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Bürgermeister von Istanbul
Kräftemessen mit der Regierung

Seit einem Jahr ist Ekrem İmamoğlu Bürgermeister von Istanbul. Haushoch hatte er gegen den Kandidaten der regierenden AKP gewonnen. Zweimal sogar, nachdem die erste Wahl annulliert worden war. Entsprechend schwer macht die Regierung es ihm. Das zeigt der Streit um den Taksim-Platz.

Von Susanne Güsten | 23.06.2020
Der Taksim-Platz in Istanbul im Februar 2019.
Der Taksim-Platz in Istanbul im Februar 2019. (AFP - Yasin AKGUL)
Der Taksim-Platz, das Herz von Istanbul. Seit Jahren wird hier gebaut. Eine gewaltige Moschee dominiert den Platz, aus der Großbaustelle gegenüber soll ein neues Opernhaus werden - dazwischen eine gähnend öde Fläche von Betonplatten und sonst nichts. Wer heutzutage den Taksim überquert, der flaniert nicht, sondern hastet. Das wollte der neue Bürgermeister İmamoğlu ändern. Vom Taksim aus wandte er sich Anfang des Jahres an die Bewohner der Stadt:
"Plätze sind Begegnungsstätten und Treffpunkte, sie sollen uns die Seele einer Stadt zeigen. Leider ist das in Istanbul schon lange nicht mehr so. Wir wollen unsere Plätze jetzt neu beleben, und dabei wollen wir die Bürger um ihre Meinung fragen. Ich lade sie hiermit ein, an der Neugestaltung des Taksim teilzunehmen - dem Herzen der schönsten Stadt der Welt."
BürgerInnen sollen "Herz von Istanbul" mit neugestalten
Um die Debatte in Gang zu setzen, ließ die Stadtverwaltung auf dem Taksim eine Konstruktion aus Stahl und Holz errichten. Unten war eine Ausstellung über den Taksim im Wandel der Zeit untergebracht; darüber schwebte eine Plattform aus Holz. Aus luftiger Höhe konnten Besucher über den Taksim blicken, in einer Art Amphitheater konnten sie zusammensitzen und diskutieren. Oberbürgermeister İmamoğlu kam auch dazu:
"Wir haben diese Plattform errichtet, um die Bürger an der Diskussion um den Taksim zu beteiligen - damit wir hier gemeinsam überlegen können, wie wir das Herz von Istanbul wieder mit Leben erfüllen können."
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Es war ein Sieg für die Demokratie, als vor sechs Monaten der Oppositionskandidat Ekrem İmamoğlu zum Oberbürgermeister Istanbuls gewählt wurde. Ein gewaltiger Vertrauensvorschuss für den damals fast unbekannten Kommunalpolitiker. Die Bilanz ist durchwachsen.
Die "Begegnungsstation", wie die Konstruktion hieß, kam gut an bei den Istanbulern. In der Ausstellung drängten sich die Besucher – viele von ihnen begeistert, so wie diese Frau:
"Die Fotos zeigen, wie dieser Platz sich über die Epochen verändert hat. Diese Erinnerung an die Geschichte können wir gut brauchen, denn so wie der Platz jetzt ist, ist er ja unerträglich. Das hier ist wie ein kleiner Freiraum, in dem man aufatmen kann. Es erinnert uns daran, dass dieser öffentliche Raum uns allen gehört."
Auch die Plattform über der Ausstellung fand großen Anklang. Zwischen moderierten Diskussionen zur Umgestaltung des Platzes spielten Musikgruppen dort auf, von früh bis spät saßen Anwohner zusammen, sangen, tanzen und diskutierten. Zwei Monate sollte das Projekt bestehen, doch nach ein paar Tagen schritt die Polizei ein und schickte die Bürger fort.
"Als wir heute angekommen sind, ist uns mitgeteilt worden, dass hier keinerlei Veranstaltungen mehr stattfinden dürfen und alles verboten worden ist. Wir protestieren gegen diesen Verstoß gegen unser Versammlungsrecht, aber wir müssen weichen."
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Regierung schaltet sich ein
Die Denkmalschutzbehörde habe den Abriss angeordnet, teilten die Behörden mit – angesichts der Betonwüste und Großbaustellen auf dem Taksim ein fadenscheiniger Vorwand der Regierung, die städtische Aktion abzuwürgen. Doch es half nichts: İmamoğlu musste die Plattform abmontieren lassen, und damit endete die Bürgeraktion.
Es war weder der erste Eingriff aus Ankara in İmamoğlus Amtsgeschäfte noch der letzte: Die Regierung hat Ermittlungen gegen İmamoğlu wegen seiner Amtsführung als früherer Stadtteil-Bürgermeister eingeleitet, eine städtische Spendenaktion für Opfer der Corona-Krise verboten und sogar die Verfügungsgewalt über den Galata-Turm beansprucht, der ein Wahrzeichen von Istanbul ist. Bei den Bürgern der Metropole macht sie sich mit solchen Eingriffen nicht beliebter, wie dieser Istanbuler in einer Straßenumfrage des Senders Yol TV sagte:
"Ich finde es absurd, dass die Plattform abgebaut wird. Das soll offenbar ein Schlag gegen die Stadtverwaltung sein. Ich finde es nicht richtig und nicht vertretbar, dass sich der Staat so in die Angelegenheiten der Stadtverwaltung einmischt."