Geschichte der Hausbesetzungen

"Laboratorien der Liberalisierung"

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Das Wohnprojekt «Liebig 34» in Berlin von vorne: eine bemalte Fassade mit zahlreichen Transparenten.
Das Gebäude in der Liebigstraße 34 in Berlin-Friedrichshain ist seit 1990 besetzt. © picture alliance/Fabian Sommer/dpa
Hanno Hochmuth im Gespräch mit Stephan Karkowsky  · 08.10.2020
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Besetzte Häuser wie das von Räumung bedrohte Wohnprojekt „Liebig 34“ haben den Blick auf städtischen Wohnraum verändert, sagt der Historiker Hanno Hochmuth. Sie hätten neue Wohn- und Lebensweisen ausprobiert und zugleich historische Bausubstanz erhalten.
Das Berliner Wohnprojekt "Liebig 34" gilt europaweit als Hochburg der linksautonomen Szene. Nach langem Rechtsstreit steht nun fest, dass es am 9. Oktober geräumt werden soll, was die Bewohner und deren Unterstützer nicht kampflos hinnehmen wollen. Diese Woche kam es bereits an verschiedenen Orten zu Sachbeschädigungen. Am Tag der Räumung werden Krawalle befürchtet.

In den 70er-Jahren ging es vor allem um Wohnraum

Radikalismus habe anfangs eigentlich nicht zum Konzept der Hausbesetzer gehört, sagt der Historiker Hanno Hochmuth, der die Geschichte der Szene erforscht. Bei den frühen Hausbesetzungen in den 70er- und 80er-Jahren sei es vor allem um Wohnraum gegangen. Damals habe eine "komische Doppelsituation" geherrscht, "dass man einerseits einen wahnsinnigen Leerstand and Wohnungen hatte und andererseits eine große Wohnraumknappheit."

Ausprobieren neuer Lebens- und Wohnformen

Zu den ersten Hausbesetzungen in Deutschland sei es in Frankfurt am Main gekommen "vor fast genau 50 Jahren", so Hochmuth. Im Frankfurter Westend habe man damals mehrere Gründerzeit-Villen abreißen wollen, die dann besetzt wurden. Später seien andere Ort hinzugekommen, etwa die Hamburger Hafenstraße.
Ein bundesweites Phänomen seien Hausbesetzungen aber nicht gewesen. Vielmehr habe es einige Zentren gegeben, mit "Laboratorien der Liberalisierung, wo neue Lebens- und Wohnweisen ausprobiert worden sind."

Hausbesetzungen haben Blick auf Städte verändert

Insgesamt hätten die Hausbesetzungen die Perspektive verändert, "wie wir auf unsere Städte schauen", sagt der Historiker: "Überhaupt die Frage zu stellen: Wem gehört die Stadt? Gehört sie den Investoren oder gehört sie den Menschen, die darin wohnen?"
Vergessen dürfe man auch nicht, dass die Berliner Altbauten so erhalten geblieben sind. In den 60er- und 70er-Jahren hätten fast alle davon "platt gemacht" werden sollen. "Und die Berliner Hausbesetzer haben einen ganz ganz großen Beitrag dazu geleistet, dass die nicht abgerissen werden."
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