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Westliche Werte als Exportgut

Andere Länder und Kulturen werfen der westlichen Gesellschaft vor, dass sie die Vorstellungen und Werte ihrer Geschichte, die Ideen von Toleranz, Freiheit, Individuum, Menschenwürde der ganzen Welt aufzwingen wolle. Ist dieser Vorwurf des "Eurozentrismus" berechtigt oder muss man im Gegenteil an der Verbindlichkeit dieser Ideen festhalten, auch wenn sie sich - historisch zufällig - im Westen entwickelt haben sollten?

Von Peter Leusch | 06.07.2006
    Diese Frage kann nur in einer umfassenden interkulturellen Diskussion beantwortet werden. Eine solche Diskussion möchte das KWI mit einer großen internationalen Tagung anstoßen und über vier Jahre auf unterschiedlichen Ebenen fortsetzen.

    "Die große Eröffnungsveranstaltung ist so eine Art Visitenkarte, die das Humanismus-Projekt den Interessierten innerhalb der Wissenschaften und der breiteren Öffentlichkeit gibt. Es wird eine große Eröffnungsrede geben, ein Inder, der in den USA lehrt, Dipesh Chakrabarty wird über Humanismus in der interkulturellen Debatte einen großen Vortrag halten und dann haben wir ein sehr dichtes Programm, in dem es Podiumsgespräche gibt, eins über Humanismus in den verschiedenen Kulturen, da werden Chinesen reden, namhafte Leute aus der islamischen Welt werden dabei sein, – und ein anderes wird das Thema Humanismus und Religion behandeln. Da haben wir einen Religionswissenschaftler aus Bochum, der steht sozusagen für die westliche Tradition, wir haben einen namhaften jüdischen Gelehrten, einen katholischen Theologen, dann wieder Leute der islamischen Welt, ich finde es symbolisch hoch erwünscht, dass am Anfang ein in Amerika arbeitender Inder den Eröffnungsvortrag hält und am Ende den großen Schlussvortrag ein in Hongkong arbeitender Chinese. Ich bin stolz darauf, dieses Programm so hinzubekommen, das ist alles andere als einfach, an drei Tagen namhafte Leute zusammenzubringen und sie über Themen sprechen zu lassen, die sich alle so schön ergänzen, wie wir sie im Programm drin haben."
    Jörn Rüsen, Historiker und Präsident des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen, hat ein ehrgeiziges Projekt angestoßen unter dem Titel der Humanismus in der Epoche der Globalisierung. Das Projekt, das mit der aktuellen Tagung seinen ersten Höhepunkt erreicht, wird über vier Jahre laufen. In dieser Zeit koordinieren zahlreiche internationale Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen ihre Forschungsarbeit an der Frage, wie ein neues kulturübergreifendes Verständnis des Menschen ausschauen könnte.

    Es geht darum, dem drohenden Clash of Civilizations, dem Kampf der Kulturen eine gemeinsame Anstrengung entgegenzusetzen. Ziel dieser Arbeit ist ein Humanismus-Konzept, in dem die kulturellen Unterschiede wechselseitige Anerkennung finden, auf der Grundlage gemeinsam geteilter Normen.
    Man kann aber nicht einfach den traditionellen Humanismus, wie er in Europa entwickelt wurde, wiederaufnehmen und auf die ganze Welt ausdehnen. Das lehnen außereuropäische Kulturen zur recht als Eurozentrismus ab, weil sie ihr spezifisches Verständnis von Menschsein und Humanität darin nicht berücksichtigt finden. Ebenso verbietet der nationalsozialistische Rückfall in die Barbarei eine naive Wiederaufnahme.

    Die Verbrechen von Auschwitz haben die Fundamente europäischer Moral zutiefst erschüttert. Das KZ Buchenwald liegt vor den Toren Weimars. Wo Goethe dichtete: "Edel sei der Mensch, hilfreich und gut", dort wurde sein humanistisches Manifest auf grausige Weise zu Schanden.

    Dieter Sturma, Philosoph an der Universität Duisburg Essen, der am Humanismusprojekt mitarbeitet, markiert die Schwachstellen der humanistischen Tradition:

