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Extreme Gefühle (2/2)
Tränen säen, Hoffnung ernten

Wie das Lachen ist auch das Weinen ein höchst paradoxes Phänomen: In ihm spüren wir das tiefste Tal der Trauer und zugleich die erlösende Hoffnung auf bessere Zeiten. Ein Versuch über eine Gefühlslage, bei der wissenschaftlich noch alles im Fluss ist.

Von Gesine Palmer | 01.05.2020
Das Bild wurde von Vincent van Gogh gemalt und zeigt einen trauernden alten Mann, der sein Gesicht in den Händen verbirgt.
Trauernder Mann, wie ihn Vincent van Gogh sah (dpa / picture alliance / akg-images)
Ob aus Kummer, Freude oder flehender Not: Im Weinen werden seelische Regungen körperlich sichtbar. In allen Kulturen gibt es Situationen, in denen Tränen angemessen erscheinen - und eine größere Zahl von Gelegenheiten, bei denen man sie auf jeden Fall unterdrücken sollte. Die moderne Psychologie hat den Seelenlehren der Vergangenheiten eine neue naturwissenschaftliche Orientierung hinzugefügt. So ist mittlerweile klar, wie sich die Zusammensetzung der Zwiebeltränen von der echter emotionaler Tränen unterscheidet.
Auch existieren zuhauf Statistiken und Untersuchungen zum Weinen und seiner Wirkung auf Weinende wie auf Umstehende. Eine fest gefügte Tränenlehre gibt es indes noch nicht. So bleibt die Wanderung durch Tränentäler und Tränenpaläste eine Domäne des Essays, der frei der Frage nachgehen kann, warum das Weinen oft mit Hoffnung verbunden wird.
Gesine Palmer, geboren 1960, ist promovierte Religionsphilosophin. 2007 gründete sie in Berlin das „Büro für besondere Texte" und arbeitet seither als Autorin, Trauerrednerin und Beraterin. Im März 2020 erschienen: „Tausend Tode. Über Trauer reden."

Die Moderne ist in die Jahre gekommen. Sie galt einmal als Teil eines Rationalisierungsprozesses. Man schrieb ihr zu, sie habe viele der früher üblicheren Gefühlsäußerungen unterdrückt. Vor allem aber hat sie doch den Menschen und seine Seelenbiologie gründlich erforscht. Etwa nicht? Glücksgefühle, Endorphine, Stresshormone, Serotonin und dies alles – ein Blick in die Forschungsliteratur wird es schon klären. Manche scheinbar einfachen Phänomene freilich erweisen sich schon bei leichtem Kratzen an der Oberfläche als erstaunlich mehrdeutig und überraschend unerforscht. Zu diesen Phänomenen gehört das Weinen. Genauer: das emotionale Weinen.
Warum tun wir das? Wann tun wir das? Hat es eine biologische Funktion, und wenn ja: welche?
Dass Tränenflüssigkeit für die Augenhygiene wichtig ist, leuchtet ein. Aber dieses Weinen, das uns jäh überfallen kann, wozu soll es gut sein? Und warum haben Zwiebelsaftabwehrtränen eine andere chemische Zusammensetzung als emotional verursachte Tränen?
Dass es so ist, weiß man, seit William H. Frey in den 1980er-Jahren die verschiedenen Tränen untersuchte. Warum das so ist – darüber existieren bisher nur Spekulationen.
Sicher ist: Seit es Menschen gibt, gibt es das emotionale Weinen. Es steht nicht nur am Anfang fast jedes individuellen menschlichen Lebens – ein Kind wird geboren, es schreit mit Tränen in den Augen, die Eltern oder die Umstehenden weinen vor Erleichterung und Rührung, wenn wirklich nach neun Monaten Schwangerschaft ein gesundes Kind da ist! Wenn die Mutter die Mühen der Geburt überstanden hat und ihr Kind in den Armen halten kann!
