Mittwoch, 24. April 2024

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Jerusalem in Italien
Architektur gewordene Passionsgeschichte

In der Karwoche werden im ländlichen Italien die Kreuzigungsszenen Jesu nachgestellt. Die Darstellung der Passionsgeschichte hat eine sehr lange Tradition: Seit Jahrhunderten entsteht so mitten in Rom und in anderen italienischen Metropolen das biblische Jerusalem.

Von Thomas Migge | 22.03.2016
    Zu sehen ist die Basilika von Aquileia
    Auch in der Basilika von Aquileia finden sich Imitationen der Grabstätte Jesu (imago/Papsch)
    Die Treppe ist ganz aus Marmor. Ihre Stufen dürfen nicht betreten werden. Zumindest nicht mit Füßen. Wer die Treppe nutzen will, muss das auf Knien tun. Nur kniend erreicht man am oberen Ende der Treppe eine Kapelle mit einem Ikonenbildnis, das der frommen Legende nach nicht von menschlicher Hand gemalt worden sein soll. Aber nicht diese Ikone ist das Erstaunliche in dem großen Gebäude nahe der Johannesbasilika, sondern es ist die Treppe. Denn über diese Treppe soll Jesus gelaufen sein - auf dem Weg zur Vernehmung durch den römischen Statthalter in Palästina Pontius Pilatus.
    Jesus trug, so heißt es, bei dieser Vernehmung bereits eine Dornenkrone. Blut tropfte aus seiner verletzten Kopfhaut auf einige Stufen dieser Treppe. Die dunklen Flecken, die man noch heute erkennen kann, sollen also das Blut desjenigen sein, der kurz darauf gekreuzigt wurde. Es war Helena, die Mutter von Kaiser Konstantin dem Großen, die diese Treppe im Jahr 326 nach Rom bringen ließ - und zwar nach einer Pilgerreise ins Heilige Land. Die heilige Helena schuf damit eines der ersten von vielen Jerusalem-Heiligtümern in Italien, erklärt der italienische Mittelalterhistoriker Franco Cardini. Im vergangenen Jahr veröffentlichte er ein Buch zu den, so der Titel, "Italienischen Jerusalems":
    "Als die Mutter des Kaisers im Heiligen Land war, besuchte sie die Orte der Leidensgeschichte. Nach ihrer Rückkehr trieb sie in Italien, aber vor allem in Rom, den Bau von Heiligtümern voran, die inspiriert waren von den Originalen in Palästina."
    Reliquien wurden nach Rom gebracht
    Wie das Heiligtum der Heiligen Treppe - bis heute einer der meistbesuchten Pilgerorte Roms. Helena schaffte Wagenladungen voll mit vermeintlichen Reliquien aus dem Heiligen Land nach Rom. Reliquien, die für die Stadt der Päpste enorm wichtig wurden. Einige davon sind in der Basilika des Heiligen Kreuzes untergebracht, nicht weit von der Scala Santa entfernt. Darunter ein Holz-Fragment des Kreuzes, ein Nagel dieses Kreuzes und der so genannte Titulus Crucis, jene Kreuzestafel, die die Initialen INRI, Iesus Nazarenus Rex Iudaeorum tragen, Jesus von Nazaret, König der Juden.
    Mit Hilfe dieser und zahlreicher anderer Heilig-Land-Reliquien entstanden Orte der Anbetung, die es den Gläubigen ermöglichen sollten, sich ein wenig wie in Jerusalem zu fühlen. Jerusalem-Imitate also, vor allem für diejenigen Gläubigen und Pilger, denen eine Reise ins Heilige Land unmöglich war. Franco Cardini:
    "Italien, vor allem Rom, ist voll von solchen Orten, die an Jerusalem erinnern, die Jerusalem imitieren sollen. Das Zentrum der katholischen Christenheit und die Stadt, die wie keine andere mit dem Monotheismus verbunden ist, also Jerusalem, stehen seit der Zeit der frühen Kirche in engen Beziehungen. Seit der Kreuzigung des Apostels Petrus 64 nach Christus in Rom, aber vor allem seit den archäologischen Abenteuern von Helena."
    An katholischen Feiertagen wird die Leidensgeschichte nachgebaut
    So werden an katholischen Feiertagen im ländlichen Italien immer noch Orte der Leidensgeschichte nachgebaut: immer in Erinnerung an das, was in Jerusalem und Umgebung geschah. Zum Beispiel am Gründonnerstag, erklärt Historiker Cardini:
    "Noch heute, immer an Gründonnerstag, werden in vielen Regionen Italiens, hauptsächlich auf dem Land, Kreuzigungsstätten errichtet, mit allem Drum und Dran."
    Auch die von Laiendarstellern nachgestellten Kreuzigungsszenen- und umzüge, mit Jesus-Schauspielern, die täuschend echt die Leidengeschichte nachstellen, seien, so Cardini, nichts anderes, als das Heraufbeschwören Jerusalems, also des Ortes, an dem der gewirkt hat, den Christen für den Gottessohn halten.
    Noch heute kann man in Italien, entlang der wichtigsten Pilgerstrassen, wie etwa der Via Francigena, Orte besichtigen, die von Jerusalem inspiriert worden sind. In verschiedenen italienischen Kirchen etwa findet man nachgebaute Teaser: So wurde im Mittelalter behauptet, mehr oder weniger genau dem Original bei Jerusalem entsprechen.
    Errichtung von Imitationen war ein Muss für Kirchen
    In Aquileia in Norditalien, im mittelitalienischen Aquapendente und in Florenz und anderswo: Das Errichten von Imitationen der Grabstätten Jesu war in Mittelalter und Renaissance ein Muss für Kirchen, die sich von anderen unterscheiden wollten. Je unwahrscheinlicher eine Pilgerreise ins Heilige Land unter den gegebenen politischen Umständen schien, umso dringlicher wurde das Bedürfnis, Imitationen von heiligen Stätten in Jerusalem in Italien zu schaffen. Franco Cardini:
    "Ende des 15. Jahrhunderts entstand in der Toskana und in den norditalienischen Regionen Lombardei und Piemont auch eine ganz neue Form der Jerusalem-Verehrung. Die "Sacri Monti", die ‚heiligen Berge’ sind Heiligtümer, die sich aus verschiedenen Kapellen zusammensetzen. Sie spiegeln symbolisch die Orte der Leidensgeschichte in Jerusalem wider. Diese einzelnen Kapellen abzuschreiten, in tiefer Frömmigkeit, führt zu einem kompletten Sündenerlass."
    Solche "Heiligen Berge" können noch heute in Italien besichtigt werden. Allein in Norditalien gibt es neun solcher Pilgerorte. Sie sind Weltkulturgut der UNESCO. Der vielleicht eindrucksvollste "heilige Berg" ist der in Varese. Er besteht aus 14 Kapellen, errichtet im 16. Jahrhundert. Die 14 Kapellen stehen in einem Abstand voneinander entfernt wie die 14 Orte der Jerusalemer Leidensgeschichte. Noch heute pilgern viele Gläubige zum "heiligen Berg" in Varese - eine Quasi-Pilgerreise nach Jerusalem, nur weitaus bequemer und ungefährlicher.