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Mark Zak: "Erinnert euch an mich. Über Nestor Machno"
Ein ukrainischer Guerillero

„Jede Macht hat Hörner“, sagte er, aber auch: „Erinnert euch an mich!" Mit diesen Worten appellierte der ukrainische Anarchistenführer Nestor Machno an die Nachwelt. Mehr als 80 Jahre nach seinem Tod wird ihm dieser letzte Befehl nun erfüllt – mit einer Biographie in Zeitzeugnissen.

Von Katrin Hillgruber | 06.02.2019
    Der Schriftsteller Mark Zak und sein Roman „Erinnert euch an mich. Über Nestor Machno“
    Mark Zak erzählt die Biografie des ukrainischen Anarchisten Nestor Machno (Buchcover Edition Nautilus / Autorenportrait © Gerardo Milsztein)
    Mit 16 soll Nestor Machno, den Alkohol rasch jähzornig machte, im Wirtshaus mit einem Bierkrug auf den Tisch geschlagen haben. Dazu skandierte er rhythmisch, er sei Anarchist. Diese Anekdote stammt von Machnos Jugendfreund Woldemar Antoni, dessen Eltern aus der Habsburger Monarchie in die Ukraine ausgewandert waren. Antoni und Machno riefen 1906 in der südostukrainischen Kleinstadt Gulajpole den tatkräftigen anarcho-kommunistischen "Bund armer Bauern" ins Leben. Zwei Jahre später wurde Machno erstmals von der zaristischen Polizei verhaftet.
    Gulajpole zählt zu den Siedlungen, die nach 1783, als die Krim an Russland fiel, auf Geheiß von Katharina der Großen gegründet und mit Leibeigenen besiedelt wurden. Die Zarin prägte den expansiven Begriff "Neurussland", auf den sich Russland inzwischen wieder in seinem unerklärten Krieg gegen die Ukraine beruft. Auch der ukrainisch-russische Sprachenstreit, den der halbwüchsige Nestor Machno beim Verteilen illegaler Flugblätter erlebte, hat an Heftigkeit nichts eingebüßt.
    "Unbändige und fabelhafte Kräfte"
    Nestor Iwanowitsch Machno wurde am 27. Oktober 1888 als fünftes Kind eines freien Bauern geboren. Sein früh verstorbener Vater war zuvor Leibeigener gewesen. Auch Nestor musste als Stallknecht dienen, bis er mit 16 eine Lehre in einer Eisengießerei begann. Als er miterlebte, wie andere Stallburschen regelmäßig von den Söhnen des Gutsbesitzers misshandelt wurden, muss sich in ihm früh ein starkes Unrechtsbewusstsein ausgebildet haben. Das ist Machnos Aufzeichnungen zu entnehmen, aus denen Mark Zak in seinem Buch "Erinnert euch an mich. Über Nestor Machno" zitiert. Von allen zum Teil widersprüchlichen Zeitzeugenberichten, die Zak chronologisch anordnet, gehören die des deutsch-amerikanischen Anarcho-Syndikalisten Rudolf Rocker zu den anschaulichsten:
    "Es war, wenn ich mich recht entsinne, Anfang 1925, dass der bekannte Freischarenführer Nestor Machno nach Berlin kam und eine kurze Zeit bei uns verweilte. […] Als er mich das erste Mal in der Begleitung Volins besuchte, fühlte ich mich ein wenig enttäuscht, einen kleinen Mann vor mir zu sehen, dessen äußere Erscheinung mit allem, was ich von ihm gehört hatte, in gar keinem Verhältnis stand. Nur das kühn geschnittene Gesicht mit den düster blickenden Augen verriet, welche unbändigen und fabelhaften Kräfte in diesem Mann lebten. In der Tat gab es wohl wenig Menschen, die auf ein so wildbewegtes und abenteuerliches Leben zurückblicken konnten."
    Ist schon der 1873 in Mainz geborene Rudolf Rocker kaum mehr bekannt, gilt das noch stärker für dessen Gesinnungsgenossen Nestor Machno – jedenfalls außerhalb der Ukraine. Dafür sorgte vor allem die sowjetische Geschichtsschreibung, die Nestor Machno als Banditen diffamierte und ihn fälschlicherweise für Pogrome verantwortlich machte, denen bis zu 30.000 Juden zum Opfer fielen. In Wahrheit wurden diese Verbrechen von der ukrainischen Volksarmee unter Symon Petijura verübt. Sie übernahm 1918 mit der Gründung der Ukrainischen Volksrepublik die Macht.