Es wird nicht bei diesem ersten Weinen bleiben. Während des gesamten menschlichen Lebens begleiten Gefühlstränen die Übergänge von einer emotional bedeutsamen Situation in eine andere. Es wird mehr oder weniger kontrolliert, mehr oder weniger häufig und mehr oder weniger lange geweint – aber geweint wird überall. In ihren bildlichen und schriftlichen Selbstzeugnissen geben die verschiedenen Kulturen Nachrichten über Tränen. Bald kulturell verpönt – "Mangelnde Affektkontrolle!" – bald gezielt eingesetzt:
Menschen die bei anderen "auf die Tränendrüse drücken"
… das Weinen wird bei bestimmten Gelegenheiten geradezu erwartet, bei anderen kommt es überraschend. Die biologisch-naturwissenschaftliche Abteilung der modernen, westlich genannten Kulturen hat viel geforscht, aber zum emotionalen Weinen weiß sie kaum mehr als einer ihrer Gründerväter, Charles Darwin. Dieser hielt das Emotionale, das uns auch ganz allein im Stillen weinen lässt, für einen eher überflüssigen Rest, vermutete in der Hauptsache aber eine evolutionsrelevante, kommunikative Funktion in der frühzeitlichen Menschenhorde.
Selbstkontrolle und lösende Tränen
Einer der bekanntesten Tränenforscher von heute, der niederländische Psychologe Ad Vingerhoets, führt eine mögliche evolutionistische Deutung des Weinens aus: Insbesondere das lautlose Weinen kleiner Kinder könnte evolutionär den Vorteil gehabt haben, dass die Kinder ihre Bedürfnisse direkt einer Bezugsperson mitteilten, ohne Feinde oder Angreifer durch Schreien auf ihre hilflose Lage aufmerksam zu machen. Ein solches lautloses Weinen wäre freilich schon ein ziemlich kontrollierter Akt. Und die Vorstellung einer durch die Wälder marschierenden Urhorde mit still weinenden und so das Überleben sichernden Kleinkindern trägt immer den Beigeschmack von Spekulation – und diese ist immer auch Ausdruck unserer eigenen kulturellen Verfasstheit. Unter einer größeren kulturwissenschaftlichen Perspektive dürfte die biologische Fragestellung selbst ihrerseits kulturell vorgeformt sein. Auch innerhalb einer im engeren Sinne wissenschaftlichen Fragestellung (etwa nach der Häufigkeit des Weinens bei Frauen und Männern) werden die erhobenen Daten von Beginn an unterschiedlich interpretiert. Das war schon im 19. Jahrhundert so.
Wo Darwin in dem an australischen Aborigines beobachteten, schnellen Wechsel von Lachen und Weinen nur die mangelnde Kontrolle eines affektiven Überbleibsels sah, hielt sein soziologisch arbeitender Kollege Émile Durkheim genau dasselbe Phänomen des geordneten, gemeinschaftlichen Weinens für die kontrollierte Erfüllung einer bestimmten Ausdruckspflicht zu bestimmten Anlässen. Bei Trauerfeiern weint man! Überall und schon immer.
Etwas am Weinen bleibt aber unkontrollierbar mehrdeutig.
"Weinen kann Äußerung sehr verschieden gearteter Emotionen sein, was es in evidenter Weise von anderen physiologischen Ausdrucksformen unterscheidet. Nicht nur Schmerz und Trauer, sondern auch Freude, Zorn, Wut, Verzweiflung, Zerknirschung, Wehmut, Rührung, Andacht und weitere psychische Ursachen können Tränen auslösen. Weinen nimmt daher eine besondere Stellung unter den Formen menschlicher Expressivität ein, denn es stellt – wie das Lachen – zwar eine der Sprache sowie der Gestik und Mimik benachbarte Äußerungsform dar, ist aber keiner dieser beiden Kategorien eindeutig zuzuweisen. Vielmehr vollzieht es sich stets innerhalb eines Rahmens zwischen Intentionalität und Unwillkürlichkeit und fungiert dabei als Geste, die eine Emotion nach außen hin mitteilt."
Diese Feststellung – formuliert von der Historikerin Judith Hagen in ihrer 2017 veröffentlichten, emotionsgeschichtlichen Untersuchung des Weinens in der römischen Antike – wird so ähnlich von ziemlich allen zeitgenössischen Forscher:innen geteilt. Im Alltagsverhalten moderner Gesellschaften sind Tränen als emotionaler Ausdruck nur bei ausgesuchten Gelegenheiten erwünscht oder erlaubt. Darum lernen Menschen meist schon als Kinder, ihr Weinen zu kontrollieren. Entsprechend erscheint es dann, wenn es doch einmal erlaubt wird, als erleichternder Akt.
