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Wenn Rot nicht Braun ist

In der Moskauer Intellektuellen-Szene ist der Philosoph Michail Ryklin eine Ausnahme, denn keiner versteht es wie er, östliches und westliches Denken miteinander zu verbinden, den Osten für den Westen verstehbar zu machen. Geboren 1948 in Leningrad, erlebte er seine Kindheit in der Breschnew-Ära, und sobald es möglich war, drängte es ihn in den Westen, vor allem nach Frankreich:

Von Lerke von Saalfeld | 11.11.2003
    Meine erste Reise nach Paris war 91, danach bin ich viel gereist. Zuvor war es ein bisschen schwieriger, ich war niemals Parteimitglied und zu sowjetischen Zeiten war so was erforderlich für die Leute, die reisten. Seitdem war ich in Frankreich, unterrichtete für ein Jahr in Amerika und war mehrmals in Deutschland. Es war ein gewisses Interesses für französische Philosophie, die ich schon als Student entwickelt hatte. Ich habe die Thèse zum französischen Strukturalismus geschrieben, nämlich zu Claude Lévi-Strauss, das war meine erste Dissertation. Es gab ein gewisses Interesse für französische Philosophie in den Kreisen in Moskau, zu denen ich gehörte. Meine Freunde interessierten sich für Foucault, Deleuze, Derrrida. Ich hatte die Ehre, von Jacques Derrida nach Paris eingeladen worden zu sein, und ich hatte diese seltene und wertvolle Möglichkeit, mit einem der bedeutendsten Philosophen der Gegenwart zusammenzuarbeiten.

    Ryklin ist nicht im Westen geblieben, er ging zurück nach Moskau und berichtet seit 1996 in der Zeitschrift "Lettre International" über die kulturelle und philosophische Szene in der russischen Hauptstadt. Nun hat er in der edition suhrkamp alte und neue Essays vorgelegt, die immer wieder um ein Thema kreisen, um die "Logik des Terrors". Er befasst sich mit einem Problem, das in Moskau nicht sehr in Mode ist. Die Vergangenheit soll lieber ruhen, an Aufarbeitung und Auseinandersetzung sind nur wenige interessiert. Der Vergleich zwischen Hitlers und Stalins System beschäftigt Ryklin besonders, denn die schlichte These rot = braun überzeugt ihn nicht:

    In meinem Buch, das bei suhrkamp erscheint, versuche ich, den Begriff Totalitarismus zu dekonstruieren. Ich will zeigen, dass diese beiden Systeme, Nazi-Deutschland und Stalins Russland, sie waren sehr verschieden. Das schließt selbstverständlich die Ähnlichkeit nicht völlig aus, aber heute sollen wir lernen, mit diesen Unterschieden zu arbeiten. Die Unterschiede waren sehr groß, die Feindbilder waren verschiedenartig gestaltet, die Deprivatisierung des Lebens in der Sowjetunion war viel fortgeschrittener als im Deutschland der Nazizeit. Diese völlige Entprivatisierung hat in Deutschland nicht stattgefunden. Diese Unterschiede sind bedeutsam, insbesondere wenn beide System schon der Geschichte angehören, denn als die Sowjetunion noch existierte, spielte der Totalitarismus-Begriff eine große Rolle in der politischen Sphäre, denn es war kalter Krieg und man musste diese sehr strenge, starke Grenze ziehen. Aber heute gehört auch die Sowjetunion zur Vergangenheit und wir sollen diese Systeme als zwei Archive analysieren und nicht als lebendige, miteinander kämpfende, sich versöhnende und vertragende Systeme.

    Ryklin ist ein scharfer Beobachter der Gegenwart und der Geschichte. Ihn faszinieren nicht abstrakte Theoreme, sondern das Leben in der Geschichte. Als er fünf Jahre alt war und mit seiner Mutter von Moskau nach Wladiwostok reiste, wo die Familie zeitweise lebte, weil der Vater Militärarzt war, da erzählte ihm die Mutter, wie sie schon als Kind an der Schwelle des Todes stand. Die Familie war bedroht von zwei Seiten, vom Terror des Stalinismus und vom Terror des Nationalsozialismus. Und mit diesem persönlichen Erlebnis beginnt Michail Ryklin seine Essay-Sammlung als Bericht seiner Mutter:

    Ein Teil meiner Familie wurde durch das stalinistische System umgebracht. Mein Großvater mütterlicherseits starb 1942 in Kolyma; der andere Teil meiner Familie wurde in Weißrussland durch die Deutschen umgebracht. Meine Mutter war 14 Jahre alt, sie war Augenzeugin dieser Ermordung. Warum ich diese Erzählung an den Anfang meines Buches platziert habe, deshalb, weil es sich um zwei verschiedenen Systeme handelt, die, was die Greueltaten angeht, vergleichbar sind, aber die Mechanismen dieser Greueltaten waren sehr verschieden. Also meine Familie wurde durch beide Systeme viktimisiert.

