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Terror in Brüssel
"Viele Politiker wachen aus dem Dornröschenschlaf auf"

Aufgrund von "Länderegoismen", auch in Deutschland, sei der Informationsaustausch zwischen den Sicherheitsbehörden nicht gut, sagte der Vorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK), André Schulz, im DLF. Außerdem sei die materielle und personelle Ausstattung schlecht. Langsam beginne aber ein Umdenken.

André Schulz im Gespräch mit Christine Heuer | 23.03.2016
    Der Kriminalbeamte André Schulz, Bundesvorsitzender des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK).
    Der Kriminalbeamte André Schulz, Bundesvorsitzender des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK). (picture alliance / dpa / Horst Galuschka)
    Schulz betonte: "Es gibt keine regionalen Lösungen". Das Problem müsse auf europäischer Ebene gelöst werden. Allerdings scheitere der Informationsaustausch zwischen den Sicherheitsbehörden oft schon an den Grenzen der Bundesländer. Der BDK-Vorsitzende sprach von einem "Förderalismus in seiner schlechtesten Form." Er sagte weiter: "Wir dürfen nicht mit dem Finger auf andere zeigen, wenn wir selbst unsere Hausaufgaben nicht machen." Auch einzelne europäische Staaten verhielten sich aber egoistisch.
    Nach Ansicht von Schulz findet aber auch ein Umdenken statt: "Viele Politiker wachen langsam aus dem Dornröschenschlaf auf." Wenn aber jetzt mit der Auswahl von neuen Beamten begonnen werde, dann seien die erst in vier Jahren einsatzbereit. "Diese Zeit haben wir heute nicht."

    Das Gespräch in voller Länge:
    Christine Heuer: Am Telefon begrüße ich den Präsidenten des Bundes der Kriminalpolizei, André Schulz. Guten Morgen!
    André Schulz: Guten Morgen.
    Heuer: Kann so etwas wie in Brüssel gestern auch in Deutschland passieren, Herr Schulz?
    Schulz: Ja. Natürlich muss man sagen: Ja, kann es. Die Sicherheitsbehörden versuchen, schon seit einiger Zeit, ja nicht erst seit Paris und Brüssel, das zu verhindern. Aber wenn wir allein die Statistik oder das kriminalistische Eins und Eins zusammenzählen bei der Entwicklung, lässt dies keine anderen Schlüsse zu, dass wir in Deutschland natürlich damit leben müssen, dass es auch bei uns passieren kann.
    Heuer: Sie sind ein Praktiker. Glauben Sie, dass nach den Anschlägen gestern Terroristen aus Belgien nach Deutschland gereist sind?
    Schulz: Das kann man nicht ausschließen. Das was wir wissen ist, dass die Personen untereinander Kontakt haben und das auch für Terroristen in Europa keine Grenzen bestehen. Das sind Fakten, die wir kennen. Von daher müssen wir davon ausgehen, dass die Personen durchaus sich frei in Europa bewegen und natürlich dann auch in Deutschland leben, unter uns zum Beispiel.
    "Natürlich kommen jetzt sozusagen die Einschläge näher"
    Heuer: Die Gefahr in Deutschland - das sagen dann immer alle Politiker -, die ist immer schon hoch gewesen. Ist sie seit gestern größer geworden?
    Schulz: Nein, das nicht. Wir beobachten das seit einer langen Zeit. Spätestens seit den Anschlägen in den USA von 9/11 haben wir eigentlich oder gehen wir davon aus, dass es auch Deutschland treffen kann. Natürlich kommen jetzt sozusagen die Einschläge näher, wenn man das so flapsig sagen darf. Wir beobachten natürlich durchaus die Zuwanderung, auch Personen, die dann gezielt die Deckung nutzen von Flüchtlingsströmen zum Beispiel, um nach Deutschland zu kommen. Aber gestiegen ist sie jetzt nicht. Sie war unverändert hoch und ist auch weiterhin leider hoch.
    Heuer: Wie gut ist die Kriminalpolizei vorbereitet auf mögliche Anschläge hier?
