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Westbalkan-Konferenz
"Man bemüht sich, ein braver Schüler für die EU zu sein"

Dass sich die ehemals verfeindeten Staaten des Westbalkans nun zusammenraufen, liege vor allem am Wunsch jedes Einzelnen, in die EU aufgenommen zu werden, sagte Dusan Reljic, Balkanexperte der Stiftung Wissenschaft und Politik im DLF. Um die Voraussetzungen zu erfüllen, sei aber noch eine Menge zu tun – vor allem in Sachen Korruptionsbekämpfung.

Dusan Reljic im Gespräch mit Dirk Müller | 27.08.2015
    EU-Kommissar Johannes Hahn (von links), Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier und Österreichs Außenminister Sebastian Kurz bei einer Pressekonferenz zum Auftakt der Westbalkan-Konferenz in Wien
    Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier und Österreichs Außenminister Sebastian Kurz bei einer Pressekonferenz zum Auftakt der Westbalkan-Konferenz in Wien. (picture alliance / dpa/ Roland Schlager)
    Dirk Müller: Wer gehört denn alles dazu? Bosnien-Herzegowina, der Kosovo, Montenegro, Mazedonien, Serbien und Albanien, die Westbalkan-Staaten. Allesamt Staaten, die bei der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung nicht allzu gut zurechtkommen, wo Korruption, Bestechung, Vetternwirtschaft immer noch eine gravierende Rolle spielen und die gegenseitige Feindschaft nach den Kriegen in den 90ern immer noch. Österreich als Gastgeber der Balkan-Konferenz hat geografisch, historisch, politisch eine besonders enge Verbindung mit diesen Balkan-Staaten, und diese wollen alle nach Europa, alle ganz konkret in die Europäische Union. Das sollte das wichtigste Thema sein bei den Beratungen heute in Wien. Jetzt geht es vor allem aber auch hier um die Flüchtlinge.
    Die Balkan-Beratungen in der österreichischen Hauptstadt - unser Thema jetzt auch mit Dusan Reljic, Balkan-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik. Guten Tag nach Berlin.
    Dusan Reljic: Guten Tag, Herr Müller.
    Müller: Die Konferenz in Wien, Herr Reljic, sitzen dort Feinde an einem Tisch?
    Reljic: In der jüngsten Vergangenheit hat es zweifellos große Konfrontationen zwischen den politischen Führungen zum Beispiel in Belgrad und Tirana oder Belgrad und Pristina, also zwischen Serben und Albanern gegeben. Aber unter dem Druck der Europäischen Union und weil sie den Wunsch ja alle haben, eines Tages Teil der Union zu werden, machen viele dieser Politiker jetzt eine Kehrtwendung in der jüngsten Zeit und versuchen, sich ordentlich zu benehmen. In diesem Sinne sind das jetzt alle brave Schüler, die in der Wiener Bank sitzen.
    Müller: Eine Kehrtwende taktischer Natur, oder aus Überzeugung?
    Reljic: Na ja. Ob es einen Wandel in der Überzeugung überall gibt, das wage ich zu bezweifeln. Aber die Taktik, die derzeit verfolgt wird, ist, dass man sich bemüht, wirklich ein braver Schüler für die EU zu sein.
    Müller: Wenn wir da auf die Länder schauen, die ich eben erwähnt haben, die sechs Balkan-Staaten, welches Land ist da noch schwarzes Schaf?
    Reljic: Ich würde nicht sagen, dass die Länder schwarze Schafe sind. Ich würde meinen, dass in vielen Regionen dieser Länder nach wie vor große Schwächen vorhanden sind. Korruption ist ziemlich allgegenwärtig und es besteht auch die Tendenz und auch die Tradition, dass man politisch mit der Verwaltung umgeht. Das heißt, wenn eine neue Regierung an die Macht kommt, dann werden die Beamten, die von der früheren Regierung installiert wurden, entlassen. Also es ist noch ein weiter Weg bis zu einer unparteiischen Bürokratie, die funktionieren würde.
    Müller: Kein Problem für EU, im Westbalkan für wirtschaftliche Stabilität zu sorgen
    Müller: Die Spitzenbeamten werden aber auch in Deutschland beispielsweise entlassen oder in den Ruhestand versetzt. Ist das so ein großer Unterschied?
