Besuchsprogramm für vertriebene Juden

Emotionale Rückkehr nach Berlin

08:48 Minuten
Die Neue Synagoge in der Oranienburger Straße im sommerlichen Licht.
Vor dem Nazi-Terror hatte Berlin die größte jüdische Gemeinde in Deutschland. Heute ist die Neue Synagoge wieder allgemeiner Anlaufpunkt. © ZB/ dpa-Zentralbild/ Jens Kalaene
Von Igal Avidan · 06.09.2019
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Im Juni 1969 beschloss der Berliner Senat, vertriebene Jüdinnen und Juden nach Berlin einzuladen. Im Lauf der Jahrzehnte folgten rund 17.500 Menschen der Einladung an die Spree. Kürzlich wurde der 50. Jahrestag des Programms gefeiert.
Vor der Waldorfschule in Berlin-Mitte steht ein rüstiger bärtiger Mann, der ein blaues Poloshirt, kurze Hose, Wanderschuhe und eine Käppi trägt. Der 81-jährige US-Amerikaner Henry Haas ist kein gewöhnlicher Tourist.
"Wir stehen, wo meine Großeltern und meine Eltern gewohnt haben. Ich bin hier geboren in Berlin, am 8. April 1938."

Aus Berlin in die Welt vertrieben

Erst 2009 nahm Henry Haas gemeinsam mit seiner Ehefrau Kate am Besucherprogramm für Emigranten teil. Diese Emigranten waren in Wirklichkeit Vertriebene. Das verkörpert Henry Haas schon durch seinen Vornamen – möglich war dieser Name, weil seine Eltern tschechoslowakische Staatsbürger waren.
Henry Haas Arm in Arm mit seiner Ehefrau Kate in Berlin.
Henry Haas gemeinsam mit seiner Ehefrau Kate waren Teilnehmer am „Besuchsprogramm für vertriebene Juden“ des Berliner Senats.© Deutschlandradio/ Igal Avidan
"Ich bin hier geboren, aber mein Name ist Henry, nicht Heinrich! Im Juli 1938 haben meine Eltern gesehen, dass sie hier weg müssen. Dann waren wir für 15 Monate auf Reisen durch Europa und sind dann auf ein Schiff gegangen: von Marseille in Frankreich nach Shanghai."
Die Initiative zum Berliner Emigrantenprogramm kam aus West-Berlin wie auch von jüdischen Vertriebenen, sagt die Historikerin Martina Voigt, Kuratorin der Ausstellung "Charterflug in die Vergangenheit".

Berlin hatte die größte jüdische Gemeinde

"Im Hinblick auf früher angelaufene Programme in anderen deutschen Städten, wie München und Hannover, kam man in Berlin zu der Überzeugung, man muss es auch machen, weil Berlin die größte jüdische Gemeinde gehabt hat - vor der Nazizeit."
Die Initiatoren des Emigrantenprogramms waren West-Berliner, die von den Nationalsozialisten verfolgt wurden. Der ehemalige Sprecher des Berliner Senats, Hanns-Peter Herz, musste im Zweiten Weltkrieg wegen seines jüdischen Vaters Zwangsarbeit leisten. Herz schlug dem damaligen Regierenden Bürgermeister Heinrich Albertz vor, ein Besucherprogramm für vertriebene Berliner Juden ins Leben zu rufen.
"Und da haben wir uns unterhalten über die Frankfurter Einrichtung der Einladung jüdischer Mitbürger. Und da hat er gesagt: 'Das kann doch Berlin auch machen!' Da habe ich gesagt: 'Ja.'"

Auftakt eines Erfolgsprogramms

Bürgermeister Heinrich Albertz, der in der Nazi-Zeit mehrmals kurzzeitig verhaftet wurde, war Mitglied der Bekennenden Kirche. Um die ehemaligen Berliner darauf aufmerksam zu machen, setzte der Senat eine kleine Anzeige in eine deutsch-jüdische Emigrantenzeitung in New York.
Hanns-Peter Herz: "Und da hat eine große Rolle die Zeitung 'Aufbau' gespielt. Da haben wir veröffentlicht, dass man sich bewerben kann, um die Einladung. Die meisten Leute haben geschrieben: 'Wir freuen uns auf Berlin.'"
Die erste Besuchergruppe kam zufällig aus Israel. Neun Monate zuvor hatte sich eine Gruppe vertriebener Berliner an den Senat mit der entsprechenden Bitte gewandt, erzählt Kuratorin Martina Voigt:
"'Bar Kochba/Hakoach' war ein jüdischer Sportverein in Berlin gewesen, der bis 1938 existiert hatte und verboten wurde. Ein großer Teil der Mitglieder konnte noch ins damalige Palästina emigrieren. Dort gründeten ehemalige Mitglieder in Tel Aviv in den 50er Jahren einen Nachfolgeverein. Zum 70. Jubiläum 1968, das sie in Tel Aviv begangen haben, kam ihnen die Idee, sie könnten anlässlich ihres eigenen Jubiläums eine Fahrt nach Berlin unternehmen."