Wer weint? Heldentränen und Klageweiber
"Ein Mann, der Tränen streng entwöhnt,
Mag sich ein Held erscheinen.
Doch wenn's im Innern sehnt und dröhnt,
Geb' ihm ein Gott – zu weinen."
Goethe spricht in seinem kleinen Vierzeiler zunächst einmal etwas aus, das dem Alltagsdenken seiner Zeit bis zum Unbewusstwerden selbstverständlich war: Helden weinen nicht! Helden werden allenfalls beweint von denen, für die sie Helden waren und ihre großen Taten vollbrachten. Zum Beispiel von Frauen. Würden die Helden selbst weinen, könnten sie ja keine großen Taten vollbringen. Jedenfalls nicht im selben Augenblick. Das Vollbringen heldischer Taten setzt Gefasstheit voraus, eine sorgsame Abgrenzung von Innen und Außen. Der Held hat ein versteinertes Gesicht, während er kämpft. Für den Kampf muss er Hölderlin’sche "weiche Tränen" vermeiden, die das Augenlicht löschen könnten, muss er die Auflösung seiner heldischen Züge in Tränenfluten und Schleimhautschwellung verhindern. Entsprechend hat, wer sich unter Helden ein gefühliges Weinen erlaubt, in den meisten Kulturen mit Spott zu rechnen:
"Warum also geweint, Patroklos? Gleich wie ein Mägdlein klein und zart."
So begrüßt in Homers Heldengesang Ilias der Halbgott Achilles seinen geliebten Gefährten Patroklos, als dieser ihm "heiße Tränen vergießend" davon berichtet, wie schwer die Griechen in der Schlacht geschlagen worden seien. Bekanntlich geht Patroklos dann mit Achills Rüstung in die Schlacht und kommt darin um – Spott als Anstifter zu zweifelhaftem Heldentum.
Freilich, als Achilles dann vom Tod des geliebten Gefährten hört, äußert sich sein Schmerz in Wehklagen: "Fürchterlich weint er empor". Die göttliche Mutter des Helden hört es, übernimmt – Weinen ist ansteckend! – "laut aufschluchzte sie nun" und eilt herbei. Wenn allerdings die Mutter den Helden fragt "Liebes Kind, was weinst du?", so ist das, ohne jede Spur von Spott, reine Fürsorge. In der Ilias folgen tränenreiche Dialoge und der Entschluss Achills, nun doch von seinen heldischen Qualitäten Gebrauch zu machen und in den Kampf zu ziehen. Dabei droht er nicht nur den Frauen der Feinde ihrerseits Tränen und schreckliches Wehklagen um ihre gefallenen Männer an, sondern auch seiner eigenen Mutter: Sie wird seinen Tod erleben und ihre ganze göttliche Unsterblichkeit lang, also für immer, ertragen müssen.
Die in diesem Epos praktizierte Arbeitsteilung von Männern und Frauen wiederholt sich durch die Kulturgeschichten der Kontinente in unendlichen Variationen bis zur beginnenden Moderne und womöglich auch noch über deren Ende hinaus: Die Tränen der Männer werden schnell wieder in heroische Taten verwandelt.
Den Männern bleibt das Weinen nur in ganz außergewöhnlich tragischen und konflikthaften Übergangssituationen erlaubt. Auf lange Sicht wird es von den Frauen besorgt. Klageweiber bei Trauerfeiern sind schon in der ägyptischen Kunst zu sehen, mit Tränen im Gesicht, offenen Haaren und hochgereckten Armen. Ähnliche Darstellungen gibt es von Begräbnisszenen in der griechischen, etruskischen und römischen Kunst. Und noch heute hört man in Europa Berichte von tief eingewurzelten, dörflichen Traditionen – etwa in Rumänien –, die bezeugen, wie ernst die Pflicht der Frauen genommen wird, Helden- und auch ganz einfache Tode zu beklagen. Das scheint zum Befund zu passen, demzufolge Frauen auch in modernen Gesellschaften häufiger weinen als Männer.
Nämlich 30 bis 64 Mal im Jahr, und damit bis zu viermal öfter als Männer, die 6 bis 17 Mal pro Jahr weinen.
