Freitag, 29. März 2024

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Musik in den Wäldern von Compiègne
Akustische Entdeckungsreise für Naturliebhaber

Musik und Natur stehen seit jeher in einer inspirierenden Verbindung miteinander. Das Festival Musique des Forêts von Compiègne in Frankreich knüpft an diese Tradition an - mit Konzerterlebnissen in der Natur und musikalischen Waldspaziergängen, traditionell von Mitte Juni bis Mitte Juli.

Von Dorothea Breit | 21.06.2020
Drei Musikerinnen und eine Gruppe von Menschen haben sich im Schatten der Bäume versammelt
Die Verbindung von Musik und Wald, von Natur und Kultur steht im Zentrum des Festivals der Musik in den Wäldern von Compiègne (Deutschlandradio / Dorothea Breit)
Blühende Rosenbüsche ranken in den Gärten des Dorfs Choisy-au-Bac. Gegenüber der gotischen Kirche liegt ein Park: weite grüne Wiesen, umgeben von duftenden Linden- und Kastanienbäumen. Ein paar weiße Partyzelte stehen im Schatten der mächtigen alten Bäume verteilt. Besucher genießen ländliche Büfetts, einfache Tische und Bänke auf der grünen Wiese laden zum Sitzen ein. Im Hintergrund ist eine kleine Bühne zu sehen, davor aufgereiht Stühle. Bei Einbruch der Dämmerung lodern rundum Fackeln auf. Die Zuhörer nehmen ihre Plätze ein, dann treten die Musiker, der tschechische Geiger Pavel Sporcl und das Ensemble Gipsy Way auf die Bühne. Sie eröffnen ihr Konzert unter freiem Himmel mit dem Ungarischen Tanz von Johannes Brahms.
Pavel Sporcl ist ein Ausnahmetalent und mit seiner himmelblauen Geige ein Rebell der Zunft. Sein virtuoses, dynamisches Spiel ist berauschend - das Zwiegespräch der Geige, die die Linie zeichnet, mit der ungarischen Tischzymbal, die den Klangraum in den umgebenden Park öffnet. Diese Verbindung von Musik und Wald, von Natur und Kultur steht im Zentrum des Festivals der Musik in den Wäldern von Compiègne.
"Zuerst muss man sagen, dass die Instrumente der klassischen Musik fast alle aus Holz sind, dass der Wald eine Welt von Töne ist, der Wind in den Bäumen, die Vögel, die Tiere, unsere Schritte auf den Blättern. Aber das bedeutendste ist, dass seit dem Beginn der klassischen Musik die Komponisten Werke schaffen, die von dem Wald inspiriert sind und sogar in unserer Epoche: Olivier Messians seine Vögel zum Beispiel. Diese Verbindung ist alt."
Städtchen mit kulturhistorischer Vergangenheit
Bruno Ory-Lavollée ist Vorsitzender der Festivalstiftung. Vor 29 Jahren hatte er die Idee zur Gründung dieses Festivals, das an die vergessene Tradition der Musik in den Wäldern der Region rund um die Kleinstadt Compiègne erinnert. Ein Stadtspaziergang öffnet die Augen für die kulturhistorische Vergangenheit des von alten Mauern und Türmen geprägten Städtchens an der Oise.
Am Flussufer ankern Schiffe. Ein Dampfer zieht auf dem ruhigen Gewässer dahin. Compiègne war einst ein wichtiger Umschlaghafen für Holz und Wein, sagt der Stadtführer Geralde Machut. "In dem riesigen Waldgebiet der Region wurde seit der römischen Epoche Forstwirtschaft und Feldanbau betrieben. Die Merowinger unter Clodwig gaben den dörflichen Ansiedlungen dann den Namen Compiègne, das kommt vom lateinischen Compendium. "
Reste massiver Festungsmauern erinnern an jene Zeit, Fragmente von Wehrtürmen. Vierundvierzig sollen es gewesen sein rund um die Stadt. Mittelalterliches Gemäuer flankiert den Weg Richtung Altstadt, schmale, kopfsteingepflasterte Gassen, vorbei an einem Friedhof, dessen Eingangstor zu einem der königlichen Palais gehört haben soll. Steine und Fragmente antiker Gemäuer wurden über die Jahrhunderte in nachfolgenden Architekturen recycelt. Auf der grünen Wiese einer Parkanlage stehen die Arkadenbögen eines ehemaligen Jakobinerklosters aufgereiht wie Skulpturen.
Auf einer grünen Wiese stehen Arkadenbögen eines ehemaligen Jakobinerklosters aufgereiht
Fragmente antiker Gemäuer wurden in nachfolgenden Architekturen recycelt - wie hier die Arkadenbögen eines ehemaligen Jakobinerklosters (Deutschlandradio / Dorothea Breit)
"Die französischen Könige kamen vor allem zur Jagd hierher, in den Wäldern gab es reichlich Wild. Compiègne liegt nur 65 Kilometer entfernt von Paris, das bedeutete damals weniger als eine Tagesreise. Und die Stadt entwickelte sich mit den Aufenthalten der Könige. Die hiesige Forstwirtschaft lieferte das Holz für den Bau von Häusern und Palais, aber auch für den Schiffbau. Compiègne war ein bedeutender Handelsplatz für Holz, es gab viele Handwerksbetriebe, Tischler und Schreiner, Holzhauer und Schnitzer. Im Jahr 1050 übergab der König die Stadtrechte an Compiègne."
