Donnerstag, 28. März 2024

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Revival eines Außenseiters
Das tragisch kurze Leben des Dramatikers Joe Orton

Der englische Theater- und Fernsehautor Joe Orton wurde im August 1967 von seinem Lebensgefährten erschlagen. Mit Neuinszenierungen auf der Basis frisch restaurierter Texte, befreit von der Zensur der 60er-Jahre - und mit Ausstellungen - wird in England nun des genialen Außenseiters gedacht.

Von Peter Backof | 08.08.2017
    Schwarz-Weiß Foto eines Mannes, der in einem möblierten Zimmer sitzt und melancholisch zur Seite schaut, der Mann ist etwa dreißig Jahre alt.
    Der britische Dramatiker Joe Orton in seinem Zimmer in London, das er mit seinem Lebensgefährten Kenneth Halliwell teilte und in dem er ermordet aufgefunden wurde. (dpa-Bildarchiv/London Express)
    Inspektor: "Wo waren Sie Samstagabend?"
    Mann: "Im Bett."
    Inspektor: "Und können Sie das bestätigen?"
    Frau: "Natürlich nicht!"
    Eine Szene aus "Loot" - Beute - Uraufführung 1965 am Londoner West End Theatre, später verfilmt und - etwas umständlich - ins Deutsche übersetzt: "Die größten Gauner weit und breit". Joe Ortons berühmtestes Stück: Alle sind käuflich, verlogen und haben Dreck am Stecken - die Queen, der Papst, die Polizei, die anständige, britische Gesellschaft.
    "Wenn er ab und zu aus London kam, zu uns heim nach Leicester, brachte er Mutter immer Geschenke mit, Vasen, Pralinenschalen. Mutter fand es toll! Es war alles geklaut, aus der Schokoladenfabrik oder anderen Jobs, die Joe eben so machte. Er hat wirklich viel geklaut."
    Erinnert sich Leonie Orton an ihren elf Jahre älteren Bruder Joe. Keine Geheimnisse, ein sehr vertrautes Verhältnis sei das gewesen zwischen den beiden. Großer Bruder und kleine Schwester. Joes Homosexualität? Auch die Mutter ahnte es, aber über so etwas sprach man nicht, in den 50ern und 60ern.
    Paviane und Männer in Feinripp-Unterhosen
    Inspektor: "Zwei gesunde, junge Männer, Samstagnacht, in getrennten Betten? Sehr unwahrscheinlich. Und das soll ich glauben?"
    "Sechzehn Jahre hausten sie zusammen, Joe und sein Lebensgefährte Kenneth Halliwell", erzählt Leonie Orton.
    Und verfielen 1963 auf den Spleen, inkognito Bücher aus einer Bibliothek auszuleihen und modifiziert wieder zurückzugeben, mit Pavianen und Männern in Feinripp-Unterhosen auf die Cover collagiert. Der Schabernack flog auf.
    "Der Gefängnispsychologe sagte: 'Wir denken, Ihr Zimmergenosse ist ein Homosexueller.' Joe sagte: 'Ach echt?'. Natürlich konnte er sich nicht outen, es wäre die Hölle gewesen", sagt die Schwester.
    Sechs Monate Gefängnis lautete das Urteil, nicht wegen der paar harmlosen Bild-Scherze, sondern wegen des Gerüchts. Der Boulevard beginnt sich zu interessieren für diesen "neuen Oscar Wilde". Joe Orton in einem Fernsehinterview:
    Joe Orton: "A nude woman on a nude book? People must have been very surprised."
    Moderator: "What was the motive, why did you do it?
    Joe Orton: "It was just a joke. Also I didn't like libraries anyway."
    Ein Proto-Punk
    "Er war ein Kleinstadtjunge. Arm aufgewachsen, sehr schlecht in der Schule. Das hat ihn ja auf die Theaterbühne getrieben. Und das hieß: London. Niemals wäre er wieder nach Leicester zurückgekommen!", erzählt Leonie Orton.
    Die Kuratorin und Literaturwissenschaftlerin Emma Parker von der Uni Leicester ordnet ein:
    "Ein Outsider; wohl auch legasthenisch, aber damals konnte man mit so etwas wie Legasthenie nicht umgehen. Wir möchten ein neues Bild zeichnen: Ich würde ihn einen Protopunk nennen. Jamie Reid - hat die Plattencover der Sex Pistols designt - oder die In-Your-Face-Theatre-Bewegung: Sie alle berufen sich auf Joe Orton."
    Mann: "Ich bin blöd. Das passt."
    Inspektor: "Beweisen Sie mir, dass Sie blöd sind!"
    Mann: "Geht nich', blöd, was?"
    Inspektor: "Sie müssen blöd sein, wenn Sie glauben, dass ich Ihnen das glaube."
    Totschlag aus Neid
    Joe Orton sprühte vor Dialog- und Regie-Ideen, drei Jahre lang, während Kenneth Halliwell, der eigentlich auch als Autor reüssieren wollte, nichts gelang. Joe wurde gefeiert, Kenneth - privat wie künstlerisch - immer eifersüchtiger auf den neuen Star im Theater und in Fernsehspielen. Das war dann wohl das Motiv. Am 8. August '67 erschlug Kenneth Joe. Anschließend vergiftete er sich selbst.
    So wird "Loot" aktuell in London so aufgeführt, wie Joe Orton es geschrieben hatte. Das Stück war 50 Jahre lang in der zensierten Fassung zu sehen, ohne manche Queen-, Papst- und Spießer-Witze oder den ätzenden Spott über korrupte Beamte. Das tue aktuell schließlich auch der britischen Gesellschaft gut, sagt die Schwester, Leonie Orton:
    "Wir brauchen Satire, und immer mehr davon. Kennen Sie eigentlich Joes Edna-Welthorpe-Leserbriefe? Er hat sich als Frau ausgegeben und an Zeitungen geschrieben, nannte seine eigenen Stücke eine gequirlte Kacke. Und das wurde auch gedruckt. So blöd war er doch nicht: Die beste Werbung ist immer noch der Verriss! Da sagt jeder: Was so schlecht ist, will ich sehen!"