Die österreichische Kunst- und Kulturszene

Wien im Wartemodus

43:48 Minuten
Die Wiender Staatsoper von außen fotografiert. Zu sehen sind ausserdem eine Kreutzung und einige Fußgänger*innen.
Auch die Wiener Staatsoper empfängt wieder Gäste © Paul Lohberger
Von Paul Lohberger · 18.06.2021
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Wien ist eine Musikstadt, Österreich eine Kulturnation – das ist kein bloßes Tourismusmarketing, sondern Teil des nationalen Selbstverständnisses. Aber wegen des Coronavirus lag die Wiener Kultur im Dornröschen-Schlaf. Wie wird das Erwachen?
Die berühmte Wiener Staatsoper hat im Mai 2021 trotz Lockdown ihr Haus für Publikum geöffnet. Jedoch nicht für Vorstellungen, sondern um die Gebäude selbst zum Thema zu machen. Streng geregelt konnten Interessierte sich ansehen, was sonst als Bühne und Kulisse dient – ohne von theatralen und sozialen Inszenierungen abgelenkt zu werden.
Für Ensemble und Publikum war das auf Dauer dennoch unbefriedigend. Auch für die Sopranistin Vera-Lotte Boecker: "Wenn das Publikum da ist, spürt man gerade bei dramatischen Geschichten, da gehen alle mit. Und diese Energie spürt man auf der Bühne und die fehlt, aber nicht der Applaus per se oder dass man angeschaut wird, sondern, dass man weiß, wir alle sind jetzt gerade in dieser Story drin und erleben das."

Ohne Internet geht (fast) nichts

Die Produktionen großer Häuser wurden immerhin im Fernsehen und als Stream im Internet übertragen. Das kleine Theater Arche hat dagegen bewusst auf diese Möglichkeiten verzichtet. Im Stream wäre Theater schlicht nicht spürbar, meint Betreiber Jakub Kavin. Damit trotzdem was passiert, fand Ende Februar eine Premiere ohne Publikum, nur vor Pressevertretern, statt. "Die Schamlosen", eine Inszenierung der absurden und surrealen Texte des russischen Autors Daniil Charms.
Vier Schauspieler*innen raufen sich auf einer Bühne. Alle tragen dunkle Anzüge. Eine blonde Frau blickt direkt in die Kamara und streckt hämisch die Zunge raus.
Das Ensemble des Theaters Arche freut sich wieder spielen zu dürfen© Jakub Kavin
Obwohl, abgesehen vom Hauspersonal, nur drei Leute von der Presse im Publikum saßen, war die Stimmung ausgelassen: "Definitiv haben wir alle Auftrittsentzug", sagte ein Ensemble-Mitglied. "So ein ganzes Jahr lang nix zu machen, ist dann schon sehr frustrierend. Und das hat sehr gut getan, was auf die Beine zu stellen."

Homeoffice statt Bühne

Wer sein Leben darauf ausgerichtet hat, auf der Bühne und vor Publikum zu stehen, macht das in der Regel nicht nur zum Broterwerb – es ist eine Herzenssache. So geht es auch Pippa Galli und ihrem Partner Hans Wagner. Galli ist Schauspielerin und Sängerin, Hans Wagner produziert ihre Musik, er komponiert Theatermusik und ist Mastermind der Band "Neuschnee". Ein Tonstudio bildet das Herz ihrer gemeinsamen Wohnung – hier haben sie schon vor der Pandemie gearbeitet. Nur gab es zur Belohnung für die Mühen immer auch die Auftritte. Die finden nun ebenfalls im Studio statt und werden live zum Publikum gestreamt. Die Decke fällt den beiden aber noch nicht auf den Kopf, sie wissen sich zu helfen: "Durch das viele Zuhause-Sein habe ich gemerkt, dass mir der Platz eigentlich ein bisschen zu wenig ist, um zu texten und so", erklärt Pippa Galli. "Ich habe mir dann einen externen Raum geschaffen, wo ich dann auch manchmal hingehe zum Arbeiten."
Obwohl der Auftrittsstopp auch finanziell spürbar ist, ist auch Gallis Partner guten Mutes: "Das Live-Spielen fehlt mir schon einerseits, vor allem auch mit Musiker*innen und Freunden auf der Bühne zu stehen. Aber andererseits habe ich mich auch irgendwie so daran gewöhnt und will das jetzt gar nicht so extrem einfordern, weil ich weiß, dass das nicht die Priorität ist, sondern, dass wir gemeinsam den ganzen Scheiß irgendwie durchstehen."