Compiègne war drittwichtigste Herrscherresidenz Frankreichs
Fachwerkhäuser mit Sprossenfenstern und spitzen Giebeln säumen die Gassen. Dazwischen ehemalige Hospize und Klöster, auch Kirchen, die von Jakobinern, Benediktinern und Augustinern errichtet wurden. An manch kleinem Platz mit Brunnen in der Mitte stehen noch villenartige Bürgerhäuser aus dunklem Holzfachwerk und dem ockergrauen Kalkstein der Region. Das Rathaus im gotischen Stil ließ Ludwig XII Ende des 15., Anfang des 16. Jahrhunderts an einem heute noch zentralen Platz errichten.
Von hier ist es nicht mehr weit zum Schloss. Drei königliche Palais gingen dem voraus, ehe sich Ludwig XV dann ein neoklassizistisches Schloss leistete. Napoleon Bonaparte und Napoleon III bauten es später aus. Der Prunk ist wie in jedem Schloss atemraubend. Am stolzesten sei man auf das Ratszimmer, erklärt ein Historiker bei der Führung durch die prächtigen Gemächer.
Fachwerkhäuser mit Sprossenfenstern und spitzen Giebeln
Fachwerkhäuser mit Sprossenfenstern und spitzen Giebeln säumen die Gassen von Compiègne (Deutschlandradio / Dorothea Breit)
"Das Ratszimmer ist deshalb so bedeutend, weil Compiègne neben Versailles und Fontainebleau zu den drei Königsresidenzen des Ancien Regime gehörte. Der König konnte vor der Revolution den Ministerrat hier abhalten. Sie tagten in diesem Salon. Die Minister saßen rund um den König versammelt. Und es wurden durchaus wichtige Entscheidung getroffen, unter anderem, die Insel Korsika zu kaufen, oder Amerika zu verkaufen."
Das Schloss von Compiègne war nach Versailles und Fontainebleau die wichtigste Herrscherresidenz Frankreichs. Und wie andernorts auch luden die Könige zu ihrer Unterhaltung illustre Gäste ein, europäische Aristokratie, Dichter, Künstler und Musiker. Manche waren in der Region geboren, andere zogen zu, wie zum Beispiel Leo Delibes, ein Zeitgenosse von Jacques Offenbach. Er baute sich eine Villa in Choisy-au-Bac, erzählt Bruno Ory-Lavollée, der Vorsitzende des Musikfestivals.
"Leo Delibes, er kam, weil er in der Natur komponieren wollte, weil er diesen Wald sehr gern gehabt hat, dieses Dorf von Choisy au Bac, diese Kirche. Mehrere andere kamen - Rossini sehr oft in das Schloss von Saint Crépin-aux-Bois, und auch in das Schloss von Compiègne kamen viele Komponisten, weil es hier den Wettbewerb des Priz de Rome gab am Ende des 19. Jahrhunderts und bis in Ersten Weltkrieg. Wir haben ein Foto, wo zwölf Komponisten stehen vor dem Schloss und einer von ihnen ist Maurice Ravel."
Drei Wochen lang klassische Musik - für jedermann
Der höfische Rahmen ist heute passé. Das Musikfestival in den Wäldern von Compiègne ist für alle Leute samt Kind und Kegel. Auch ein Aufenthalts- und Auftragsprogramm für junge Komponisten und Komponistinnen gibt es, denn die Natur ist für sie noch genauso inspirierend wie ehedem für Gustav Mahler oder Johannes Brahms. Das Thema des Festivals lautet in diesem Jahr "Mythologie und Wald".
"Leo Delibes schrieb dieses Ballett 'Silvia' und das passiert in einem Wald, aber ein Wald im griechischen Land in der Antiquität. Es gibt viele Werke, die Personen, die Götter und die Kreatur, den man in dem Wald begegnet, erwähnen: die Nymphen, die Satyrn, Diane, Artemis, die Jagd, vielleicht Apollo, der Musik spielt, und Dionysos und seine Gefährtinnen, und sogar Orphée, Eurydice."
Drei Wochen lang klassische Musik in Konzertsälen der Region und unter freien Himmel. In Kirchen, Schlossparks und versteckten Landsitzen. Ein ebenso unvergessliches Musik- und Naturerlebnis erwartet die Besucher beim musikalischen Waldspaziergang. Die Wanderungen sind zwischen fünf, zehn und 20 Kilometer lang. Eine startet in dem schmucken Dörfchen Saint Jean aux Bois. Treffpunkt ist die Wiese vor der Abteikirche im Schatten alter Bäume.
Die Querflötistin Maria Pia und der Gitarrist Bertrand Casé sitzen unter den Bäumen auf einer Bank, die Notenständer vor sich aufgestellt. "Für den Spaziergang haben wir meditative Stücke ausgewählt mit Beziehung zur Natur und für ein Publikum, das anders ist, als wir es gewöhnlich bei Konzerten haben."
