaltexzesse zu verantworten haben, kommen aus der Mitte der Gesellschaft und sie zeigen in aller Regel von ihrer Ausbildung, ihrer Mentalität, ihrem Verhalten keine signifikanten Abweichungen. Andererseits kommt es für Historiker darauf an, sehr präzise die Umstände zu benennen, unter denen es möglich ist, dass normale Menschen zu dem werden, was wir als Exzesstäter beschreiben: Dazu bedarf es eines genauen analytischen Blicks, welche Voraussetzungen mussten erfüllt sein, damit die vermeintlich Normalen aus der Norm herausspringen und etwas tun, was wir normalerweise nicht begreifen."
    Welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit der "nette Mann von nebenan" zum Massenmörder wird, damit beschäftigten sich in den letzten Monaten diverse Forschungsprojekte, Bücher und Tagungen. Der Sozialpsychologe Prof. Harald Welzer vom Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen untersuchte Verbrechen der Nationalsozialisten. Auf einer Tagung über "Extreme Gewalt" in Berlin beschrieb er, wie das massenhafte Töten innerhalb weniger Wochen zu einer, wenn auch unangenehmen Arbeit werden konnte, die aber erledigt wurde wie jede andere auch.

    " Das Wesentliche ist eine Orientierung auf eine Wir-Gruppe, das heißt es gibt ein Kollektiv, zu dem ich gehöre und auch gehören möchte, und es gibt die Gruppe, die aus verschiedenen Gründen nicht dasselbe Lebensrecht hat und eine Bedrohung darstellt, so dass es sinnvoll ist, die zu töten. Der zweite Punkt ist der, Täter sind in aller Regel in der Lage, ihrem Tun zumindest nachträglich einen Sinn beizumessen, eine Begründung dafür zu finden, weshalb sie etwas tun mussten, was ihnen in einer anderen Situation widerstreben würde. Es widerstrebt ihnen übrigens auch beim Töten selbst, aber sie finden Begründungen dafür, dass sie dieses Widerstreben überwinden können und dann töten."
    Welzer untersuchte zum Beispiel das "Polizeibatallion 45", das während des Zweiten Weltkriegs in der Ukraine Abertausende jüdische Menschen umbrachte. Das Morden wurde für die Männer genau so alltäglich wie die Essenausgabe, die Arbeitspausen beim Töten oder die Ablösung bei Übelkeit. Einer von ihnen, im Zivilberuf Friseur, schickte einen jüdischen Barbier aus dessen Laden zur Deportation, um dessen Kunden dann gewissenhaft zu Ende zu rasieren. Ein anderer gab nach dem Krieg zu Protokoll, er habe ja nur die jüdischen Kinder erschossen, weil diese, nachdem ihre Eltern schon tot waren, ohnehin keine Lebenschance mehr gehabt hätten. - Die "Moral" von Massenmördern!

