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Wer kennt schon "Entlassungsproduktivität"?

Seit 15 Jahren wird nicht nur das Wort des Jahres, sondern fünf Wochen danach auch noch das Unwort gekürt. Und immer geht es zu wie beim literarischen Nobelpreis: die Wahl fällt so aus, wie niemand es erwartet hat, Mißgriffe können durchaus vorkommen. An einen solchen glaubt der Direktor des Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim, Ludwig Eichinger, denn das Unwort des Jahres 2005 "Entlassungsproduktivität" kenne kein Mensch.

Von Burkhard Müller-Ullrich | 24.01.2006
    Seit 15 Jahren wird nicht nur das Wort des Jahres, sondern fünf Wochen danach auch noch das Unwort gekürt. Und immer geht es zu wie beim literarischen Nobelpreis: die Wahl fällt immer so aus, wie es niemand erwartet hat, und Mißgriffe sind beinahe Prinzip. Während aber das Wort des Jahres nur eine harmlose öffentliche Unterstreichung darstellt, kommt das Unwort aus dem Geist der Kritik. Mit erhobenem Finger und vorwurfsvollem Kopfschütteln meldet sich der Frankfurter Sprachprofessor Horst Dieter Schlosser zu Unwort und prangert an.

    Er ist der Unkarl Unkraus unserer Zeit: unwitzig, uninformiert und stilistisch unbedarft. Mal geißelt er einen Begriff, der selber kritisch-satirischen Charakter hatte – wie einst das "sozialverträgliche Frühableben", mal schreibt er ohne jede Quellenprüfung dem Bundesinnenminister ein Wort – nämlich "Begrüßungszentren" – zu, das dieser nie gesagt hat, und mal ereifert er sich über eine Formulierung wie die "Ich-AG", die zwar salopp, aber keineswegs "inhuman" und "sachlich grob unangemessen" war.

    Schlosser verrichtet seine Abwehr- und Empörungsarbeit nicht allein, sondern ist von einer Jury aus so bedeutenden Sprachkünstlern und -wissenschaftlern wie Nina Janich, Margot Heinemann und Rudolf Hoberg umgeben. Sie alle haben bis jetzt nichts als ein paar schmalspurige Fachveröffentlichungen vorgelegt. Doch scheinen sie sich auch über das Fachliche hinaus gut zu verstehen. Denn die Unwort-Jury hat eine klar erkennbare politische Agenda: sie kämpft tapfer gegen die schlimmen wirtschaftlichen Zwänge unserer Zeit. Wenn schon Oskar Lafontaine die Globalisierung nicht stoppen kann, so können Professor Schlosser und Kollegen wenigstens gegen "Humankapital" (letztes Jahr) und (neu) "Entlassungsproduktivität" zu Felde ziehen. Sprachwissenschaftler gegen Wirtschaftswissenschaftler: das ist freilich ein lustiges Ringen an der Iversität, pardon: der Un-iversität.

    Überhaupt entsteht ja eine tolle Dialektik, wenn man mit der Vorsilbe "Un" hineinfährt: da steht die Sprache Kopf, die Begriffe gehen sich selbst an die Gurgel, die Wörter vermehren sich um ihr Gegenteil und dann auch noch ihr Ungegenteil. Die Medien funktionieren bei dieser Unwortklauberei wie Pawlowsche Hunde: wenn in Frankfurt geklingelt wird, dann drucken und senden sie wie verrückt. Dabei muss zwischen dieser sprachlichen Säuberungswut und der allgemeinen Sprachzerschlampung irgend ein tieferer Zusammenhang bestehen. Etwa nach dem von Karl Kraus entdeckten Prinzip: Je näher man ein Wort anblickt, desto ferner blickt es zurück.