    Schulz: Man sieht eigentlich insgesamt, dass es keine regionalen Lösungen gibt. Das heißt, wir können auch als Deutschland nur zum Teil agieren. Wir brauchen die europäische Lösung, und da zeigt sich eigentlich, auch bei allen Versprechungen der Politik, die dann jedes Mal reflexartig gemacht werden, die Defizite deutlich auf. Das betrifft ja nicht nur die Kriminalpolizei, es betrifft die Polizei insgesamt, von der normalen Streifenpolizei über Bereitschaftspolizei bis zur Kriminalpolizei. Und da sieht man die Defizite, die hauptsächlich in materieller und personeller Ausstattung sind, aber dann auch ganz massiv in den Länderegoismen. Das macht in Deutschland auch keinen Halt. Da sind Länderegoismen zwischen einzelnen Bundesländern und das gibt es dann auch verstärkt auch in ganz Europa.
    Heuer: Dann fangen wir mal mit Europa an. Thomas de Maizière, der deutsche Innenminister, hat ja gestern gesagt, er dränge sehr stark auf einen besseren Austausch von Daten innerhalb der EU. Ist Deutschland da so ein Vorbild, dass sich der deutsche Innenminister hinstellen und sagen kann, na ja, die anderen müssen eigentlich ein bisschen nachlegen? So musste man das ja verstehen, oder so konnte man das jedenfalls verstehen.
    Schulz: Ja. Ich verstehe natürlich die Äußerung von Herrn de Maizière. Aber genau das ist der Punkt. Wir dürfen nicht mit dem Finger auf andere zeigen, wenn wir selber unsere Hausaufgaben nicht machen. Wir bemängeln seit Jahrzehnten den defizitären Datenaustausch alleine in Deutschland, auch alleine zwischen den Polizeien. Da müssen wir noch nicht auf die Verfassungsbehörden gucken zum Beispiel, wo der Informationsaustausch auch zwar verbessert wurde, aber lange nicht dem entspricht, wie man sich das vorstellen könnte. Aber auch hier heißt es in Deutschland, Landesgrenzen von einem Bundesland zum anderen sind oftmals auch wirkliche Informationsgrenzen dann für die Polizei, und solange wir hier keinen Informationsaustausch hinbekommen, der den Namen auch wirklich verspricht in Deutschland, müssen wir nicht mit dem erhobenen Zeigefinger auf andere Länder zeigen.
    Heuer: Wieso lernen wir das denn nicht, denn wir leben ja alle miteinander in Europa seit Jahren unter Terrordrohungen?
    "Föderalismus in der schlechtesten Form"
    Schulz: Wir haben lange, lange Jahre wirklich den Datenschutz, dem man auch einen hohen Stellenwert in Deutschland und in Europa insgesamt zumessen muss, aus guten Gründen, einen großen oder großartigen Spielraum eingeräumt, dass er wirklich die Arbeit der Sicherheitsbehörden massiv behindert, und natürlich haben wir in vielen Bereichen dann wirklich diese Länderegoismen, Föderalismus in der schlechtesten Form. Er hat auch viele gute Seiten, aber dann bei den Sicherheitsbehörden erleben wir ihn dann, wie er nicht sein sollte. Das sind Länderegoismen, da ist dann auch Herr de Maizière relativ ohnmächtig. Wo die Bundesregierung viel versucht, für Bundespolizei zum Beispiel und das BKA zu tun, scheitern sie spätestens dann, wenn es darum geht, in den Ländern etwas umzusetzen, weil da dann jeder Innenminister sein eigener Herr ist.
    Heuer: Auch Sie sagen, im Grunde liegt das Problem in Deutschland bei den Bundesländern. Es gibt seit heute Morgen die Forderung von Wolfgang Bosbach, werden wir hier in 20 Minuten ungefähr noch mal ausführlich hören, der sagt, es sind auch die Bundesländer jetzt dran, endlich wieder mehr Geld in die Polizei zu investieren. Da werden Sie sich auch anschließen?
