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Wertvoller Zeitgewinn

Katastrophenschutz. – Die erste Zeit nach einem Beben ist die entscheidende Phase, in der reagiert werden muss, um möglichst viele Menschen zu retten. Doch oft vergehen wertvolle Stunden, bis das Ausmaß der Schäden klar und an die Hilfsorganisationen übermittelt wird. Eine kleine Organisation in der Schweiz hat jetzt ein Programm entwickelt, das bereits zwei Stunden nach dem Beben abschätzt, wie viele Opfer und Verletzte zu erwarten sind. Der Schweizer Rettungsdienst ist der erste, der die Informationen nutzt.

Von Dagmar Röhrlich | 29.07.2004
    Algerien war vor einem Jahr, das war perfekt. Ich habe 1600 gerechnet, am Morgen habe ich bei CNN gehört, 40 Tote, da habe ich mich an den Kopf gefasst, und gesagt, das ist der wunderbar, nur 40 Tote, das ist schön, aber ich habe Mist gebaut. Nein, ich hatte keinen Mist gebaut. Das waren eben so viele Tote. Dasselbe in Marokko, ich habe auch dort mit 1000 gerechnet und die ersten Meldungen kamen in der Frühe mit neun Tote. Und die Marokkaner haben das selbst geglaubt und wussten nicht, dass sie eigentlich retten sollten.

    Max Wyss von WAPMERR in Genf, einer Organisation, die sich um die Verringerung der Opferzahlen bei Erdbeben bemüht: Zwei, drei Tagen nach einem Beben noch Überlebende aus den Trümmern zu holen, grenzt an ein Wunder. Je früher die Rettungsdienste also wissen, was sie erwartet, umso besser. Deshalb haben WAPMERR-Wissenschaftler zusammen mit russischen Kollegen das Programm "Quakeloss" entwickelt, das zwei Stunden nach einem Beben die Zahl der Toten abschätzt. Denn das ist die entscheidende Größe, nach der sich die Rettungsdienste richten. Erst wenn die Kräfte vor Ort der Lage nicht mehr Herr werden können, fordern die Regierungen internationale Hilfe an. Weil aber viele Stunden verstreichen, ehe die Lage im Krisengebiet klar ist, soll ein unabhängiges Warnsystem schnell alarmieren. Wyss:

    Wenn man ein Erdbeben gemeldet kriegt, muss man sofort die besten Daten, die es für dieses Erdbeben gibt, bekommen. Wo ist es, wie groß, wie tief, und was ist die Magnitude. Dann werden wir rechnen, wie stark es die Städte erschüttert hat. Davon leiten wir dann ab, was den Gebäuden geschehen ist. Um zu wissen, wie der Zustand der Gebäude in den verschiedenen Teilen der Welt ist, haben wir eine Kalibrierung vorgenommen.

    Dazu haben die Seismologen die Qualität der Gebäude in den erdbebengefährdeten Ortschaften geschätzt und ihre Werte anhand der verfügbaren Daten von 550 Beben geeicht. Künftig sollen Satellitenbilder aus den weltweit am stärksten gefährdeten Erdbebenregionen ausgewertet und die Gebäude nach Stockwerken klassifiziert werden, um einen Eindruck von der Bebauung zu haben. Wyss:

    Das ist das eine. Dann gibt es auch Klassen von Städten: Ist das eine Agrarstadt, ist das eine Industriestadt, ist das eine Verwaltungsstadt, und auch wie groß ist die Stadt. Die kleineren Ortschaften sind eher anfällig, haben schlecht gebaut Gebäude, und als eine Funktion der Eigenschaften der Stadt wird dann der Prototyp noch lokal verändert. Es ist schon ziemlich detailliert.

    Dazu kommen Charakteristika der früheren Erdbeben wie Stärke und Epizentrum. Mit Hilfe dieser Datenbank kann Wyss wenn rund zwei Stunden nach dem Ereignis aus aller Welt die Informationen zu Ort, Stärke und eine Schätzung der Herdtiefe einlaufen, in fünf Minuten die Größenordnung der Folgen berechnen:

    Das wird so gemacht, dass wir in Computern berechnen, wie stark die Erschütterung an der Oberfläche der Erde ist, im Epizentrum ist es am stärksten und je weiter weg man geht, desto schwächer wird die Erschütterung. Dann benutzen wir dieser Erschütterung als Input um herauszufinden, was geschieht den Gebäuden. Und da wir dann wissen, wie die Qualität der Gebäude ist, haben wir eine Wahrscheinlichkeit, dass dieses Gebäude zusammenstürzt. Und davon leiten wir dann ab, wie viele Menschen sind jetzt erschlagen worden von den Gebäuden.

    Den Hilfsdienste übermittelt er neben der ersten Opferschätzung eine Karte über die Gebiete, in denen mit der größten Zerstörung zu rechnen ist. Interessant ist auch die Prognosefähigkeit des Modells. Beispiel Himalaya. Dort kann jederzeit ein Beben der Stärke 8 und größer eintreten. Träfe ein solches Beben das 230 Kilometer von Delhi entfernte Dehra Dun, die Hauptstadt des indischen Gliedstaates Uttaranchal, gäbe es 100.000 bis 200.000 Tote. Vorbereitet ist Indien auf eine solche Katastrophen nicht. Wyss hofft, dass seine Szenarien durch die Zusammenarbeit mit der UN dazu führen, dass wenigstens Schulen und Hospitäler besser gebaut werden. Schließlich waren die Schätzungen bislang recht zuverlässig - sowohl bei der nachträglichen Berechnung von früheren Beben, als auch beim aktuellen Geschehen.