Knapp zwei Dutzend Spaziergänger haben sich um Jean-Luc Giavernis versammelt. Der Mediator und Pädagoge begleitet den Waldspaziergang. "Ich habe die musikalischen Waldspaziergänge ins Leben gerufen, zur Erholung. Eine musikalische Ausbildung habe ich nicht, aber ich kenne mich in der Natur aus und weiß aus Erfahrung von der heilsamen Wirkung des Walds. Diesen positiven Effekt auf den Menschen hat schon Hippocrates beschrieben und untersucht. Heute wissen wir, dass der Wald chemische und hormonelle Reaktionen im Körper auslöst. Mich fasziniert diese Idee, Mensch und Natur in Einklang zu bringen. Es sind mindestens drei Elemente, die hier zusammen klingen: Der Wald, die Musik und die Vögel."
Die Gruppe folgt Jean-Luc die Dorfstraße hinunter Richtung Wald, vorbei an blühenden Vorgärten und Häusern mit farbigen Fensterläden. Ein zweites Musik-Duo ist noch dabei mit Violine und Gitarre. Die Musiker und Musikerinnen trennen sich jedoch am Waldrand von der Gruppe und gehen einen anderen Weg. Es ist ein bunt gemischter Laubwald: Alte Eichen, Linden, Buchen und Kastanien. Ein Märchenwald. Es duftet nach Holz, Laub und Moos, ein leichtes Lüftchen weht, Vögel musizieren. Nach einer Weile mischt sich leise Musik in ihr Gezwitscher.
Zwei Frauen musizieren vor einer zerklüfteten Kastanie
Musizieren vor dem ältesten Baum des Walds von Compiègne: einer 800 Jahre alten Kastanie (Deutschlandradio / Dorothea Breit)
Der Weg führt zu einer Lichtung. Auf dem Wiesenflecken hat das Damen-Duo mit Gitarre und Violine die Notenständer aufgestellt. Sie spielen "La méditation" von Jules Massenet. Im Hintergrund steht eine uralte Kastanie, ihr Stamm sieht merkwürdig zerklüftet aus.
"Diese Kastanie ist 800 Jahre alt, es ist der älteste Baum des Walds von Compiègne. Leider ist er sehr beschädigt. Kinder haben hier gespielt, der Baum ist von innen heraus verbrannt. Die Stürme der vergangenen Jahre haben ihm auch ziemlich zugesetzt. Eine 800 Jahre alte Kastanie - das muss man sich vorstellen! Die wurde unter König Ludwig dem Neunten gepflanzt! Trotz der Schäden ist sie immer noch wunderschön und bleibt das Symbol dieses Walds."
Christine Verdelle ist Ärztin. Seit vielen Jahren engagiert sie sich ehrenamtlich beim Festival und sie besucht so viele Veranstaltungen wie möglich. Alle anderen Teilnehmer und Teilnehmerinnen machen hier völlig neue Erfahrungen: "Wir nehmen zum ersten Mal am Festival teil. In der Natur ist das wirklich bewegend, und ich denke, wir werden es wiederholen."
Auf Kaiserin Eugénies Spuren
Die musikalischen Waldspaziergänge finden mittlerweile nicht nur zu den Festivalwochen, sondern das ganze Jahr über statt. "Höre den Baum und die Blätter!", flüstern die Instrumente. Die Geräusche des Walds und der Musik klingen zusammen, und für Hörer und Hörerin wird innerer und äußerer Raum eins. Mehr noch als beim reinen Musikhören ist man beim Spazieren im Wald mit allen Sinnen präsent, aufmerksam und dabei völlig entspannt. Aktiv und passiv zugleich."
Der Laubwald geht über in einen lichten Kiefernhain, dazwischen wuchern mannshohe Farne. An einer sternförmigen Weggabelung wartet Jean-Luc, bis alle Teilnehmer der Gruppe um ihn versammelt sind. "Wählen Sie den Weg, dem Sie gerne folgen würden, wenn Sie alleine hier wären. Welcher Weg spricht Sie an, oder inspiriert Sie?"
Keine einfache Entscheidung. Doch verlaufen wird sich hier niemand. An jeder Wegkreuzung stehen historische Wegweiser, hohe weiße Pfosten mit kleinen weißen Schildern, die in verschiedene Richtungen zeigen. Wer genau hinschaut, entdeckt an jeder Weggabelung auf einem der Schilder eine rote Markierung.
"Die hat man für Kaiserin Eugénie angebracht, damit sie sich nicht verirrte, wenn sie mit der Pferdekutsche durch den Wald fuhr. Das Schild mit der roten Markierung zeigt Richtung Schloss. Eugénie liebte es, durch den Wald zu kutschieren und wusste auf diese Weise, wie sie wieder nach Hause kam. Sie war eine außergewöhnliche Frau und voller Ideen. Sie hat viel für Compiègne getan, hat Leute ins Schloss eingeladen und zu Spaziergängen."