Donnerstag, 25. April 2024

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Whistleblowing
Gegen die Ökonomisierung der sozialen Arbeit

Assange, Snowden, Manning – Namen, die für spektakuläre Enthüllungen in der internationalen Politik stehen. Die soziale Arbeit steht weniger im Rampenlicht, doch auch hier haben es Menschen schwer, die Missstände öffentlich machen wollen – das zeigte zuletzt der Fall Inge Hannemann. Welche Möglichkeiten Whistleblower haben, darüber wurde nun auf dem Kongress der Gesellschaft für soziale Arbeit diskutiert.

Von Katrin Sanders | 02.05.2014
    Bei einem Streik bläst eine Karstadt-Beschäftigte vor einem Warenhaus in Berlin in eine Trillerpfeife.
    Ob beim Fußball oder - wie hier - beim Streik: Die Pfeife ist ein Symbol dafür, auf Missstände aufmerksam zu machen. (picture alliance / dpa / Rainer Jensen)
    "Und zwar ging es darum, dass wir eine Jugendliche aufnehmen sollten, als Bewohnerin unserer Wohngruppe und wir gemerkt haben, das passt vorne und hinten nicht, da sind unsere Kompetenzen einfach überschritten und das ist auch nicht dienlich für dieses junge Mädchen. Aber es war dann so, dass uns von Leitungsseite gesagt wird, wir müssen es versuchen, weil es diesen Markt gibt. 'Diese Leute werden gesucht und irgendwo müssen die genommen werden. Und wir möchten genau in diese Lücke rein.' Es wurde uns klar vermittelt: Das müsst ihr aushalten."
    Eine Klientin, die nicht in die Wohngruppe passt und ganz andere Hilfe bräuchte, die aber dem Träger ein lukratives Hilfebudget einbringt. Solche Praxisfälle sind wohl keine Ausnahme. Beate Köhn, beim Notdienst Kinderschutz in Berlin tätig, engagiert sich im Unabhängigen Forum kritische Sozialarbeit. Der Forumsblog einmischen.com zeigt zahlreiche problematische Vorgänge in der Kinder- und Jugendhilfe:
    "Von der Trennung von Geschwistern, obwohl Kinder ein Recht darauf haben, dass sie als Geschwisterverband zusammenbleiben. Bis hin zu einer Überlastung der Jugendämter: Dass das Gespräch mit den Eltern mit den Kindern, was intensiv geführt werden müssten, um Lösungen zu finden, überhaupt gar nicht mehr stattfindet. Sondern es gibt dann insbesondere bei Jugendlichen das Angebot: Entweder du gehst dahin in die Einrichtung oder, wenn du nicht mitwirkst, dann können wir dir auch nicht helfen. Und das ist nicht das, was vorgesehen ist, im Hilfeplanverfahren."
    In der Sozialarbeit gebe immer öfter das Finanzbudget die Richtung vor, bestätigt die emeritierte Professorin Mechtild Seithe. Für ihr neuestes Buch zur Lage der Sozialarbeit hat sie Berichte aus der Praxis gesammelt. Sie zeigen ein Berufsfeld, das unter ökonomischem Druck steht:
    "Es geht um die ganze Breite der Probleme, die den Hintergrund der heute veränderten – neoliberal veränderten – sozialen Arbeit haben. Wo im Grunde genommen die soziale Arbeit in einen Markt umgekippt wurde, den sozialen Markt. Und die Träger sind Unternehmer und müssen sich wie Unternehmer verhalten. Und die Menschen, um die es geht, und die soziale Arbeit sind Produkte und Waren. Es geht also ganz viel um Effizienz."
    Gerade Berufseinsteiger unter Druck
    Im Kinder- und Jugendhilfegesetz KJHG heißt es: Die Hilfe muss dem Bedarf entsprechen und dem Problem des Klienten. Tatsächlich aber kämpfen viele Träger gegen Unterfinanzierung und zu wenig Zeit für die Begleitung. Darunter leidet die Fachlichkeit: Eigentlich sollen die Klienten selbst die Richtung vorgeben. Und viel Hilfe soll der bekommen, der viel Hilfe braucht. Es laufe aber genau andersherum, sagt Mechthild Seithe:
    "Ganz kleines Beispiel: Die Jugendberufshelferin hat meinetwegen 15 Klienten, viele ohne Hauptschulabschluss usw. und soll einen Kurs belegen mit zehn Plätzen. Und jetzt zeigt sich sehr deutlich, was Ökonomisierung heißt. Von ihr wird verlangt, diese Plätze zu belegen, mit den zehn Besten, die die größte Wahrscheinlichkeit haben, Erfolg zu haben. Aber sozialarbeiterisches Denken wäre ja genau andersrum. Nämlich: Wer hat die geringsten Chancen und braucht die meiste Unterstützung."
    Wer sich damit nicht abfinden will, muss hohe Hürden und Konsequenzen in Kauf nehmen: "Die Situation gerade als Berufseinsteiger ist oft, dass man sich nicht den Konflikten offen stellen kann, weil man immer vor der Situation steht, in die Verantwortung zu gehen, für seine Meinung zu stehen. Ich hatte am Anfang in der stationären Jugendhilfe gearbeitet, war Springer in mehreren Wohngruppen - und sich da den einzelnen Jugendlichen zu widmen, da bin ich immer wieder in die Konfliktsituation gekommen."
    Fließbandabfertigung von schwer gestörten Jugendlichen, statt der hier notwendigen Zeit und Zuwendung - die junge Sozialarbeiterin aus Sachsen nahm das nicht schweigend hin: "Ich hatte dann auch noch mal gesagt, dass ich das nicht aushalten kann, die Arbeit so mit den Jugendlichen, dass ich nicht so mit denen arbeiten kann, wie ich es mir vorstelle und was ich mir vorstelle. Aber ich denke, sie wussten auch, dass hinter mir viele stehen, die nach mir kommen."
    Bei den kleinen Zumutungen beginnen
    Am Ende der große Frust oder die Kündigung - auch das ist kein Einzelfall, sagt das Forum kritische Sozialarbeit. Deshalb darf Whistleblowing keine Einzelaktion bleiben: Alarm schlagen und Öffentlichmachen sei die Aufgabe. Am besten, sie beginnt bei den vielen kleinen Zumutungen:
    "Man muss sich nicht gefährden, das heißt vor allen Dingen, dass man da nicht als Einzelkämpfer in die offenen Messer laufen muss. Ich denke nicht, dass man sich dadurch gleich schon gefährdet, vor allen Dingen nicht, wenn man das als Team macht. Und das zweite wäre: Man kann sich als Gruppe zusammentun und mal mit einem Leserbrief an die Zeitung gehen, zum Beispiel als Fachgruppe sagen: Wir beobachten in letzter Zeit, dass ständig Kinder mit Hilfen bedacht werden, die überhaupt nicht ausreichen. Was ist da los?"
    "Ja, es ist nie das große Ganze, die kleinen Dinge, Entscheidungen im Alltag, die es ausmachen, sich zu wehren oder einfach nicht mitzumachen. Also das große Ganze ändern wir nur mit kleinen Schritten."