Ambivalente Farbe

Warum Grau unsere Fantasie anregt

05:40 Minuten
Ein gelber runder Tisch auf grauem Teppich inmitten von grauen Stühlen.
Vor einem grauem Hintergrund knallt jede Farbe – wie dieser Tisch. © Unsplash/William
Von Cora Knoblauch · 07.01.2020
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Der fahlgraue Januar-Himmel ist Inbegriff winterlicher Depressionen, der silbergraue Kaschmir-Pullover dagegen steht für zeitlosen Stil und guten Geschmack. Auf der Suche nach dem Geheimnis einer unbunten Farbe.
Wenn Menschen nach ihrer Lieblingsfarbe gefragt werden, sagt nur etwa ein Prozent der Befragten: Grau. Kein Wunder: Trostlosigkeit, Langeweile und trübe Gefühle werden mit dieser unbunten Farbe assoziiert.
Schaut man jedoch in die Schaufenster mittel- und hochpreisiger Modeboutiquen, hängen dort zwischen den jeweiligen Saisonfarben graue Kleidungsstücke. Seit Jahrzehnten. Diese Farben heißen natürlich nicht einfach "Grau", sondern "Pavilion Gray" oder "Warm Silver".
Grau fällt nicht zu sehr auf. Mit einem grauen Mantel oder Pulli kann man fast nichts falsch machen. Ist Grau also schlichtweg mutlose Diplomatie?

"Grau bringt Farben zum Leuchten"

Zu Besuch in einem schwedischen Laden für Inneneinrichtung, der die Farbe von Granit zu seinem Markennamen gemacht hat. Eliot Barve kommt aus Stockholm und ist "Visual Merchandiser" der Firma, also so etwas wie ein Verkaufsexperte für die Optik.
"Wenn wir uns über die Faszination von Grau unterhalten, müssen wir auch über das Wetter in Nordeuropa sprechen", sagt Eliot Barve. "Viele Wochen im Jahr schauen wir in eine graue Natur. Wir kennen Grau also schon aus unserer Kindheit, es ist für uns eine natürliche Farbe. Doch Grau bringt Farben zum Leuchten. Vor einem grauen Hintergrund, zum Beispiel auf einem grauen Sofa, kommen rote und orangene Kissen viel stärker zur Geltung als auf einem eh schon farbigen Sofa. Und weil wir so einen langen, trostlosen Winter haben, können wir den Sommer und seine Farben viel mehr wertschätzen, als ohne graue Jahreszeit. Ich denke, das können wir auch auf unsere Inneneinrichtung übertragen. Auf eine schöne Art."

Das Geschäft mit den Emotionen

Ein graues Sofa mit roten Kissen löst bei uns Nordeuropäern also eine ähnliche Emotion aus wie die ersten Frühblüher nach einem kalten, dunklen Winter. Mit diesem Gefühl lässt sich hierzulande offenbar gutes Geschäft machen. Die schwedische Kette expandiert in Deutschland wie kaum ein anderes Unternehmen für Designer-Krimskrams.
Das Lieblingsgrau des schwedischen Stylisten Eliot ist übrigens Betongrau. Kombiniert aber unbedingt mit leuchtenden Farben, betont er. Apropos Betongrau. Von wegen "50 Shades of Grey": 65 Grautöne zählt ein Handbuch der Farbpsychologie auf: von Aluminium- und Aschgrau über Bleigrau, Lichtgrau, Stahlgrau bis zu Zementgrau. Aber ist Grau überhaupt eine Farbe? Ich frage den Kunsthistoriker Stefan Trinks.
"Im Physikalischen Sinne sicher nicht", sagt er. "Denn es ist eine Mischung aus 50 Prozent Weiß und 50 Prozent Schwarz, und damit sind beides keine physikalischen Farben. Aber im kunsthistorischen Sinne selbstverständlich. Es ist sogar eine der wichtigsten Farben von Anbeginn der Malerei an."

Wir träumen in Grautönen

Der flämische Maler Jan van Eyck erfand vor 600 Jahren die Ölmalerei und begann mit: grauen Bildern - der sogenannten Grisaille-Malerei. Für Goethe war Grau nicht nur die Summe aller Farben, sondern auch deren Ursprung.
Die beinahe ikonischen Bilder eines der bekanntesten deutschen zeitgenössischen Maler basieren ebenfalls auf Grau: In den 60er Jahren begann Gerhard Richter damit, Leinwände grau zu streichen, zunächst, weil er nicht wusste, was er malen sollte, wie er in Briefen schrieb. Grau sei die totale Auslöschung von Sinn, behauptet Richter.

"Gerhard Richter sagt, Grau löst keine Emotionen aus und genau das möchte er mit seinen grauen Bildern erreichen", erklärt Stefan Trinks. "Wir denken an seine Umsetzung von Fotografien in Ölmalerei. Das sind alles graue Bilder, die laut Gerhard Richter so wenig wie möglich Emotionen auslösen sollen, um sich eben auf die reine Malerei zu konzentrieren. Aber das ist ein Paradox. Natürlich löst Grau Emotionen aus! Eben nicht die Auslöschung von Bedeutung, wie Richter das möchte, sondern im Gegenteil: Grau ist die Farbe unserer Träume und damit hoch aufgeladen."
Männer in grauen Anzügen sitzen an einem Tisch, der vordere raucht.
Phänomen grauer Herrenanzug: Armin Mueller-Stahl und seine grauen Männer in dem Film "Momo".© imago images / Prod.DB
Angeblich träumen wir vor allem in Grautönen. In unsere Kleiderschränke zog der sprichwörtliche graue Herrenanzug bereits Mitte des 19. Jahrhunderts ein. Ein Mode-Import aus dem industriellen England. Der schlichte, graue Herrenanzug wurde zum Sinnbild des Mannes von Welt. Naja - des nordeuropäischen Mannes von Welt.

"Dieses riesige absolute Nichts"

Der italienische Brioni-Nobel-Schneider Umberto Angeloni hingegen lästerte vor 20 Jahren über graue Anzugträger und deren graue Krawatten: "Bei einem der Grau in Grau in Grau trägt, fällt mir nur eines auf: Nichts. Dieses riesige absolute Nichts."
Dieses vernichtende Urteil trifft mit Sicherheit auch auf Michael Endes fiese graue Herren im Roman "Momo" zu. Nur eines von vielen Beispielen in der Literatur, das alles Negative an diese Farbe koppelt. Ist Grau also nicht doch die Farbe der Emotionslosen, frage ich den Kunsthistoriker Trinks.
"Das würde ich selbstverständlich bestreiten, denn ich trage seit dem 15. Lebensjahr Grau", sagt er. "Und zwar ausschließlich. Nein im Gegenteil. Es ist aus meiner Sicht die am aufwühlendste Farbe. Denken wir eben an das Grau unserer Träume, wir wissen da ja genau, was für Farben einzusetzen sind. Insofern ist Grau sozusagen die fantasieanregendste Farbe überhaupt, weil wir die Nuancen dieser unglaublichen Fülle an Grau automatisch ausfüllen."
Wer an einem tristen Wintertag also an einem asphaltgrauen See spazieren geht, der muss sich lediglich ein bisschen anstrengen: Die Fantasie kann die trüb-grauen Nuancen mit den Farben des Sommers ausfüllen. Wem es gelingt…
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