    Der Terror verpuppt sich in merkwürdigen, auch scheinbar harmlosen Ausdrucksformen. Zum Beispiel im Bau der Moskauer Metro. Ryklin beschreibt, wie umjubelt dieser pompöse Bau war, weil er als Symbol des proletarischen Sieges im Sozialismus gefeiert wurde. Für den einfachen Mann wurde jede Metrostation zur hoch dekorierten Kathedrale der Technik ausgebaut. Die Bahn war kein gewöhnliches Transportmittel, sie war das strahlende Zeichen für eine neue Zeit. Im selben Zusammenhang steht der Versuch, Moskau durch architektonische Umbauten in die Metropole der Weltrevolution zu verwandeln. Besonders interessant sind Ryklins Essays deshalb, weil er den Westen bestens kennt und mit einem doppelten Blick gerade für den Westler Dinge durchschaubar macht, die sich sonst unserem Verstehen entziehen. Der Titel des Buches lautet "Räume des Jubels" und geht zurück auf André Gide, der in den dreißiger Jahren Moskau besuchte, wenig überzeugt war vom sozialistischen Fortschritt und vor allem nicht verstand, warum die Menschen trotz all der Armut und des Elends, lachen und jubilieren. Ryklin klärt auf:

    Es ist keine Ironie, die Leute jubelten. Aber Jubeln ist die schwerste Form der Äußerung des Traumas. Jubeln ist keine Fröhlichkeit. Unter dem Terror kann man nichts anderes machen. Wer nicht jubelt, der kann nicht überleben. Wenn wir nicht lachen, nicht jubeln, wenn wir nicht die äußeren Zeichen der Begeisterung zeigen, dann werden wir verdächtigt. Gide konnte das nicht verstehen als Ausländer, für ihn blieb es ein Geheimnis, warum die Leute so viel lachen, wenn alles so schlecht geht. Ich versuchte, das umzudrehen, sie jubeln, weil es schlecht geht.

    Gide wollte sich keine potemkinschen Dörfer vorspiegeln lassen, wie es gut zehn Jahre vorher Walter Benjamin erging. Allerdings weist Ryklin nach, dass Benjamin einen großen Unterschied machte zwischen seinen damaligen Veröffentlichungen zur Sowjetunion, die stramm auf Linie waren, und seinem Tagebuch, dem er seine Zweifel anvertraute. Die Verblendung nicht weniger Schriftsteller, sieht Ryklin darin begründet, dass der wachsende Faschismus alle Skepsis verscheuchte; die Sowjetunion musste – auch wider besseres Wissen - begrüßt werden, verbunden mit einem Hauch utopischer Exotik.

    Die Brillanz der Essays von Michail Ryklin beruht auf der geschliffenen Art, äußere Phänomene als Zeichen eines Systems zu durchleuchten. Zum Beispiel, warum Stalin so gerne Süßigkeiten und Torten verspeiste, oder seine ironische Auseinandersetzung mit dem Kultautor Vladimir Sorokin, die er unter die bange Frage stellt: "erst Austern, dann Borschtsch?" Ryklin gehört zu einer Zwischengeneration, weder ist er ganz jung – und damit so frech und keck wie Sorokin -, noch gehört er zu der älteren Generation, deren Leben durch Verfolgung und alle Arten von staatlichem Terror beschwert wurde:

    Seit 17 Jahren lebe ich in Moskau. Ich war zu sowjetischen Zeiten kein Dissident, aber, ich glaube, dass die Arbeit, die meine Freunde und ich in dieser Zeit gemacht haben, war eine der Vorbedingungen für die Möglichkeiten der Kritik der heutigen russischen Kultur. Ich war kein politischer Dissident, aber ich war Kultur-Dissident, philosophischer Dissident. Das bedeutete gar nicht, dass ich die offizielle Meinungen schätzte. Aber es gab gewisse Möglichkeiten der Zuflucht in verschiedenen Bereichen. Zum Beispiel in unserem Institut für Philosophie konnte man zum Beispiel Geschichtsphilosophie machen, um mit der politischen Affäre nichts zu tun zu haben. Es gab verschiedene Arten von Dissidenz, es gab politische Dissidenz, es gab Kulturdissidenz.

    Längst hat sich Michail Ryklin auch politisch eingemischt, er ist einer der schärfsten Gegner von Putins Tschetschenienkrieg; und das ist in Rußland nicht ungefährlich. Die deutschen Leser sollten jetzt seine eindrucksvollen Essays lesen, denn sie sind ein Schlüssel für manches, was uns unbegreiflich ist an der russischen Gegenwart.

    Michail Ryklin
    Räume des Jubels, Totalitarismus und Differenz. Essays
    Aus dem Russischen von Dirk Uffelmann
    edition suhrkamp, 244 S., EUR 12,-