    Reljic: In Mazedonien wurden nach den letzten Wahlen vor einigen Jahren etwa 4.000 Beamte abgesetzt, auch bis zur Gemeindeebene. Das sind wirklich Säuberungen, die von Zeit zu Zeit stattfinden.
    Müller: Wie ist die Situation im Kosovo, in Albanien?
    Reljic: Wenn man sich die Zahlen anschaut, die für das erste Halbjahr in Deutschland gelten, sie sprechen eine ganz eindeutige Sprache. Von den sogenannten Asylbewerbern aus dem westlichen Balkan sind die Mehrheit aus Albanien und aus Kosovo, etwa 60.000, und dann kommt Serbien mit 20.000 und Mazedonien und Bosnien-Herzegowina mit viel weniger. Aber da muss man noch einmal präzise hinschauen. Von den 20.000 in Serbien sind etwa 90 Prozent Roma und Roma sind auch sehr viel vertreten aus Bosnien, Kosovo, Albanien und so weiter. Das heißt, es sind im Großen und Ganzen einerseits Roma, die Ärmsten unter den Armen, denen es schlecht geht und die von den Regierungen keineswegs ausreichend Unterstützung bekommen, die sich nach Westeuropa aufmachen. Und dann zeigt es, dass im Kosovo und in Albanien, in diesen albanisch besiedelten Gebieten des Westbalkans, offenbar große Hoffnungslosigkeit herrscht, wenn sich allein im ersten Halbjahr 60.000 Menschen auf den Weg gemacht haben.
    Müller: Hört sich ganz klar an, dass wirtschaftspolitisch, sozialpolitisch noch alles im Argen liegt dort?
    Reljic: Ja. Die Folgen einerseits des Krieges, der jugoslawischen Nachfolgekriege in den 90er-Jahren mit 160.000 Toten, sind nach wie vor zu spüren. Aber zweitens: Die Auswirkungen der Finanz- und Wirtschaftskrise in der Europäischen Union seit 2008 sind auch stark zu fühlen. Seit 2008 gibt es in Südosteuropa entweder kein Wachstum, oder man fällt noch zurück. Kroatien, ein EU-Mitglied, hat seit 2008 mehr als 13 Prozent seines Bruttosozialprodukts verloren.
    Müller: Das hört sich so an, als sollten sich die Europäer, die EU-Europäer doch freuen, wenn diese Länder dann Interesse haben, ebenfalls Mitglied der Europäischen Union zu werden. Warum sollte die EU das tun?
    Reljic: Ja. Die EU ist ja vor allem ein Sicherheitsprojekt, das heißt der Versuch, Kriege in der Zukunft zu vermeiden. Die Europäische Union hat sich ja um die Beendigung der Kriege im ehemaligen Jugoslawien sehr, sehr bemüht und wollte damals und will nach wie vor den Beweis erbringen, dass sie ein gleichwertiger Akteur in internationalen Beziehungen ist. Und sie will auch verhindern, dass dieser Teil Europas erneut Probleme für ganz Europa hervorrufen kann. Wenn man sich die Karte anschaut, dann ist der sogenannte westliche Balkan ja umgeben von der Europäischen Union. Sie reisen von Österreich, von Ungarn, von Kroatien Richtung Rumänien und Bulgarien, Griechenland oder im Westen nach Italien, das sind alles EU-Staaten. Das ist ein winziger Fleck, umgeben von EU-Staaten, und das dürfte eigentlich für die EU kein Problem werden, dort für wirtschaftliche Stabilität und politische Ordnung zu sorgen.
    Müller: ..., sagen Sie. Kein Problem, auch vor dem Hintergrund der Zahlen, vor der Situation, was Sie eben geschildert haben? Die Europäer haben ja auch Bulgarien, Rumänien versucht, aufzunehmen - das haben sie auch getan -, versucht, zu integrieren, nach vorne zu bringen, alles ganz, ganz schwierig. Und vor dem Hintergrund der aktuellen Situation auf dem Balkan haben Sie da keine Bedenken?
    Reljic: Die EU ist doch kein Schönwetterverein, sondern hat wie gesagt sicherheitspolitische Aufgaben zu bewerkstelligen.
    Müller: ... und die wirtschaftlichen!
    Reljic: Und die wirtschaftlichen genauso. Schauen wir uns zum Beispiel die Migration an. Deutschland braucht, glaube ich, etwa eine halbe Million Einwanderer jährlich, um die Bevölkerungszahlen zu halten. Südosteuropa ist zum Teil ein Reservoir an Arbeitskräften, an jungen integrationswilligen Menschen, und so war es in der Geschichte auch. Derzeit leben eineinhalb Millionen Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien in der Bundesrepublik und die haben sich im Großen und Ganzen gut integriert.
