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Wenn sich Geschichte wiederholt

Irland geht es schlecht: Die einheimische Wirtschaft schrumpfte im vergangenen Jahr um ein Zehntel. Die Folge: Auswanderung in großem Stil. 2009/2010 haben etwa 28.000 Iren die Insel verlassen - 50 Prozent mehr als im Vorjahr.

Von Martin Alioth | 18.10.2010
    Wir saßen in einer Kneipe im Dorf Kells, als Madeleine plötzlich sagte, 'Ich muss raus hier', erinnert sich der 26-jährige Michael Hagan. Er habe gefragt 'Raus aus Kells?' Worauf sie nur sagte 'Nein. Raus aus Irland'. – Früher wären Madeleine Woods und Michael Hagan aus dem Dorf Julianstown, 40 Kilometer nördlich von Dublin, nicht offensichtliche Auswanderer gewesen.

    Die 26-jährige Frau hat einen naturwissenschaftlichen Universitätsabschluss und eine Zusatzausbildung in Kommunikation, er erwarb sich sogar einen Master-Titel in Marketing. Beide haben feste Anstellungen, sie im Verband der Personalvermittler, er als Vertreter im Lebensmittelhandel. Warum also der Neubeginn in Australien?

    Einige ihrer Freunde seien ausgewandert, obwohl sie Arbeit hatten. Sie wolle dem allgemeinen Pessimismus entkommen, für den die Medien verantwortlich seien. – Es ist in der Tat kein Honiglecken, dieser Tage die irischen Nachrichten über sich ergehen zu lassen. Das Ende der Welt – oder zum mindesten Irlands – scheint täglich unmittelbar bevorzustehen. Das deprimiert nicht nur Madeleine. Für Michael liegen die Dinge etwas anders:

    Im Juli 2008 schloss er sein Studium ab; einen Monat später explodierte die Wirtschaft. Seine hohen Erwartungen, die an der Uni gezielt geschürt worden waren, schrumpften:

    Die Dozenten hätten Klartext gesprochen: so viel Geld verdienst du damit, so viel Geld mit dem andern. Man versprach uns die Welt, erinnert sich Michael etwas wehmütig. Aber die Welt blieb zuhause; deshalb seien viele junge Leute frustriert.

    Das junge Paar kannte nur Wachstum und Wohlstand, aber sie beklagen sich eigentlich nicht.

    Er sei zum Schluss gekommen, dass ihnen niemand etwas schuldete; sie erwarteten es bloß. Jetzt will er in Australien versuchen, seinen erlernten Beruf auszuüben, sonst sei er auch in zehn Jahren noch Vertreter. Madeleine fühlt sich bestraft für Sünden, die sie nie beging:

    Sie profitierte nie vom Boom, sie war immer arm. Sie habe den Luxus, für den sie jetzt bezahlen müsse, nie genossen. Daher sehe sie nicht ein, weshalb sie höhere Steuern zahlen solle.

    Und so bewundert sie den Widerstandsgeist der Franzosen:

    Die Iren seien wie Schafe. Sie könne sich nicht vorstellen, was es brauche, um sie zum Handeln zu bewegen. – Es ist diese Weigerung zu resignieren und zu stagnieren, die die beiden zur Auswanderung treibt. Und sie sind ja nicht allein. Michaels Kreis von gleichaltrigen Freunden im Dorf gibt es nicht mehr, weil alle gegangen sind.

    Madeleines beiden Brüder sind schon in Australien. Ihr Vater Tom bereitet sich auf ein leeres Haus vor. Er kennt die Auswanderung aus eigener Anschauung:

    Man habe immer Heimweh in Australien. Der Wilde, so sage das Sprichwort, liebe seine eigene Küste.

    Natürlich werde er seine Kinder vermissen. Er sei wütend auf die Regierung, deren Inkompetenz so viele in die Emigration treibe. Allerdings: als Tom 1973 nach Australien auswanderte, hatte er keinen Beruf gelernt und wusch Lastwagen. Seine Tochter ist qualifiziert und wuchs in einem großzügigen Einfamilienhaus auf. Spurlos ist das irische Wirtschaftswunder nicht vorbei gegangen.