Dienstag, 16. April 2024

Wer wird EU-Kommissionspräsident?
"Schlechte Lösung, Juncker nicht zu benennen"

Der richtige Schritt nach vorne wäre es, den Präsidenten der EU-Kommission direkt zu wählen, sagte der Europaexperte der Bertelsmannstiftung, Joachim Fritz-Vannahme, im Deutschlandfunk. In der jetzigen Situation Jean-Claude Juncker nicht zu benennen, hält er für falsch.

Joachim Fritz-Vannahme im Gespräch mit Mario Dobovisek | 27.05.2014
    Jean-Claude Juncker und Martin Schulz schütteln sich die Hände
    Juncker oder Schulz? Das ist hier die Frage. (Bild: EP)
    Peter Kapern: Die EVP ist mit 28,5 Prozent der Stimmen also Sieger der Europawahl und ihr Spitzenkandidat heißt Jean-Claude Juncker. Nach allem, was wir vor der Wahl gehört haben, müsste damit ja eigentlich klar sein, wer der nächste Präsident der EU-Kommission wird. Die Staats- und Regierungschefs wollen aber erst noch einmal beraten, und das kann sich über Wochen hinziehen. Was aber gibt es da eigentlich zu besprechen? Das hat mein Kollege Mario Dobovisek gestern Abend Joachim Fritz-Vannahme gefragt, den Europaexperten der Bertelsmann-Stiftung.
    Joachim Fritz-Vannahme: Nun, es gibt zu beraten, ob man eine neue Spielregel einführt, oder ob man sich an alte, mitunter auch schlechte Gewohnheiten hält. In der Vergangenheit hat ja über den Posten des Kommissionspräsidenten als auch über Benennung der Kommissare nach Gutsherrenart jeweils die Regierung entschieden, mal die eine, mal die andere. Man hat dann miteinander verhandelt, und das war es dann. Das lässt sich das Europäische Parlament inzwischen so nicht mehr bieten und kann sich dabei durchaus zu Recht auch auf die Texte im Vertrag berufen. Das sind Spielregeln, die ja gemeinschaftlich festgelegt worden sind. Die Frage ist jetzt: Es gibt ja nicht nur den einen Posten, sondern es gibt ja noch ein paar Posten mehr. Es muss auch besetzt werden der Hohe Vertreter für die Außenpolitik, salopp gesagt der EU-Außenminister, es muss besetzt werden der Vorsitzende des Europäischen Rates, der nicht einfach nur einer der amtierenden Regierungschefs sein kann, und noch so der eine oder andere Posten, der dann hinten dranhängt. Also da ist schon sehr viel Verhandlungsmasse zusammengekommen. Insofern würde ich immer sagen, dass Jean-Claude Juncker, gekürt von den europäischen Bürgern, über die Liste der Europäischen Volkspartei gute Chancen hat, Kommissionspräsident zu werden, aber in trockenen Tüchern ist das noch nicht.
    "Wir brauchen eine echte Direktwahl des EU-Kommissionspräsidenten"
    Mario Dobovisek: Was, wenn er nicht der Kommissionspräsident würde? Was würde das bedeuten für all diejenigen, die geglaubt haben, sie würden den Spitzenkandidaten und damit auch den EU-Kommissionspräsidenten direkt wählen?
    Fritz-Vannahme: Ich halte das persönlich für eine schlechte Lösung, ihn nicht zu benennen, und ich kann mich da durchaus auf ein prominentes Mitglied im Kabinett von Frau Merkel stützen. Herr Schäuble geht ja seit geraumer Zeit durch die Lande und plädiert dafür, dass wir wirklich eine echte Direktwahl des EU-Kommissionspräsidenten brauchen. Und ich bin da völlig bei Wolfgang Schäuble und sage mir, das ist der richtige Schritt nach vorne. Das ist auch der Schritt, der eigentlich in der Logik des Vertrages von Lissabon angelegt ist. Ob jetzt in dem üblichen Handel zwischen den Regierungen um so viele Posten am Ende dieses Ergebnis herauskommt, ist nach den derzeitigen Spielregeln zwar mit einer gewissen Prognosewahrscheinlichkeit vorherzusagen, aber nicht sicher.
    Dobovisek: Es war der Versuch, mit diesem personalisierten Wahlkampf, mit den Spitzenkandidaten im Rennen die Wahlbeteiligung zu erhöhen. Das hat ja nun offensichtlich nicht ganz so gut geklappt mit 43 Prozent Wahlbeteiligung europaweit. Was ist da schief gegangen?
    Fritz-Vannahme: Nun, erst mal: Wir sind bei der Wahlbeteiligung nicht schlechter gestellt als beim letzten Mal. Das ist aber kein Trost, denn man will ja besser werden. Der zweite Punkt ist: Es hat in verschiedenen Mitgliedsstaaten eine Koppelung von Kommunalwahlen an die Europawahl gegeben mit einem relativ tristen Ergebnis für die Kommunalwahlen, wenn man das mal so sagen darf. In Italien genau wie in vielen deutschen Bundesländern hat das eben nicht zur Steigerung geführt. Wir haben hier offenkundig einen Gedanken, der droht, zu einem Kurzschluss zu werden: Je näher ich die Wahl an den Bürger heranführe, umso eher bekomme ich den Bürger an die Urne. Es funktioniert so einfach nicht. Wir haben nach wie vor das Phänomen, dass wir sehr stark national geprägte Reflexe in den einzelnen Wahlen haben. Das führt nicht unbedingt dazu, dass die Wahlbeteiligung insgesamt gesteigert wird, aber das führt natürlich zu Ergebnissen, wie wir sie in Frankreich, in Großbritannien, in Dänemark, in Griechenland erlebt haben, die gelinde gesagt bedenklich stimmen.
    Dobovisek: Sie sprechen es an: Front National, UKIP, Dänische Volkspartei, in Deutschland dann die AfD, vor allem Rechtspopulisten sind die Gewinner dieser Europawahl. Welcher Auftrag für die etablierten Parteien steht dann drauf auf diesem Denkzettel?
    Fritz-Vannahme: Nun, da steht etwas drauf, was man seit langem weiß, nicht erst seit einem Jahr und nicht erst seit fünf Jahren, sondern ich würde mal behaupten seit mindestens zehn Jahren, vielleicht sogar seit 15 Jahren. Für einen Europaveteranen wie mich, die Erinnerungen an die fürchterlichen Verhandlungen um den Vertrag von Nizza, das ist für den normalen Hörer schon längst vergessen, wo man viereinhalb Tage und Nächte durchverhandelt hat und anschließend kreiste der Berg und gebar eine Maus. Das sind einfach Verfahren, die so in unsere Zeit nicht mehr passen. Ich glaube, ein tiefes Unwohlsein vieler Wähler, vieler Bürger mit dieser EU liegt nicht darin, dass man sie per se ablehnt, sondern dass man sagt, eure Verfahren sind eigentlich nicht mehr zeitgemäß, und dann können wir eigentlich als Wähler häufig nur noch sagen, entweder wir gehen überhaupt nicht, wir stimmen mit den Füßen ab, oder wir gehen und stimmen tatsächlich mit dem Wahlzettel ab, und dann kann es Ergebnisse wie in Frankreich, in Großbritannien, in Dänemark, in Griechenland geben.
    Kapern: Joachim Fritz-Vannahme, der Europaexperte der Bertelsmann-Stiftung. Das Gespräch hat mein Kollege Mario Dobovisek gestern Abend geführt.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.