Schnell bildeten sich Wartelisten

Diese Delegation kam im August 1969 als erste Besuchergruppe für eine Woche nach West-Berlin.
"Das war für mich ein sehr bewegender Moment. Die erste Gruppe habe ich begrüßen können und habe ihnen geraten, sich umzusehen und all die Stätten aufzusuchen, die sie kennen, an die sie Erinnerungen haben. Und da sind wir auch teilweise mitgegangen mit den Leuten. Die sollten nicht bloß hier die Stätten aufsuchen, in denen sie mal gelebt haben, sondern sie sollten auch mit den Leuten Kontakt aufnehmen und feststellen können, dass die Deutschen sich geändert hatten."
Die Resonanz war so groß, dass sich lange Wartelisten bildeten. Nur wenige lehnten die Einladung ab, weil sie sich nicht an die schlimmen Zeiten erinnert werden wollten.

Stadtrundfahrten, Empfänge, Theaterbesuche

Dreimal im Jahr kamen Besuchergruppen von jeweils bis zu 300 Menschen. Das Programm bestand aus Stadtrundfahrten, Empfängen durch den Bürgermeister und das Abgeordnetenhaus, Theaterbesuche, einer Dampferfahrt und einem Besuch des Jüdischen Friedhofs in Weißensee – wenn gewünscht.
Bald kümmerten sich um die Besucher sechs, sieben Beamte und zehn Freiwillige. Die wohl aktivste von ihnen war die evangelische Theologin Sigrid Lehrecke. Die Tochter eines Pfarrers der Bekennenden Kirche und Nazi-Opfers wollte Begegnungen zwischen jüdischen Besuchern und West-Berlinern organisieren.
"Ich habe gedacht: Meine Güte, wenn sie hier nicht ein bisschen was erleben von Berlinern und auch von Menschen, die sich eigentlich verantwortlich fühlen, dann stimmt da was nicht. Sie müssen da eigentlich einen Kontakt kriegen, sonst ist es ja doch bloß eine mehr oder weniger gute Geste vom Senat - natürlich steht das Volk wahrscheinlich dahinter, aber es wusste ja gar nichts davon."

Spontanes Engagement einer Lehrerin

Spontan fuhr Sigrid Lehrecke ins Hotel, wo die Besucher eintrafen, und lud einige von ihnen nach Hause ein. Daraus wurde ein fester Bestandteil des offiziellen Programms. Für ihre ehrenamtliche Arbeit erhielt sie den Verdienstorden des Landes Berlin.
"Ich habe nicht an Berlin gedacht, ich habe an mich gedacht. Na, ich denke doch nicht an Berlin! Ich habe an mich gedacht, ich habe gedacht: Meine Güte, die armen Leute, was haben sie alles erlebt? Jetzt möchte ich mal wissen, wie sind sie da durchgekommen. Ich war neugierig - das können Sie sagen!"
Der Besuch in Berlin veranlasste manche dazu, auf eigene Initiative in ihre Heimatstadt zu reisen. Henry Haas erfuhr beim ersten Berliner Besuch 2009, dass anstelle des Wohnhaus der Familie – sein Großvater besaß dort eine koschere Fleischerei – heute eine Waldorfschule steht.

Gedenksteine für die ermordeten Angehörigen

Er lernte auch vom Stolpersteinprojekt und wünschte sich Gedenksteine für seine deportierten und ermordeten Angehörigen. An der feierlichen Verlegung der Stolpersteine 2015 nahm das Ehepaar Haas teil. Dabei erfuhr es, dass die Waldorfschule eine Willkommensklasse für mehrheitlich muslimische Schüler betreibt. Später sammelten die Haas' in ihrer Synagogengemeinde in den USA Spenden für diese Arbeit mit den Flüchtlingskindern.
"Ich war ein Kind und ich hatte nichts zu tun gehabt mit dem, was passiert ist. Und diese arabischen Kinder haben auch nichts damit zu tun. Die sollen Hilfe kriegen und für mich ist das wunderbar! Es ist ein anderes Deutschland und ich hoffe, dass ein bisschen mehr davon in Amerika passieren wird."
Aus Anlass des 50-jährigen Jubiläums des Emigrantenprogramms nehmen Henry und Kate Haas an der Eröffnung der entsprechenden Ausstellung teil.
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