    "Das große Problem des traditionellen Humanismus vom Renaissance-Humanismus über die deutsche Klassik, bis hin zu einigen Diskussionen im 20. Jahrhundert liegt in der semantischen Unverbindlichkeit. Da waren sehr pathetische Begriffe im Spiel, die leicht ideologisch, weltanschaulich, religiös zu vereinnahmen waren. Und damit gehen sicherlich viele Vorbehalte einher, die jetzt geäußert werden, was den Eurozentrismus angeht, das ist völlig klar. Hier sind europäische Idealisierungen ins Spiel gebracht worden, zu diesen semantischen Defiziten gehört auch, dass der Humanismus gerne zu Ausgrenzungen missbraucht worden ist, zwischen Mensch und Tier, das hat der Renaissance-Humanismus gemacht, oder dass spätestens seit dem 18. Jahrhundert ein Unterschied zwischen gebildet und ungebildet mit dem Humanismus verbunden worden ist, und dann kann man in heutigen politischen Debatten sehen, dass auch hier mit Humanität und Inhumanität in direkter Entsprechung zu politischen Lagern operiert wird. "
    Immer wieder ist die Rede von Humanismus ideologisch und politisch missbraucht worden. Jörn Rüsen spricht deshalb von einem neuen Humanismus, dessen genaue Vorstellungen und Inhalte aber nicht vorab festgesetzt werden können. Dieser neue Humanismus wäre vielmehr die Frucht einer mehrjährigen interkulturellen Debatte. Einen solchen Diskussionsprozess will das Humanismusprojekt ankurbeln und moderieren, und zwar auf mehreren Ebenen.
    Erstens bietet das Kulturwissenschaftliche Institut in Essen eine Plattform, auf der Wissenschaftler verschiedener Universitäten sich in Arbeitsgruppen treffen und ihre Forschungsergebnisse diskutieren können.
    Zweitens finden eine Reihe von Streitgesprächen und Vorträgen statt, die sich bewusst an eine breitere Öffentlichkeit wenden. Drittens hat das Kulturwissenschaftliche Institut Ende April ein Graduiertenkolleg eingerichtet. Hier sind Nachwuchswissenschaftler eingeladen, mit ihren Arbeiten am Projekt mitzuwirken. Sie werden sich auf der Tagung mir ihren Vorhaben präsentieren.
    Jörn Rüsen:

    "Ein Kernstück des Humanismusprojektes ist unser Graduiertenkolleg. Dort haben wir Stipendiaten, die im Rahmen des Projektes promovieren und auch aus Mitteln des Projektes ihre Stipendien bekommen, und wir haben so genannte assoziierte Stipendiaten, die ihre Dissertationen anderweitig finanzieren, aber bei uns Mitglied sind, weil ihr Thema zu unserem Projekt passt. "
    Das sind im Augenblick 15 – 20 Leute, bunt gemischt, für jemandem wie mich, im vorgerücktem Alter, ist das eine unglaublich erfreuliche Angelegenheit, diese ganz unterschiedlichen jungen Leute mit ihren unterschiedlichen Themen und Disziplinen, wie sie dann zusammen sitzen und anfangen heftig zu diskutieren, sich gegenseitig Fragen zu stellen, das ist eine reine Freude, für einen Wissenschaftler, so etwas organisieren zu können und sich auch aktiv als eine Art Supervisor daran zu beteiligen."
    Einer der Stipendiaten ist der südafrikanische Kulturwissenschaftler Michael Eze von der Universität Pretoria. Michael Eze arbeitet zurzeit in Essen am Humanismusprojekt mit, indem er eine afrikanische Vorstellung von Humanismus in ihren Wurzeln und in ihrer Eigenart untersucht. Diese Konzeption heißt Ubuntu, Menschlichkeit.

    "Der Begriff Ubuntu stammt von den Völkern des südlichen, zentralen und östlichen Afrika, aus den Bantu-Sprachen. Er ist abgeleitet von der Weise, wie man sich auf einen Menschen bezieht. Die Zulu in Südafrika zum Beispiel nennen Mensch im Singular Umuntu, und im Plural Abuntu. Einer der bekanntesten Gelehrten in Afrika, John Mbiti gibt für das Verständnis einen Ansatzpunkt mit seinem berühmten Satz: Ich bin, weil Wir sind, seit es Uns gibt, gibt es Mich. Hier begann die These von der afrikanischen Identität, vom afrikanischen Humanismus. Vergleicht man das mit den Problemen, die wir in Afrika haben, Völkermord in Burundi und in Ruanda, die Verbrechen in ganz Afrika, die Korruption, so gibt es doch einen Punkt der Wertschätzung, was wir als Menschen sind, eine Bewegung, einen Geist, von dem was eigentlich da war. Ich versuche nicht Afrika als eine Art von Paradies zu feiern, aber es gibt einen Punkt, wo man ansetzen und beginnen kann von afrikanischem Humanismus zu reden, der in Sprichwörtern wie diesen enthalten ist: Umuntu ngumuntu ngabantu – Ein Mensch ist ein Mensch durch einen anderen Menschen oder: Leben ist größer als Reichtum. Viele Sprichwörter kann man hier anführen. So nähern wir uns der Synthese: Es gibt tatsächlich so etwas, was man afrikanischen Humanismus nennen könnte. "
    Das afrikanische Humanismuskonzept setzt bei der Zwischenmenschlichkeit an, im Gegensatz zur europäischen Philosophie, die in ihrer Hauptlinie das Individuum als freies, aber getrenntes Subjekt den anderen gegenübergestellt.