Ebenfalls in so ziemlich allen Kulturen geht Weinen in Gesang und Gesang in Weinen über, gibt es einen Toten zu beklagen. Und Tränen, emotionale Tränen, fließen nicht nur am Beginn jedes menschlichen Lebens – sie fließen auch am Beginn der Kunst. Christian Kaden berichtet zum Beispiel von den Gesängen der Kaluli in Papua-Neuguinea, in denen das unkontrollierbare Weinen über eine Vogelimagination und klangliche Imitationen formalisiert und gestaltet wird. In seinem Essay "Weinen als Singen" schreibt er:
"Eine [Transformation] ereignet sich in der Totenklage, yelab, welche ausschließlich Frauen anstimmen dürfen. Bei ihr gelangt die jeweilige Sängerin von unstrukturierter Affektendladung zu einer disziplinierten Strophengestaltung. Damit nähert sie sich, in ihrer geistigen Verfassung, dem Vogelhaften. Aus Weinen wird Singen."
Das Weinen wird aber nicht nur in Gesang überführt und durch ihn kultiviert. Spätestens seit Goethe gilt der Verdacht: Ein Gesang, der nicht seinen Ursprung im Weinen hat, taugt auch nicht viel.
"Wer nie sein Brot mit Tränen aß,
wer nie die kummervollen Nächte
auf seinem Bette weinend saß,
der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte!"
"Deine Perltränen aus Glycerin" – vorgetäuschtes Weinen
Hier ist das Weinen noch Naturkraft, die "im Innern sehnt und dröhnt", wie es der andere Goethe-Vierzeiler vorhin beschrieb. Doch das ist nur die eine Seite der Medaille – die andere trägt ein Bild vom gezielten Weinen. Tatsächlich hat dieses schon in den diversen Ritualen von Macht und Recht in der Zeit der Römer seinen Platz. In ihrer erwähnten Studie zeigt Judith Hagen, mit welcher Subtilität diverse Historiographien mitteilen, was sie von den bei diesem oder jenem Anlass vergossenen Tränen der Mächtigen halten. Dabei sind die beiden modernen Pole echter, einem inneren Gefühl entspringender Tränen einerseits und inszenierter und gefälschter Tränen andererseits bereits voll präsent. In den Werken Ciceros und Quintilians, die angehende Redner anleiten wollen, werden sie zwar harmonisiert, aber die Mühe bleibt erkennbar. Einerseits wird das inszenierte Weinen als fester Bestandteil der Redekunst behandelt. Andererseits raten die Autoren davon ab, es übertrieben und "untalentiert" zu verwenden. Tatsächlich könne ein weinender Redner in dem Teil eines Gerichtsplädoyers, der Mitleid mit seinem Mandanten erregen soll, nur dann Wirkung erzielen, wenn es ihm gelänge, die vorgespiegelten Gefühle für den Augenblick auch selbst zu empfinden.
"Wie die vom Redner als echt empfundenen Affekte seine Zuhörer mitreißen können, illustriert Cicero. […] Seiner Ansicht nach [ist es] nicht möglich, dass beim Zuhörer Weinen und Mitleid ausgelöst werden, wenn sie nicht fest im Vortragenden verankert sind. Um den Richter zum Mitleid zu bewegen, muss ein Verteidiger ihm seinen Schmerz durch äußerliche Zeichen kundtun. (…) [Dabei] sind keine Verstellungskünste und Täuschungsmanöver notwendig – die Natur einer Rede selbst, mit der die Zuhörer bewegt werden sollen, versetzt [nämlich] den Orator sogar am meisten von allen Beteiligten in die von ihm intendierte Stimmung."
Wo Cicero und Quintilian warnen, dass, wer mit Täuschungen arbeite, sich nur der Lächerlichkeit preisgeben würde, da bezeugen sie zugleich: Bereits in der Antike sollte das Weinen möglichst echt sein, selbst wenn es eine rituelle Funktion erfüllte. Wann ein Weinen als billige Effekthascherei, wann als legitime Emphase, wann als Schwäche, wann als erlaubte und sogar erwünschte eigene Betroffenheit aufgefasst wird – das ist selbstverständlich vom kulturellen und historischen Kontext abhängig. War in Rom ein vor Mitleid weinender Richter noch eine alltägliche Erscheinung, so würden wir heute einen Richter, der sich zu Tränen aufreizen lässt, ebenso wenig ernstnehmen wie eine Anwältin, die es auf die Tränen des Gerichts abgesehen hätte und zu diesem Zweck ihr Plädoyer am Ende noch mit einem eigenen Gefühlsausbruch krönte. Der kulturelle Kontext macht also einen Unterschied hinsichtlich der Erwünschtheit und Erlaubtheit von Tränen.
