Donnerstag, 28. März 2024

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"Wer zuerst Nazi brüllt ..."

Die Schriftstellerin Thea Dorn wirft der politischen Klasse in Deutschland mangelnde Streitkultur vor. Es gebe in der Debatte um Thilo Sarrazins Buch sehr gut einstudierte Reflexe, die die integrationspolitischen Probleme, die der Bundesbankmanager benenne, jedoch nicht lösten.

Thea Dorn im Gespräch mit Kathrin Hondl | 30.08.2010
    Kathrin Hondl: Gestritten wird ja gerade wieder einmal besonders heftig über die Thesen von Thilo Sarrazin, Bundesbankvorstandsmitglied und Autor des Buches "Deutschland schafft sich ab". Das Buch war noch nicht erschienen, da war es schon ein umstrittenes Buch. Sarrazins krude Thesen über genetisch bedingte Intelligenz beziehungsweise Dummheit bestimmter Bevölkerungsgruppen und seine Äußerungen über die Integrationsfähigkeit beziehungsweise Unfähigkeit von Muslimen erregen die Öffentlichkeit bis hin zur Kanzlerin. Die Art und Weise, wie hier geredet wird, das spaltet die Gesellschaft, so Angela Merkel. "Ach Harmonistan" sagt dagegen die Autorin Thea Dorn. Sie nämlich sehnt sich in ihrem neuen Buch, das Ende September erscheint, nach streitbaren Zeitgenossen. – Frau Dorn, ist Herr Sarrazin Ihnen denn nicht streitbar genug?

    Thea Dorn: Nein, Herr Sarrazin ist definitiv ein streitbarer Zeitgenosse. Ich finde es ein gewaltiges Problem, wenn eine Bundeskanzlerin über ihren Pressesprecher verlautbaren lässt, dass der nervt und lieber die Klappe halten sollte. Herr Sarrazin, würde ich sagen, gehört zu den Streitbaren. Ich fürchte aber, dass große Teile unserer politischen Klasse nicht dazu gehören, sondern versuchen, die Ruhe im Kasten irgendwie aufrecht zu erhalten, indem man sich auf so einen merkwürdigen politischen Kunstledersprech einigt. Das sind dann so Begriffe wie "multikulturelle Demokratie", oder "kultursensible Sprache". Das sind alles Konstrukte, die machen Streiten unmöglich, und man verschließt die Augen vor Realitäten.

    Hondl: Sie machen ja so ein hübsches Wortspiel in Ihrem neuen Buch und sagen, "hinter der allgemeinen Verzanktheit wäre in Wahrheit eine allgemeine Verzagtheit zu verorten". Also abgesehen davon, dass das ein hübsches Wortspiel ist, meinen Sie wirklich, in Deutschland traut sich keiner so richtig zu streiten?

    Dorn: Ich habe eher den Eindruck, was wir in den letzten Jahren vor allem eben im öffentlichen Bereich erleben ist, jeder hat so halt seine Privatinteressen, der eine würde gerne ein bisschen weniger Steuern zahlen und der andere hätte gerne ein bisschen den Hartz-IV-Satz erhöht, und auf der Ebene ist kein echter Streit möglich, sondern erst mal nur Zank möglich. Und die Politik versucht, diese Spannungen, die es ja in unserer Gesellschaft real gibt, eben wegzudrücken, indem sie ein zunehmend unübersichtlicher werdendes Transfergewurschtel machen, und mein Eindruck ist, dass das im Laufe der letzten Monate, Jahre einfach zunehmend schwieriger wird und dass wir anfangen müssen, über die real existierenden Verwerfungen und Spannungen und Disharmonien, die es in diesem Land gibt, offen zu reden.

    Hondl: Also zum Beispiel auch über die ja durchaus kruden Thesen von Herrn Sarrazin über genetisch bedingte Intelligenz beziehungsweise Dummheit bestimmter Bevölkerungsgruppen?

    Dorn: Ich glaube, dass diese Genetikdebatte eine ziemliche Sackgasse ist. Ich fürchte, in die verrennt Sarrazin sich, weil er ein Mann der Zahlen erst mal ist und glaubt, dann hätte er besonders feste Argumente. Im Übrigen widerspricht er sich da ja selber. Also wenn einer wirklich überzeugt ist, dass das alles genetisch sei, wieso schreibt er dann ein 70-Seiten-Kapitel über Bildung? Da gibt es ja auch eine interne Spannung in seinem Buch. Deshalb halte ich es jetzt aber wiederum für einen Fehler, wenn man sich ausgerechnet auf den tatsächlich krudesten Teil in seiner Position kapriziert und da nur einschlägt, anstatt über die Probleme, die er benennt, wo ich sagen würde, die es wirklich gibt, dass es weite Teile von Immigrantengruppen gibt, deren Produktivität in der deutschen Gesellschaft infrage gestellt werden kann, oder mit einem vorsichtigen Fragezeichen versehen werden kann, darüber müsste man meiner Meinung nach diskutieren und nicht darüber, ob Herr Sarrazin naturwissenschaftlich fragwürdige Thesen zur Genetik von Intelligenz hat. Wir haben sehr gut einstudierte deutsche Reflexe, dass all diese Diskussionen im Handumdrehen in dem Spiel enden, wer zuerst "Nazi" brüllt, hat irgendwie gewonnen, und der andere brüllt dann "Gutmensch" dagegen, und so bewegt man sich nicht vom Fleck. Die Frage ist doch tatsächlich, ob man aus diesem Muster ausbrechen kann, und das geht natürlich nur, wenn man als Gesellschaft, als deutsche Gesellschaft eine Selbstverständigungsdebatte darüber anfängt, wer man sein will, wie man sich definiert, was noch dazugehört und was nicht mehr dazu gehört. Und in all den Jahren – ich meine, die Integrationsdebatte kocht ja seit einigen Jahren in diesem Land, aber mit einer gewissen Radikalität diese Fragen zu stellen, das findet nicht statt und wird vor allem, wie man ja auch jetzt wieder sieht, von der Politik massiv behindert.

    Hondl: Also die Kunst des Streitens wäre zu lernen. Haben Sie eine Idee wie?

    Dorn: Ja. Ich finde das jetzt gerade einen sehr, sehr spannenden Testfall, ob man das, was Sarrazin jetzt als Rammbock sozusagen erst mal massiv in die Öffentlichkeit reingedrückt hat, ob man das jetzt wiederum nutzt, eben die alten Spielchen zu spielen, wo es dann nur noch darum geht, soll die Bundesbank ihn rauswerfen, soll die SPD ihn rauswerfen, oder ob man sagt, gut, Sarrazin, dann reden wir miteinander, dann hören wir mal genauer, was deine Erklärung ist, warum du dich auf diesen genetischen Kram kaprizierst, wieso dir gleichzeitig – da ist er noch alter Sozialdemokrat – die Bildung wahnsinnig wichtig ist, er sehr, sehr weit gehende Vorschläge macht, wie der Staat die Bildung gerade in den schwierigeren Bevölkerungsschichten steuern soll. Das wäre eine Diskussion und eine Auseinandersetzung.

    Dorn: ... , sagt Thea Dorn über das Streiten in Deutschland und die Thesen von Thilo Sarrazin.