    "Es wurde immer dabei die Vermutung geäußert, nationalsozialistische Täter sind moralisch korrumpiert, es ist der völlige moralische Verfall, es ist ein Irrsinnssystem, es ist die Barbarei, der Zivilisationsbuch. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich etwas viel Bedrückenderes, dass nämlich diese Täter sich permanent über ihr moralisches Vermögen vergewissern, indem sie sagen, ich habe mir etwas Besonderes überlegt, wie ich die Leute umbringe, ich hab nicht nur nach Befehl gehandelt, sondern ich hab mir bestimmte Arrangements überlegt, wie es ihnen weniger schwer fällt zu sterben, wie ich das Töten humaner organisiere."
    Anders wiederum die Situation in Vietnam, die Bernd Greiner in seinem Buch "Krieg ohne Fronten" untersucht hat. Denn während die Nationalsozialisten den Krieg in Russland von Anbeginn an als Vernichtungskrieg definiert hatten, behauptete die politische Führung der USA, in Vietnam einen Krieg um die "Herzen und Seelen der Zivilbevölkerung" zu führen. Doch zugleich kam es immer wieder zu systematischen Morden an der vietnamesischen Bevölkerung. "My Lai" benennt nur das bekannteste Massaker, wo amerikanische GI's in dem südvietnamesischen Dorf 503 Zivilisten - Frauen, Kinder, Greise - und sämtliche Tiere kaltblütig niedermetzelten. Kaum ein Soldat verweigerte den Befehl zum Mord.
    " Weil sie in erster Linie einen Krieg ohne Fronten führen mussten, weil sie ihren Gegner nie zu Gesicht bekamen, gleichwohl extremste Verluste hatten zum Beispiel durch Sprengfallen, durch Minen, durch Heckenschützen usw., und auf der anderen Seite keinerlei Erfahrung, irgendwelche Fortschritte zu machen. Das ist ein wichtiger Punkt, dass in wenigen Wochen in Vietnam ganze Einheiten zu marodierenden Haufen werden konnten. Wenn Sie das Beispiel My Lai nehmen, so können wir viele Faktoren feststellen, die als Kalkül, als rational zu bezeichnender Vorsatz zu verbuchen sind, strategische Vorgaben, die sich in dieser Situation vermengen mit einer Gewaltbereitschaft einer frustrierten verängstigten Gruppe von 20-, 21-Jährigen. Die, die in einem Blutrausch dort handelten, kann man an einer Hand abzählen, derer bedurfte es nicht."
    Die Moderne, so fasst Jan Philipp Reemtsma zusammen, delegitimiert Gewalt, um sie aber zugleich unter bestimmten Umständen zu relegitimieren. Gewalt darf angewendet werden, wenn der Feind ein Barbar ist, den es zu zivilisieren gilt. Oder im Namen der Revolution, um die Welt endgültig in Ordnung zu bringen. Oder der Feind ist ein Schädling, dann darf man ihn ausrotten.
    Streng verboten und verpönt ist allerdings in der Moderne jene Gewalt, die aus purem Selbstzweck ausgeübt wird, aus bloßer Lust an der Zerstörung des fremden Körpers. In anderen Kulturen hatte - und hat - sie eine uns erschreckende Selbstverständlichkeit. Dort wird Gewalt nur als schrecklich für den empfunden, dem sie angetan wird. Für uns dagegen ist sie etwas Schreckliches an sich. Doch letztlich zeigten die Bilder von Abu Guraib, wo amerikanische Soldaten irakische Häftlinge folterten, das diese Lust am Quälen anderer keineswegs verschwunden ist. Wenn man Areale schafft, wo eine solche Gewalt ausgeübt werden kann, wird sie ausgeübt werden. Offensichtlich ist die absolute Macht über den Körper des anderen verführerisch, zu allen Zeiten. Begleitet ist die Ausübung dieser Gewalt oft von einer Infantilisierung der Peiniger. Etwa, wenn die Gestapo bei ihren Razzien in Judenhäusern Kotschmierereien hinterließ.

    Reemtsma: "Es ist wahrscheinlich das größte Machterlebnis, dass der Mensch haben kann, den Körper eines anderen Menschen zu zerstören. Ein Kind, das langsam groß wird, lernt, dass es nicht allmächtig ist, das ist für Kinder schmerzlich, dann lernen sie auch noch, dass ihre Eltern nicht allmächtig sind, das ist auch schmerzlich, dann lernen sie, dass Menschen überhaupt nicht allmächtig sind. Und plötzlich kommen Menschen in eine so extreme Machtsituation und es scheint so zu sein, dass Menschen dann diese Lektion wieder verlernen und dann infantil werden."
    So sehr die Moderne also Gewalt auch einzudämmen versucht, zeigt die Geschichte, dass der Dammbruch jederzeit wieder möglich ist. Das Vertrauen in die Gewaltarmut der westlichen Gesellschaften ist zwar durchaus berechtigt. Doch gibt es keine Garantie, das dies so bleiben muss.

    Reemtsma:" Man kann nur feststellen, dass der Prozess des Umlernens, also man ist gewöhnt an einen gewaltarmen Alltag und dann ändert sich das Regime und dann ist Gewalt massiv anwesend und die Leute gewöhnen sich dran. Die Leute müssen das nicht billigen, aber irgendwann ist es Alltag, dass Leute schikaniert werden, gekennzeichnet werden und exportiert werden und der Rest der Bevölkerung schaut zu, das geschieht dann sehr schnell, wenn es einen Regimewechsel gibt, dann können diese Institutionen auch im Nullkommanichts wieder ruiniert werden."
    Harald Welzer stellte in seinen Untersuchungen fest, dass mit einer veränderten Wirklichkeit auch die Wahrnehmung sich verändert. So kam es nach 1933 schnell zu einem Wertewandel in der Bevölkerung. Die Ungleichheit wurde mit der Zeit normal. Man gewöhnte sich an die Judendeportationen. Man dachte: Aha so ist das jetzt, das ist jetzt erlaubt! - Und dann meldete man sein Interesse an der Wohnung an, aus der die Juden gerade abtransportiert wurden. Welzer stellt fest,