"Die Scheinwerfersonne stieg auf und beschien
deine Perltränen aus Glycerin"
Diesen Spott des Liedermachers Walter Mossmann über die künstlichen Tränen der Schlagerindustrie, hätte man in Rom mangels Scheinwerfer und Glycerin so nicht formuliert – aber der Substanz nach waren satirische Äußerungen über falsche Tränen nicht weniger bekannt als heute. Bis auf den heutigen Tag gibt es – nicht nur für professionelle Schauspieler – Anleitungen zur möglichst authentisch wirkenden Vortäuschung von Tränen. Solche sprichwörtlich als "Krokodilstränen" bezeichneten Heucheltropfen sind Stoff für alle Arten von Komödien und Tragödien. Aber zeigt nicht die Bereitschaft, Tränen zu fälschen, vor allem die Bedeutung, die ihnen beigemessen wird? Wie sehr Menschen hoffen, dass sich im Weinen das Innere und das Wahre eines Menschen offenbare?
Schlimmer als die Möglichkeit, mit falschen Tränen einen sozialen, ökonomischen oder psychologischen Gewinn zu erschleichen, schlimmer als die Aussicht, mithilfe falscher Tränen betrogen zu werden, erscheint uns modernen, westlichen Menschen allerdings ein ganz bestimmter Zustand: der, in dem wir wirklich nicht mehr weinen und also auch nicht mehr gerührt mitweinen können.
Massentrauer und die Unfähigkeit zu trauern
In ihrem Film "Für Sama" sagt die syrische Journalistin Waab al-Kateab, an ihre kleine Tochter gerichtet: "Du weinst nie wie ein normales Kind" und sie fügt hinzu: "Das bricht mir das Herz." Zugleich, während sie diese gnadenlos realistische Dokumentation über eine junge Familie im Bombenhagel einer syrischen Stadt drehte, zogen Massen von Iranerinnen und Iranern durch die großen Städte ihres Landes und weinten öffentlich und laut um den geliebten General der Al‑Quds‑Brigaden, Qasem Soleimani, der bei einem gezielten amerikanischen Angriff getötet worden war. Dem westlichen Medienpublikum galt es als ziemlich sicher, dass die Trauerzüge im Iran vom Regime inszeniert worden waren. Aber an den Übergängen flirrt es selbst in Diktaturen. Wer wollte wirklich von außen entscheiden, ob die Tränen, die 2011 um den großen nordkoreanischen Führer Kim Yong-il vergossen wurden, nicht doch echte, emotionale Tränen waren? Tränen, die eben zwischen Menschen entstehen können, wenn sie gemeinsam einen Verlust beklagen? Und ist nicht der Verlust einer inkarnierten Allmachtsfantasie wie der des Generals Soleimani ein schmerzhafter Verlust besonders für ohnmächtige Menschen, die gemeinsam ihre Machtfantasien auf eine Führerfigur projizieren, ein Grund zu tief empfundener kollektiver Weinerlichkeit?
Tatsächlich hatten die beiden Psychoanalytiker Margarete und Alexander Mitscherlich genau diese Art von Trauer, wie wir sie in Nordkorea 2011 oder Teheran 2020 gesehen haben, zunächst im Sinn, als sie den Deutschen nach Ende des Zweiten Weltkrieges eine "Unfähigkeit zu trauern" bescheinigten. Die Mitscherlichs glaubten, dass Menschen, die durch diese Stufe der Trauer um den Führerverlust nicht hindurch gegangen wären, auch alle weiteren Trauerprozesse nicht ernsthaft würden durchlaufen und durcharbeiten können. Damit steht das übereifrige "Aufarbeiten der Vergangenheit", das die Deutschen ja spätestens in den 1970er-Jahren in Angriff genommen und mittlerweile weit vorangetrieben haben, eher im Verdacht, zu ritualistisch und also nicht herzempfunden genug zu sein. Auf die Phase der Trauer um ein narzisstisches Ich-Ideal und dessen Abwertung im Zuge der Kriegsniederlage hätte eine etwas weniger ichbezogene Trauer um die verlorenen Anderen folgen müssen.
