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Werbefotograf Oliviero Toscani
"Wer nicht kritisiert wird, schafft nur Mittelmaß"

Oliviero Toscani ist eine lebende Legende und der bekannteste und umstrittenste Fotograf Italiens. Seine Fotos sind ergreifend und häufig provokant, wie seine Kampagne "Todeskandidaten" für Bennetton. Das städtische Kunstmuseum in Ravenna zeigt nun auch die stillen Porträts aus seinem riesigen Werk.

Von Thomas Migge | 25.04.2019
Ein Passant läuft in Berlin-Kreuzberg an einem Benetton-Werbeplakat aus der Kampagne «Dem Tod ins Gesicht sehen» vorbei.
Umstrittene Werbung - Oliviero Toscani fotografierte für Bennetton Insassen von Todeszellen (picture-alliance / dpa / Jens Kalaene)
Oliviero Toscani lässt keine Gelegenheit aus zu provozieren und zu polemisieren:
"Ihr habt so traurige und desinteressierte Gesichter, dass ich euch niemals einstellen würde", bemerkte er in einer kürzlich ausgestrahlten Fernsehsendung, in der es um die Jugendarbeitslosigkeit in Italien ging. Toscani sagte unverhohlen, was er dachte, nämlich dass die Jugend selbst schuld sei, und löste damit eine heftige Diskussion aus.
Diskussionen will auch die Retrospektive in Ravenna zum fotografischen Schaffen des heute 77-Jährigen auslösen. Und so empfängt den Ausstellungsbesucher gleich am Eingang ein wandgroßes Foto mit einem überdimensionalen weiblichen Hinterteil, das in ein ziemlich eng sitzendes Jeans-Höschen gekleidet ist. Ein Werbefoto von Toscani aus dem Jahr 1973 für das Unternehmen "Jesus Jeans". Ein Skandalfoto, das den damals 31-jährigen Fotografen international berühmt machte, und ein Bild, das für politisch-korrekte Zeitgenossen auch heute noch ein Unding ist.
Maurizio Tarantino, Direktor des Museums MAR in Ravenna, meint: "Unbestritten ist Toscani einer der bedeutendsten Werbefotografen unserer Zeit. Aber im Unterschied zu anderen hat er nicht nur die Geschichte der Fotografie beeinflusst, sondern auch den öffentlichen Diskurs. Seine Werbefotografie wirbt nicht nur für Produkte, sondern will Aussagen machen, Geschichten erzählen".
Wie Skandalfotos Werbung machen
Was in der Retrospektive deutlich wird: Toscani darf nicht nur auf die Aufsehen erregenden Bilder für das Modeunternehmen Benetton reduziert werden, für das er von 1982 bis 2000 arbeitete. Eine Zusammenarbeit, die in Folge des internationalen Protests gegen eine Werbekampagne mit zum Tode verurteilten Gefängnisinsassen durch Benetton beendet wurde. Was wohl keine gute Entscheidung war, denn ohne Toscani erlitt Benetton weltweit einen Imageverlust, der sich negativ auf die Verkaufszahlen auswirkte. Seit 2018 arbeitet man deshalb wieder zusammen.
Die Ausstellung in Ravenna präsentiert Toscanis Schaffen in drei Sektionen. Maurizio Tarantino erklärt: "Sein fotografisches Oeuvre ist riesig. In der ersten Ausstellungssektion zeigen wir Fotografien aus Toscanis Bilderserie mit dem Titel 'Die menschliche Rasse': In 15 Jahren schuf er dafür zehntausende Porträts von Menschen, die er in aller Welt auf der Straße traf."
Eine zweite Ausstellungssektion zeigt eine Auswahl seiner berühmtesten und umstrittensten Werbebilder, fast alle für Benetton. Darunter natürlich auch der "Kuss des Priesters und der Nonne" von 1999, das den Vatikan gegen Toscani aufbrachte. Die oftmals scharfe Kritik an vielen seiner Bilder erheitert den Fotografen noch heute: "Alle Werke mit großer Bedeutung provozieren Kritik. Wer nicht kritisiert wird, schafft doch nur Mittelmaß."
Hintergründige Porträt-Fotografie
Die dritte und letzte Sektion der Ausstellung zeigt private und eher unbekannte Werke Toscanis. Darunter eine Vielzahl von Schwarz-Weiß-Bildern, die er in den 1970er Jahren, als er in New York lebte, im Umfeld von Andy Warhols "Factory" und der damaligen In-Disco "Club 57" schuf. Darunter ergreifende und hintergründige Porträts von Mick Jagger, Joe Cocker, Lou Reed und vielen anderen Promis.
Den rätselhaften Ausstellungstitel "Oliviero Toscani. Mehr als 50 Jahre großartiger Misserfolge" wählte der Fotokünstler selbst aus: "Heute suchen doch alle nur den Konsens. Die neuen Technologien machen alles nur noch schlimmer. Der Erfolg der sozialen Medien beweist, dass ich gescheitert bin und mich nicht durchsetzen konnte mit meiner Foto-Philosophie einer aufrechten und provozierenden Bildsprache. Fotos auf Facebook, das zählt heute: Idioten schauen Idioten dabei zu, was diese dort machen!"
Toscani hat leicht reden. In seinen besten Jahren war er unbestritten ein Vorreiter, ein Revolutionär - und die Ausstellung in Ravenna zeigt das deutlich. Nachfolgenden Generationen von Fotografen machte er es schwer: Wie sollen sie mit ihren Fotos provozieren? Denn Toscani hat ja jedes mögliche Tabu schon gebrochen - seinen Nachfolgern bleibt da nur das Epigonentum.