    Müller: Fehlen diese Menschen, die Sie jetzt gerade beschreiben, nicht dann ganz, ganz, ganz dringend genau dort, von wo sie jetzt weggehen?
    Reljic: Wenn es dort wirtschaftliches Wachstum gäbe, würde wahrscheinlich auch dort eine größere Nachfrage nach Arbeitskräften vorhanden sein. Aber auch in den guten Jahren zwischen 2000 und 2008, als es Wachstum gegeben hat, ist es zu einem Abbau der Beschäftigung gekommen, weil die Produktivität gestiegen ist. Das heißt, der westliche Balkan ist zutiefst in die wirtschaftlichen Ströme der Europäischen Union schon integriert und hängt vom Wohlbefinden der Union ab. Wenn die EU hüstelt, dann hat der westliche Balkan eine Grippe.
    "Mit der Glaubwürdigkeit der EU haben alle ein Problem"
    Müller: Herr Reljic, wenn ich Sie richtig verstehe, sind die Westbalkan-Staaten - wir haben deren sechs gezählt - untereinander alleine, ohne die europäische Perspektive (und das ist meine Frage) offenbar nicht in der Lage, die Dinge selbst zu lösen?
    Reljic: Im Sinne von der Sicherstellung von Investitionen, das heißt wirtschaftlicher Entwicklung sicher nicht. Andererseits, wenn die Europäische Union als Sicherheitsgarant wegfallen sollte, dann gibt es andere externe Akteure, die ganz interessiert sind, dort mitzumischen, zum Beispiel Russland, zum Beispiel die Türkei, zum Beispiel etliche islamistische Regime, die sich ohnehin bemühen, gerade in diesen wirtschaftlich unterentwickelten Gebieten im Kosovo, in Albanien, in Mazedonien, in Bosnien Fuß zu fassen.
    Müller: Das heißt, die EU muss einsteigen, damit die anderen nicht übernehmen?
    Reljic: Das ist auch das, was die Europäische Union, glaube ich, bei der heutigen Konferenz zum Teil signalisieren wird mit dem Paket der Maßnahmen, die sich auf die Energieversorgung in der Region beziehen. Denn derzeit ist man bei Erdgas und bei Erdöl fast ausschließlich von Russland abhängig und ich glaube, dass man heute in Wien einige Programme beschließen wird, um diese energiepolitische Abhängigkeit zu mildern.
    Müller: Und aufgrund dessen weitere Zugeständnisse fordern kann?
    Reljic: Zugeständnisse ... Es ist eine Konditionalität und die Konditionalität funktioniert, wenn die Glaubwürdigkeit des EU-Beitritts erhalten ist. Das ist ein Schaukelspiel. Wenn die Glaubwürdigkeit sinkt, dann sind die Staaten auch weniger in der Lage und auch weniger bereit, die Konditionen zu erfüllen.
    Müller: Sagen Sie uns noch mal: Welcher Staat hat Probleme mit der Glaubwürdigkeit?
    Reljic: Mit der Glaubwürdigkeit der Europäischen Union haben alle ein Problem, denn die Bevölkerung in der Region fängt an, nicht mehr daran zu glauben, dass zu ihren Lebzeiten einerseits ihr Lebensstandard wachsen wird und andererseits ihre Länder der EU beitreten werden, und deswegen sind die politischen Eliten in der Region auch vor ein Problem gestellt. Was können sie anbieten, wenn die Wirtschaftssituation schlecht ist und wenn die EU-Beitrittsperspektive nicht funktioniert? Viele suchen den Ausweg im Populismus, viele suchen den Ausweg in der Stärkung der nationalistischen Rhetorik.
    Müller: Und das wird sich noch verstärken?
    Reljic: ... sollte es nicht zu einer Verbesserung der wirtschaftlichen Lage kommen und sollte die EU-Perspektive nicht wieder glaubwürdiger werden.
    Müller: Heute Mittag live im Deutschlandfunk Dusan Reljic, Balkan-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik. Danke für das Gespräch, auf Wiederhören und Ihnen noch einen schönen Tag.
    Reljic: Danke Ihnen, Herr Müller.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.