Die Deutschen hätten also merken müssen, wen und was sie mit den vertriebenen und ermordeten Juden verloren haben. Sie hätten begreifen müssen, dass sie mit dem jüdischen Volk ein wirkliches "Liebesobjekt" im psychoanalytischen Sinne des Wortes zerstört haben.
Denn tatsächlich war die imaginäre Beziehung zwischen den "abendländisch‑christlichen" Deutschen und ihren jüdischen Mitdeutschen vor den Exzessen der NS‑Zeit vergleichbar mit dem kulturell etablierten Verhältnis zwischen heroischen Männern und klagenden Frauen – und wurde auch so von Antisemiten benutzt, wie sich nicht nur am Topos des angeblich "effeminierten" Juden zeigte. Die einen posierten als Helden, siegten immer und weinten nie – die Deutschen. Die anderen erschienen als Anti-Helden, siegten nie und weinten entsprechend sehr oft – die Juden. Richtig daran ist nur, dass die schönsten Tränengesänge durch die Hebräische Bibel in die deutsche Kultur gekommen sind. Friedrich Hölderlins Gedicht "Tränen" beginnt etwa so:
"Himmlische Liebe! Zärtliche! Wenn ich dein vergäße …"
Wenn das kein Zitat aus dem bekanntesten Tränenpsalm der Hebräischen Bibel ist, dem 137.! Dessen Text erzielte 1978 im Pop-Song "By the Rivers of Babylon" über Wochen und Monate hinweg bundesdeutsche Verkaufsrekorde.
"An den Flüssen Babylons saßen wir und weinten, wenn wir an Zion gedachten."
Zwar geht in diesem Psalm das "Weinen der Überwundenen" erst einmal in Zorn über:
"Wenn ich dein vergesse, Jerusalem, so soll meine Rechte verdorren."
Eine Selbstverfluchung für den Fall, dass der Sänger seine Heimat vergisst; darauf folgen einige durchaus harte Racheschwüre gegen die Feinde. Aber nicht grundlos geht der 137. Psalm in die jüdische, christliche und die nichtmehrchristliche Tradition als Feier der reinigenden und verändernden Kraft ein, die Schmerz und Tränen von jeher zugeschrieben wird. Ebenso der berühmte Satz aus dem 126. Psalm:
"Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten."
Er verkörpert den Ausdruck der Hoffnung auf eine Rückkehr der in Babylon gefangenen Israeliten in ihre Heimat. Aber er ist auch in Hunderten von Jahren in unser Denken eingegangen – als unumstößliche Weisheit von der heilsamen, reinigenden und den Übergang zum Besseren markierenden Macht der Tränen.
Felsen selbst zum Weinen bringen
Doch stimmt die allgemeine Intuition von der "kathartischen" Wirkung des Weinens? Verkörpert es nicht eher, wie Darwin meinte, zu allererst einen Appell an die anderen? Bereits das Weinen des Säuglings – oft ein lautes, energisch forderndes Weinen – macht den verantwortlichen Erwachsenen klar, dass hier ein hilfloses Wesen Sehnsucht hat: Sehnsucht nach Nähe, nach Nahrung, nach Wärme oder Kühlung, nach Befreiung von Schmerz, nach Entspannung in einer Gemeinschaft mit anderen Menschen oder nach Entlastung von zu viel Nähe. Mit seinem Lärm setzt das Kleinkind seine Umgebung kämpferisch unter Druck. Es stresst. Mit seinen Tränen rührt es die Erwachsenen zugleich – denn es erinnert sie daran, wie es sich anfühlte, als man die eigenen Gefühle noch nicht zur Erstarrung ins Innere verbannt hatte. Womöglich weckt es auch in ihnen eine alte Sehnsucht. Denn wer um den Preis einer emotionalen und kommunikativen Erstarrung vor allem daran gewöhnt ist zu funktionieren, dem fehlt etwas. Das fällt besonders an Kindern auf – etwa an der herzzerreißend überlebenstauglichen Starre der kleinen Sama im syrischen Bürgerkrieg. Für sie wünscht die Mutter, ihr Kind möge einmal normal weinen.