Testen statt Tanzen

Während also Konzerte aus der Wohnung ins Internet gestreamt wurden, blieben in den Clubs der Stadt die Bühnen und Tanzflächen bis Ende Mai leer. So wie im "Fluc", das seit den 2000er-Jahren ein wichtiger Ort für die Clubszene, Alternative-Pop und Kunst in Wien ist.
Im Frühjahr wurde hier eine Corona-Teststation eingerichtet. Alle möglichen Umbauten wurden vorgenommen, aber es gab auch Zeit zum Ausspannen, was davor undenkbar war, erzählt Peter Nachtnebel, Assitent der Geschäftsleitung: "Bis zum Vorjahr haben wir alle, sehr intensiv im Club, mit dem Club gelebt und gearbeitet", rekapituliert er. "Zwei Wochen Sommerurlaub waren auch oft kein Urlaub, weil man trotzdem jeden Tag in seine Mails geschaut hat und man permanent in dem Ding drin war. Und das ist jetzt das erste Mal in meinem Leben, wo ich wirklich Zeit hatte, abzuschalten."
Das blaue Clubgebäude hat unssymetrische Formen. Am Eigang hängt ein rotes Schild mit der Aufschrift: "Corona-Teststation". Links neben dem Club steht ein riesiger Baum.
Im Club Fluc wurde zwischenzeitlich eine Teststation eingerichtet.© Paul Lohberger

Es geht wieder los

Am 1. Juni 2021 ist es dann aber soweit und auch das "Fluc" öffnet wieder seine Türen. Kurzerhand wird das Regelwerk vom Sommer 2020 reaktiviert: Im Club sitzt man mit Abstand, tanzen dürfen nur die Performer auf der Bühne. Dass es im Garten für die Jahreszeit viel zu frisch ist, dämpft zwar die Stimmung etwas, die Gäste sind aber trotzdem froh, mal wieder raus und unter Leute zu kommen: "Es sind die ersten Schritte, besser langsam als nie."
Im Hof des Clubs sitzen viele Mensche in Jacken und Decken gehüllt an Tischen und nehmen Getränke zu sich. Am Zaun steht in Neonbuchstaben "Idylle" geschrieben.
Die Freude über die Öffnungen ist groß© Paul Lohberger
Peter Tschmuck, Wissenschaftler an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, geht trotz der Öffnungen nicht davon aus, dass der Online-Trend abflachen könnte. Im Gegenteil erwartet er, dass die großen Betriebe die Möglichkeiten des Digitalen erkannt haben und ausbauen werden.
Für die Musikwirtschaft stellt er fest: "Die Digitalisierung hat ja zuerst einmal die Musikaufnahmen, ursprünglich auf CDs, dann später digital mit Downloads und Streaming erfasst. Dann zeitversetzt auch den Musikverlagsbereich, und jetzt, durch die Pandemie, auch den Livemusikbereich. Und da kann man jetzt ganz gut feststellen, dass es immer stärker zu einer Konvergenz dieser drei Sektoren der Musikindustrie kommt; und dass wahrscheinlich in Zukunft auch die Player, die diese Märkte bislang getrennt bedient haben, stärker zusammenwachsen werden."
Gleichzeitig rechnet er aber auch mit einem großen Andrang auf kulturelle Veranstaltungen: "Das ist jetzt ein sogenannter Nachholkonsum, der zu beobachten ist. Und davon werden die Veranstalter definitiv profitieren. Die Frage ist, wie lange wird dieser Nachholkonsum anhalten?" Denn klar sei auch, dass die Pandemie für viele Menschen eine finanzielle Belastung darstellt – sodass ihnen auf lange Sicht das Geld für Kultur und Unterhaltung fehlen könnte.