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Wer bin ich?

Marie NDiaye veröffentlichte mit 17 ihren ersten Roman, 2009 bekam sie für "Drei starke Frauen" den Prix Goncourt. Mit "Selbstporträt in Grün" liegt ein etwas älteres Buch vor, das im Original bereits 2005 erschienen ist - und kunstvoll mit allen Formen und Genres bricht.

Von Claudia Kramatschek | 04.07.2011
    "Dezember 2003 – Es ist Abend, und die Garonne schwillt in der Dunkelheit Stunde um Stunde an. Wir wissen alle, dass die Deiche rund um das Dorf es dem Fluss erlauben, auf einen Pegel von neun Metern anzusteigen, ehe wir überschwemmt werden. Das wissen wir. Es ist das Erste, was jeder gesagt bekommt, der beschließt, sich hier, in dieser von jeher den Hochwassern der Garonne unterworfenen Gegend niederzulassen."

    Liest man die ersten Sätze von 'Selbstporträt in Grün' aus der Feder von Marie NDiaye, findet man sich rasch wieder in einer Welt, die besiedelt ist von Natur und Landschaft, von Frauen und Kindern, und vor allem von der gefräßig dahin fließenden Garonne, die dabei ist, die Ufer zu übertreten, die Landschaft zu überfluten. Ebenso rasch wähnt man sich eher in einem Roman statt in einem Selbstporträt. Denn was, so fragt man sich, hat die über die Ufer tretende Garonne in einem Selbstporträt der Autorin Marie NDiaye zu suchen? Fortan wird die Garonne den Fluss der Erzählung punktieren, wird ihren Rhythmus bestimmen und – in Erwartung der Überschwemmung – auch eine unterschwellige Spannung hervorruft. Doch so wie dieser Fluss beständig über die Grenzen tritt, ist auch "Selbstversuch in Grün" ein Buch, das die Grenzen seines eigenen Genres in actu sprengt, indem es bis in seine formale Gestaltung hinein gekonnt mit der Frage spielt: Wer bin ich, wenn ich schreibe? Denn NDiaye enthüllt nicht, sondern verbirgt – noch dort, wo wir autobiografische Bruchstücke aus dem Leben der Ich-Erzählerin erfahren, die nahelegen, diese sei identisch mit der Autorin namens Marie NDiaye: Da ist das Dorf an der Garonne, wo auch NDiaye einst zu Hause war; da ist die Zahl der Kinder, der Name des Ehemannes, ein Kulturzentrum in Burkina Faso, wo auch NDiaye als Gast zu einem Symposium geladen war. Und dann ist da noch die rätselhafte Frau in Grün, die eines Morgen die Aufmerksamkeit der Ich-Erzählerin auf sich zieht, als diese die Kinder zur Schule fährt:

    "Wie konnte ich meinen Kindern sagen, es erscheine mir unwahrscheinlich, dass sie diese Frau in Grün ebenso deutlich sahen, wie ich sie jetzt sah, auch wenn sie sich, wie ich wusste, bis zu diesem Morgen zwar nicht meinem Blick, aber doch meinem Bewusstsein entzogen hatte? Da sagte ich mir: Die Frau in Grün ist immer da gewesen. Jeden Morgen und jeden Nachmittag ist sie da, auf ihrem Posten unter der Bananenstaude, und sie sieht uns zu, wie wir langsam vor ihrem Haus vorbeifahren, sie sieht mich, die sie ansieht, ohne sie zu sehen."

    Diese Frau ist nur die Erste von vielen Frauen in Grün, die den Text bevölkern und denen die Ich-Erzählerin zu verschiedenen Zeitpunkten ihres Lebens begegnet ist. Es sind Frauen mit grünen Augen und grüner Kleidung – Frauen am Rand des Wahnsinns, Frauen, die eine Atmosphäre des Schreckens verbreiten. NDiaye erklärt uns nicht wirklich, wer sie sind, woher sie kommen. Zeit und Raum scheinen sowieso wie aufgehoben im irritierenden Fortgang dieser Erzählung. Nein, diese Frauen in Grün sind vielmehr dazu da, die Ich-Erzählerin selbst zu personifizieren, um im Spiegel dieser Frauen den Ort zu bestimmen, von dem aus dieses Ich sprechen, schreiben, Ich sagen kann:

    "In der blitzsauberen Küche meiner Schwestern sitzend frage ich mich, wie ein Leben ohne Frauen in Grün zu ertragen wäre, ohne ihre vieldeutige Gestalt im Hintergrund. Ich brauche, um jene Momente der Benommenheit, der tiefen Langeweile, der verstörenden Trägheit ruhig durchzustehen, die Erinnerung daran, dass sie meine Gedanken, mein unterschwelliges Leben bevölkern, dass sie da sind, reale Menschen und literarische Figuren zugleich, ohne die mir die Rauheit des Lebens Haut und Fleisch abschürfen würde bis auf den Knochen."

    Am Ende dieses Selbstporträts wird die Garonne über die Ufer getreten sein. Der Leser dagegen wird nicht wirklich mehr erfahren haben über eine Autorin namens Marie NDiaye. Für die Zeit der Lektüre aber sind wir gefangen in einem verwirrenden Vexierspiel mit jener Frage nach Subjekt und Sujet, die dem Genre des Selbstporträts zugrunde liegt – ein Genre, das NDiaye hier bedient, indem sie es beständig unterläuft, seine Grenzen infrage stellt. So sind auch die lose in den Text eingefügten, unkommentierten Fotografien zu verstehen, die wir zwar sehen, aber nicht wirklich verstehen. Wovon sie erzählen, ist die diffuse Ambiguität der sogenannten Realität – all dessen, was wir allein qua Bilder begreifen, die wir fatalerweise für Fakten nehmen. "Selbstporträt in Grün" lehrt uns insofern eins: Dass die Frage, wer bin ich, nicht beantwortet werden kann – außer in der Form eines endlosen Aufschubs, der – wie hier – kunstvoll alle Formen und Genres, alle Regeln und Erwartungen bricht.

    Marie NDiaye: "Selbstporträt in Grün". Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer. Arche Verlag 2011. 120 S., 18 Euro