    Nestor Machno, ein energischer Mann mit schulterlangen Haaren, dessen Blick aus eisgrauen Augen gefürchtet war, befehligte eine eigene, nach ihm benannte Armee: die Machnowschtschina. Ihr gehörten während des russischen Bürgerkriegs zwischen 1917 und 22 bis zu 100.000 Freiwillige an, darunter zahlreiche Frauen. Zunächst war Nestor Machno mit Leo Trotzki verbündet, auch Lenin empfing ihn im Kreml. Doch es war ein ständiges Katz-und-Maus-Spiel, wie sich Rudolf Rocker erinnerte:
    "So war denn auch die Stellung der bolschewistischen Presse Machno gegenüber sehr verschieden und wechselte beständig, je nach den Umständen. Solange man Machno brauchte, wurde er in den kommunistischen Blättern als der ,große Volksheld der Ukraine', der ,wahre Hüter der Arbeiter- und Bauernrevolution' gefeiert und bis in die Wolken erhoben. Kaum aber war die jeweilige Gefahr beseitigt, so wurde er in denselben Blättern als ‚gewöhnlicher Bandit', ,Organisator von Judenpogromen' und ‚Konterrevolutionär' angeprangert. Dieses Spiel wiederholte sich dreimal in drei Jahren."
    Vorsprung durch deutsche Technik
    Eine nicht unwesentliche Rolle für den Siegeszug der Machnowschtschina in ihrem Kampf gegen die Mittelmächte auf der einen und die Weiße Armee auf der anderen Seite sowie zeitweise die Rote Armee spielte deutsche Technik: Der gewiefte Taktiker Machno stattete die Taschanka, einen von zwei oder drei Pferden gezogenen Wagen, mit einem Maschinengewehr im Heck aus. Nur die Gefährte, die die deutschen Siedler bauten, waren gefedert, die russischen hingegen nicht. Die Federung aber war für das Maschinengewehr unerlässlich. Derart mobil und wendig gelang es Machnos Truppen, zu ihrer Hochzeit ein Gebiet von etwa 100.000 Quadratkilometern und sieben Millionen Einwohnern zu kontrollieren. Dabei trug ihn stets der Zuspruch der bäuerlichen Bevölkerung, die er zu großen Versammlungen einberief.
    Als Lenin 1921 die Neue Ökonomische Politik einführte, die den Bauern mehr Freiheiten gewährte, legten immer mehr Aufständische die Waffen nieder. Nach dem endgültigen Sieg der Roten Armee musste Nestor Machno mit seiner zweiten Frau Galina fliehen und gelangte über Danzig und Berlin nach Paris. Dort starb der in seinem Leben vielfach Verwundete und Inhaftierte im Juli 1934 völlig verarmt mit nur 45 Jahren an einer langjährigen Lungentuberkulose.
    Mark Zak will, wie er schreibt, mit seinem überfälligen Buch ausdrücklich kein Urteil über Nestor Machno fällen. Durch die Fülle an Quellen, die er recherchiert und zum Teil erstmals ins Deutsche übersetzt hat, zeichnet er ein vielschichtiges Bild des ukrainischen Guerillero, das sich der Leser jedoch selbst zusammensetzen muss.
    Das magere Nachwort von Bini Adamczak, das die Kommunismus-Theoretikerin in verwirrendem Gender-Sprech verfasst hat, tut der Sache allerdings keinen Dienst. Und leider geht Mark Zak mit keinem Wort auf Nestor Machnos schmale, aber gehaltvolle Schrift "Das ABC des revolutionären Anarchismus" ein. Darin stellte Machno hellsichtig fest, dass die Macht der Sozialisten und Staatskommunisten nicht minder gemein sei als die Macht der Bourgeoisie: Beide verletzten das unbegrenzte Recht des Menschen auf Freiheit.
    Mark Zak: "Erinnert euch an mich. Über Nestor Machno"
    Porträt des ukrainischen Anarchisten
    Mit einem Nachwort von Bini Adamczak
    Edition Nautilus, Hamburg. 182 Seiten, 18 Euro.