    Das Konzept Ubuntu erinnert in manchem an Martin Bubers Denken. Auch der jüdische Religionsphilosoph erklärte, dass die menschliche Beziehung grundlegend sei, die Sphäre des Zwischen, wo das Ich und der Andere allererst zu sich selber finden. "Geist", schreibt Martin Buber, "ist nicht im Ich, sondern zwischen Ich und Du."
    Von einem anderen Stipendiaten und aus einem ganz anderen Kulturraum kommen ebenfalls humanistische Vorstellungen, die dem westlichen Individualismus widersprechen. Der chinesische Nachwuchswissenschaftler Qi Jiafu untersucht in seiner empirischen Doktorarbeit die Fremdheitserfahrungen chinesischer Studenten in Deutschland. Um das verständlich zu machen, rückt er das Menschenbild und die Ethik des Konfuzianismus in den Blick, eine Tradition, die die Chinesen nachhaltiger geprägt hat als die gegenwärtige kommunistische Phase vermuten lässt.

    "Die chinesischen Studierenden sind in einem kollektiven Kulturkontext aufgewachsen. Und sie können diese konfuzianische Vorstellung nicht loswerden. Im Konfuzianismus spielt der Begriff Qien eine sehr wichtige Rolle. Qien heißt –wenn wir eine Entsprechung im deutschen finden wollen – Menschlichkeit oder Humanität. Von der Zusammensetzung des Wortes kann man schon die Bedeutung herausfinden. Qien im Chinesischen ist eine Zusammensetzung von zwei Wörtern: einmal "Mensch" – das ist der linke Teil - und dann einmal "Zwei", das heißt Qien bezieht sich auf Menschen oder auf die Beziehungen zwischen zwei Menschen. Von daher können wir schon sehen, dass der Konfuzianismus die interpersonale Beziehung sehr schätzt. Das ist auch in China tausend Jahre so praktiziert worden. Zum Beispiel, wenn man Schwierigkeiten bekommt, dann kommen die Leute und fragen: Was für Probleme hast Du? Was für Hilfe kann ich anbieten usw. Dann fühlen sich die Chinesen besser als ohne solche Fürsorge. Aber wenn wir aus der europäischen Perspektive schauen, ist das manchmal schon eine Verletzung des eigenen privaten Bereichs.Wir Chinesen brauchen manchmal mehr Nähe, das heißt die Beziehungen zwischen den Menschen sind enger als hier zwischen den Deutschen oder den Europäern. "
    Könnten humanistische Traditionen anderer Kulturen vielleicht die westliche Schlagseite in Richtung eines überzogenen Individualismus korrigieren, der die Menschen gegeneinander isoliert?

    Aber welche unveräußerlichen Rechte hat der Einzelne, die kein Kollektiv, kein Machthaber antasten darf. Ein zentrales Thema der Tagung und des gesamten Humanismusprojektes bildet die Frage der Menschenrechte und der Menschenwürde. Nicht nur werden sie in vielen Ländern der Erde faktisch missachtet, ebenso gibt es theoretischen Streit um ihre Auslegung.

    Was heißt Menschenwürde? Dieter Sturma schlägt vor, den Begriff der Würde konkret daran zu knüpfen, ob und in welchem Maße einem Menschen Anerkennung und Selbstachtung ermöglicht sind.