    Schulz: Ja, auch wenn man natürlich dann immer zusammenzuckt, weil das so eine platte Forderung ist, muss man ja sagen, die Gewerkschafter natürlich jedes Mal stellen, weswegen sie sich auch irgendwann abnutzt. Aber wir haben gebetsmühlenartig auf die verantwortlichen Politiker eingeredet, seit Jahren, seit Jahrzehnten: Irgendwann ist mal so viel gespart, irgendwann knirscht es nicht nur, da wird es knallen, weil einige Dinge nicht mehr funktionieren. Das haben einige Länder jetzt wirklich panisch festgestellt und jetzt haben sie ganz andere Probleme. Man versucht, mehr Personal einzustellen, und bekommt teilweise gar nicht mehr das Personal, was man benötigt, weil so viele sind auf dem Markt dann auch nicht zur Verfügung, und auch die Ausbildungsstellen zum Beispiel der Polizeien kommen an ihre Kapazitätsgrenzen. Das heißt, sie könnten gar nicht mehr einstellen, weil sie gar keine Kapazitäten haben, diese Personen auszubilden. Da sind jetzt, glaube ich, bei dem einen oder anderen Innenminister doch Schweißperlen angesagt, weil sie feststellen, dass sie da gespart haben, was unverantwortlich war.
    Heuer: Und es wird Zeit brauchen, dieses Defizit aufzulösen. Wie viel Zeit, Herr Schulz, nach Ihrer Schätzung?
    Schulz: Wir haben gar keine Zeit natürlich zu verlieren. Aber wenn man wirklich sich vor Augen führt, dass man jeden Polizisten, den man heute zukünftig haben möchte - da muss man Auswahlverfahren machen, das dauert seine Zeit, weil wir standardisierte drei Jahre Ausbildung in Deutschland haben, auch aus guten Gründen. Da kann man sich also ausrechnen, wenn man heute den Schalter umlegen möchte, dass man die zukünftigen Kolleginnen und Kollegen maximal ungefähr in vier Jahren auf der Straße hat. Das sind natürlich Zeiten, die haben wir vielleicht nicht in der heutigen Bedrohungssituation, und das ist etwas, wo dann Verantwortliche in Sicherheitsbehörden schon sagen, das sind Defizite, die haben wir sehenden Auges selbst verursacht.
    Heuer: Was fordern Sie denn dann konkret für die nächsten vier Jahre, für so eine Überbrückungszeit?
    Schulz: Viele Politiker wachen langsam aus dem Dornröschenschlaf auf, dass sie gesagt haben, investiert in innere Sicherheit. Die innere Sicherheit ist sicherlich nicht alles, aber wie es immer so schön heißt: Ohne innere Sicherheit ist alles nichts. Das heißt, wenn wir nicht eine stabile innere Sicherheit haben, sind viele Faktoren zum Beispiel für die Wirtschaft dann folgend, zum Beispiel weniger Investitionen. Das ist maßgeblich auch für die Bürger und da haben wir ja schon seit einiger Zeit ein Problem, dass wir sagen, das Sicherheitsgefühl ist ein anderes als die objektive Sicherheit. Die Defizite müssen jetzt ausgeräumt werden, personell, materiell, und wir reden hier von mehreren tausend Polizeibeamten. Allein für die Kriminalpolizei in ganz Deutschland fehlen mehrere tausend Ermittler, damit wir wieder so arbeiten können, wie sich das eigentlich die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland vorstellen. Und dann, wenn Deutschland die Hausaufgaben macht, dürfen wir natürlich den europäischen Blickwinkel nicht vergessen. Das heißt, solche Probleme können wir nur auf europäischer Ebene lösen.
    "Wir dürfen nach solchen Anschlägen nicht in Panik verfallen"
    Heuer: Müssen wir Kontrollen verschärfen oder auch verändern? Wäre es zum Beispiel, Herr Schulz, sinnvoll, Passagiere schon am Eingang von Flughäfen und Bahnhöfen zu kontrollieren und nicht erst, wenn die drin sind?
    Schulz: Wir dürfen nach solchen Anschlägen nicht in Panik verfallen. Das heißt natürlich, man muss genau hinschauen, wo sind die Defizite, was kann man verbessern. Natürlich gibt es, aus anderen Ländern kennt man das, mehrere Sicherheitschecks. Manchmal schon beim Betreten zum Beispiel des Flughafens gibt es das durchaus. Dann hätten die Personen natürlich ihre Bomben trotzdem zünden können, dann im Eingangsbereich. Die Totenanzahl wäre wahrscheinlich genauso hoch gewesen. Man kann noch etwas machen, aber wir dürfen nicht vergessen: Hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht. Deswegen dürfen wir wirklich hier dann nicht bei aller nötigen Sorgfalt und Verantwortung, die wir haben, in Panik verfallen.