    "dass an der Stelle, wo auf der Ebene des Regierungshandelns und der Institutionen bestimmte Dämme brechen, gibt es kein Halten mehr. Und das Stärkste, was auf der Ebene von Vorurteilen, von Stereotypen vorhanden ist, ist, dass es unterschiedliche Kategorien von Menschen gibt. Wenn das rechtsfähig wird, dann ist Tür und Tor offen für jede Dynamisierung von Unmenschlichkeit. Das heißt Rechtsstaaten, die nach Gleichheitsprinzipien funktionieren, sind erst einmal ein ganzes Bollwerk gegen diese Formen von Eskalationen."
    Es sind weniger individuelle Moralvorstellungen als mehr rechtsstaatliche Institutionen, die die Zivilisation aufrecht erhalten. Allerdings kann man aus dieser Zivilisation auch wieder aussteigen. Die Nationalsozialisten stellten ab 1933 mit ihren Nürnberger Rassengesetzen und vielen weiteren Einzelregelungen ihre mörderischen Ziele auf eine formaljuristische Grundlage. - Und auch moralische Maßstäbe können sich ändern: Ist es nicht vielleicht doch legitim, Terroristen - zur Abwendung weiteren Terrors - zu foltern, vielleicht zumindest mal 30 Minuten?

    Reemtsma:" Die Verrechtlichung von Machtbeziehungen ist ein wesentliches Moment, die Monopolisierung von Gewalt, die aber wieder nicht davor schützt, dass das Gewaltmonopol selber mörderisch werden kann. Wir wissen natürlich eine Menge darüber, was passiert wenn man zum Beispiel einen Raum wie Abu Guraib schafft, der ist abgeschlossen, da guckt keiner rein, man gibt bestimmte Befehle, meistens sind sie diffus, aber sie geben die Richtung an, in die es gehen darf. Dann wird es genügend Leute geben, die das dann machen und dann entstehen die Bilder, die uns alle so erschreckt haben."
    Unsere Gesellschaftsordnung folgt keiner Vernunft, keinem zwangläufigen Fortschritt in der Geschichte. Die Geschichte lehrt vielmehr, dass es bislang leicht war, die moderne Aversion gegen Gewalt in eine Bejahung extremer Gewalt zu verwandeln.

    Reemtsma: "Man muss auf eine gewisse Nervosität setzen, ein Wissen darum, dass es institutionell nie vollkommen gesichert ist, dass es immer wieder schief gehen kann. Man braucht dieses Gefühl der Angst, dass es schief gehen kann und das Selbstbewusstsein, dass wir alles dafür tun, dass es nicht mehr schief geht."
    Wenn aber, wie der Skeptiker Jan Philipp Reemtsma meint, unsere Idee der Vermeidung von Grausamkeit keineswegs "vernünftiger" ist als andere Ideen, dann heißt das leider auch: Mittels Vernunft und guten Argumenten kann man Gesellschaften, die im Namen Gottes die Scharia ausführen, nicht von den Vorzügen liberaler Gesellschaften überzeugen:

    "Das ist emotionelles Lernen, da nützt es nichts, wenn Sie das an der Wandtafel versuchen abzuleiten an einer allgemeinen Formel, wie der Menschenwürde. Denn wer über den Anblick eines Menschen in Not nicht erschüttert ist oder eines gequälten Menschen, der wird auch von der Idee der Menschenwürde auch nicht viel halten. Es sind Geschichten gewesen, im 19. Jahrhundert, wie der Glöckner von Notre Dame, der das Opfer von Folter ist und die Leute schilderten, die man als monströs empfand, aber lernte sie als geschundene Kreaturen zu sehen, mit denen man Empathie haben konnte. Das sind keine philosophischen Deduktionen, aus denen das hervorgegangen ist und das einzige, was wir tun können, ist diese abendländische Version immer wieder zu erzählen und Leuten vor Augen zu führen und zu fragen, wo geht es uns eigentlich besser, hier im Europa des Jahres 2008 oder in Teheran, wo Leute noch gesteinigt werden wegen Ehebruch und wo es Vorschriften gibt, wie schwer diese Steine sein dürfen, damit der Tod nicht zu schnell eintritt? Was Sie vielleicht hinkriegen, so jemanden einzuladen und vielleicht merkt er, dass es sich in Ländern, wo man nicht gesteinigt wird, besser lebt."