    "Unter Würde verstehe ich, dass ich einer Person die Möglichkeit gebe, sich selbst achten zu können, ich würde auch Autonomiefähigkeit dazu rechnen … dass man jeder Person die Möglichkeit einräumen muss, dass sie zu ihrem Lebensplan zustimmend oder ablehnend Stellung nehmen kann. Da wird es vermutlich die ersten Schwierigkeiten geben, denn es gibt gerade in außereuropäischen Kulturen eine starke Tendenz diese Form der Autonomie abzulehnen, ich denke da vor allem an die Situation der Frauen in der Dritten Welt, wir brauchen da gar nicht so hochnäsig zu sein, das gilt sicherlich auch für unsere Welt, dass wir fragen müssen, in welcher Art und Weise die Würde von Menschen missachtet wird, wenn sie auf die Art und Weise, wie sie ihr Leben führen, keinen Einfluss haben. Da wird es Schwierigkeiten geben, aber … ein Humanismus der nicht mehr an einem Konzept ethischer, ästhetischer Bildung der einzelnen Person festhält ist eben kein Humanismus mehr. "
    Den alte Humanismus charakterisierte eine pädagogische Bildungsidee: Bildung im engeren Sinne, dass Menschen Wissen und vielerlei Kompetenzen erwerben, aber auch Bildung in einem weiteren und umfassenden Sinne, dass Menschen sich in Richtung einer freien und autonomen Persönlichkeit entwickeln, dass sie ihre Möglichkeiten entfalten dürfen, so lange sie keinen anderen in seinen Rechten verletzen .
    Aber hier geraten Vorstellungen von Menschenrecht und -würde in Konflikt mit Ehrbegriffen. Und das bleibt keine theoretische Frage, sondern wird blutige Wirklichkeit. Die so genannten Ehrenmorde unter türkischen Migranten im letzten Jahr belegen den Konflikt zwischen Mädchen oder jungen Frauen, die ihr Recht auf ein selbst bestimmtes Leben gesucht haben, und deshalb von ihren eigenen Brüdern oder Vätern im Namen der Ehre ermordet wurden. Wie kann eine Humanismusdiskussion solch einem grausamen Ehrbegriff entgegnen, ohne als Eurozentrismus abqualifiziert zu werden, wie verhalten sich Würde und Ehre zu einander?

    Dieter Sturma: "Das ist eine sehr schwierige Frage, aber ich würde den Ehrbegriff nicht unter den Würdebegriff mit aufnehmen, weil Ehre etwas Asymmetrisches ist, das heißt derjenige, der sich selbst in seiner Ehre verletzt fühlt, billigt die gleiche Sensibilität nicht einem anderen zu, sondern da sind die Ehrkonflikte, dass gesagt wird: Ich bin zutiefst in meiner Ehre verletzt und deswegen tue ich das jetzt. Immer wer auf Ehre Rekurs nimmt, pocht auf Sonderrechte, - dagegen sagt mein Konzept vom Austausch, vom Diskurs der Gründe, dass es hier keine Sonderstellung geben darf, es muss symmetrische Verhältnisse geben, das heißt jeder zählt im Diskurs gleich, und das Pochen auf Ehre ist eine typische Verletzung des Diskurses der Gründe, man muss nur zurückschauen, wie der Ehrbegriff verwandt worden ist, er stand immer in unmittelbarer Nähe zum Machtbegriff, jemand der in vehementer Weise erklärt, ich fühle mich in meiner Ehre verletzt, bricht den Diskus ab und dann drohen Gewaltverhältnisse. "
    Die gewalttätigen Konsequenzen des Ehrbegriffs findet man nicht nur in der islamischen Welt, sondern in vielen patriarchalischen Gesellschaften. Man muss nur an die lange Tradition des Duells in Mitteleuropa denken, das viele Menschen ins Unglück stürzte. Fontanes Effi Briest ist nur das berühmteste literarische Beispiel. Auch als die Duellpraxis schon lange juristisch verboten war, vermochten sich viele Männer der grausamen Logik nicht zu entziehen.
    Auf der ersten Tagung wird auch ein anderes heißes Eisen angefasst: Das Verhältnis von Religion und Humanismus. Das ist höchst brisant, weil die Weltreligionen Christentum und Islam derzeit einen fundamentalistischen Schub erleben.

    Wie sieht es mit der Bedeutung des Christentums und des Judentums für den abendländischen Humanismus aus? Die einen Wissenschaftler verfechten die These, dass der Begriff der Menschenwürde jüdisch-christlichen Ursprungs sei, zurückgehend auf die Idee der Ebenbildlichkeit des Menschen mit Gott. Doch diese Deutung ist nicht unumstritten. Andere behaupten, dass das das Christentum gar nichts zum Humanismus beigetragen habe, ja ihm eher hinderlich gewesen sei.

    "Wie verhalten sich Religion und Humanismus zu einander? Das ist eine offene, aber heftig umstrittene Frage. Eine Arbeitshypothese – eine unter möglichen anderen – könnte lauten: "Religion ohne Humanismus ist gefährlich. Humanismus ohne Religion ist schwach." Denn religiöse Grundüberzeugungen könnten unter bestimmten Bedingungen eine enorme mentale Kraft entfalten. Aber man ist dann bereit, im Namen Gottes sein Leben zu opfern oder im Zweifelsfall auch andere zu töten. Wenn diese enorme Kraft sich humanistisch formiert, dann ist es mit dem Sterben und dem Töten – zugespitzt gesagt – vorbei. Und die Religion kann eigene Kräfte in der Humanisierung des Menschen selber entfalten. Da gibt es Beispiele, aber das ist eine Arbeitshypothese, die muss diskutiert werden.