    Heuer: Nach den Anschlägen gestern sind ja die Sicherheitskontrollen an den innereuropäischen Grenzen, vor allen Dingen - da haben wir immer den Blick drauf - zwischen Belgien und Deutschland, verschärft worden. Mittel- und langfristig, brauchen wir in der Terrorabwehr mehr oder weniger Schengen?
    Schulz: Man braucht ein intelligentes Schengen. Ich glaube, das ist eins der wesentlichen europäischen Merkmale, fehlende Grenzen, eine Freizügigkeit, sich zu bewegen in Europa, so wie man das möchte. Wir haben aber bereits bei Einführung von Schengen gewarnt, was sind denn die Kompensationsmaßnahmen. Das heißt, wenn wir keine inneren Grenzen mehr haben, was tun wir oder wie kann die Polizei in die Lage versetzt werden, zum Beispiel dann grenzüberschreitender Kriminalität einigermaßen Herr zu werden. Das wusste auch die Politik und von dort hörte man immer, das wird man zum Teil nicht eindämmen können, das ist einfach hinzunehmen in diesem Prozess. Von daher müssen wir - und das sehen wir jetzt bei der Zuwanderung natürlich - gerade die Defizite abstellen. Ich glaube aber, trotzdem dürfen wir nicht davon jetzt loslassen, um zu sagen, wir wollen wieder Grenzen. Ich glaube, das möchte eigentlich kein vernünftiger Mensch. Trotzdem müssen wir eine gewisse Kontrolle zurückgewinnen, und die haben wir zurzeit teilweise nicht.
    Heuer: Was heißt denn das konkret, Herr Schulz? Woran genau denken Sie, wenn Sie das sagen?
    "Wenn ein Visa abläuft, kontrolliert das niemand"
    Schulz: Insgesamt brauchen wir den Schutz der europäischen Außengrenzen. Das sieht man nicht nur durch die unkontrollierte Zuwanderung. Trotzdem muss eigentlich - und da, glaube ich, gibt es auch keine zwei Meinungen - ein europäischer Staat, auch gerade Deutschland, dann zumindest wissen, wer reist ein, wer hält sich wie lange auf, wann müsste er auch wieder ausreisen. Das gibt es zum jetzigen Zeitpunkt alles nicht. Das heißt, wenn ein Visa zum Beispiel abläuft, kontrolliert das niemand, oder niemand würde das feststellen, spätestens oder frühestens bei der Ausreise wieder. Wir haben ein System zum jetzigen Zeitpunkt, wo wir viele Punkte, gerade was Sicherheit angeht, nicht sicherstellen können, und hier müssen wir - und das kann nur europäisch oder mit europäischen Lösungen gelingen, weil es gibt keine nationalen Probleme, die keine Auswirkungen haben. Das heißt, wir sehen: Wenn wir heute politisch irgendeine Ursache setzen, wird das Auswirkungen haben auf Deutschland, und das kann auch Deutschland nicht alleine lösen, sondern nur im europäischen Verbund.
    Heuer: Das betrifft die Außengrenzen. Kurz zum Schluss noch die Frage nach den Innengrenzen. Mehr Kontrollen in Schengen?
    Schulz: Ja, intelligente Kontrollen. Wir haben ja durchaus die Möglichkeit der sogenannten Schleierfahndung, Maßnahmen durchaus abgesetzt von Grenzen, das heißt dann Spezialisten zu haben, die sich Personen, zum Beispiel Personenverkehr angucken und dann gezielt danach kontrollieren. Ich glaube, geschlossene Grenzen möchte keiner. Trotzdem müssen wir als Europa dafür plädieren, dass wir einen Standard bekommen, mit dem auch Deutschland leben kann.
    Heuer: André Schulz, Präsident beim Bund der Kriminalpolizei, war das im Interview mit dem Deutschlandfunk. Herr Schulz, haben Sie vielen Dank für das Gespräch und Ihre Zeit heute Früh.
    Schulz: Gerne.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.