Einmal normal weinen können.
Das ist gar nicht so einfach. Die lösende Kraft des Weinens kann lange auf sich warten lassen, wie ein Bericht vom Ende des Zweiten Weltkriegs in Ostasien zeigt:
"In jenem Lager befand sich auch ein japanischer Insasse, der die Nachricht von der Kapitulation Japans auch nach mehr als einem Jahr nicht annehmen, nicht glauben mochte. […] Zuletzt ließ sich der Mann überzeugen; die Tränen stürzten ihm aus den Augen (was in Japan durchaus verpönt ist und vor allem war)."
Hier wie im Psalm, wie in den Bildern der Azteken, die ihren Herrscher bei der Kapitulation vor den Spaniern mit riesigen Tränen zeigen, gehört das Motiv der Ergebung zum Weinen. Es bleibt jedoch zweideutig. Wenn von der Übergabe der Herrschaft an eine erobernde fremde Macht berichtet wird, signalisieren die Tränen derer, die ihre Niederlage eingestehen, einerseits den Verlust und erbitten Schonung. Andererseits zeigt der zornige Nebensinn der Tränen schon an, dass die Besiegten möglicherweise bei nächster Gelegenheit versuchen werden, sich selbst wieder zu ermächtigen.
Ist im Weinen ein meist ehrlicher Ausdruck von Pein, Sehnsucht, Kummer und Versagung, oft auch regelrechtem Scheitern zu erkennen, so bleibt immer auch der Appell an die anderen, dem so sich Äußernden auf die eine oder andere Weise zu Hilfe zu kommen. Wegen der Stärke dieses Appells ist die Versuchung Weinen vorzutäuschen, von jeher groß gewesen. Allerdings eher bei schwachen Menschen oder solchen, denen es nichts ausmacht, auch mal als schwach zu gelten. Nicht nur vom allmählich dem Säuglingsalter entwachsenden Menschen, auch vom Geschlagenen in einer Schlacht gilt: Je selbständiger ein Mensch wird, desto weniger möchte er, dass andere ihn in Tränen sehen. Und desto mehr verbannt er auch in größeren Nöten die Tränenneigung ins "Innere", um sich nach außen als kraftvoller, sozusagen satisfaktionsfähiger, starker Mensch zu zeigen, mit dessen Hilfe andere rechnen können, mit dessen Gegenwehr sie aber im Angriffsfalle rechnen müssen.
Nur in bestimmten Konstellationen wird uns unser eigenes Heldentum zu eng. Dann – etwa in der Liebe – sehnen wir uns danach, jenseits der Sprache von etwas überwältigt zu werden, das stärker ist als unsere sonst über alles verfügende Vernunft. Selbst Schmerz, der sich in Tränen über eine unglückliche, unerwiderte Liebe zeigt, ist uns dann lieber als die Starre des einsamen Funktionierens. Ein Kunstwerk, ein Lied, eine Naturansicht erscheint uns "zum Weinen schön". Und es würde uns nicht wundern, wenn vor dieser Schönheit selbst die Felsen zu weinen begönnen.
"Die Tränen sind das sichtbare Zeichen der Entäußerung eines inneren Zustands, Trauer, Wut, Schmerz, aber auch Freude und Rührung."
…schreibt Geraldine Spiekermann in ihrem Essay "Die Tränen der Niobe".
"Ihr Erscheinen markiert eine emotional zugespitzte und zugleich indifferente Situation für das Subjekt, das sich im Akt des Weinens seiner eigenen Fragilität und Verletzlichkeit, vor allem aber seiner Körperlichkeit bewusst wird. Im Schmerz wie in den Tränen erfolgt die Aufgabe der Selbstbeherrschung und des vernunftgesteuerten Denkens, die Hingabe an den Körper. Das Weinen ist ein Indiz für die Unverfügbarkeit über die leibseelische Existenz."
Ob Gott, oder wie bei Hölderlin die Liebe, oder wie in den Kriegen der Menschen und Völker die nächstbeste Übermacht – das, woran wir uns beim Weinen erinnern, ist stets die Erkenntnis, dass wir eben nicht heroisch oder infantil-allmächtig alles in der Hand haben. Denn letztlich ist noch das Weinen selbst uns unverfügbar