Anna Lowenhaupt Tsing: "Der Pilz am Ende der Welt"

Neues Leben auf zerstörtem Boden

Cover von "Der Pilz am Ende der Welt" vor einem Bild von einem Waldbrand
Der Matsutake-Pilz gedeiht nur wild in Regionen, in denen natürliche Ursachen oder der Mensch den organischen Boden zerstört haben. © Matthes&Seitz/ imago/ZUMA Press / Collage: DLF Kultur
Von Tabea Grzeszyk · 04.04.2018
Die Wälder in Nordwestamerika sind gezeichnet von Verwüstung und Monokultur. Ausgerechnet hier stößt die Anthropologin Anna Lowenhaupt Tsing auf den Matsutake-Pilz. Anhand des globalen Handels mit der japanischen Delikatesse formuliert sie eine fundamentale Kapitalismuskritik.
"Eiternde Wunden auf dem Rücken eines alten, räudigen Hundes" – mit diesen wenig schmeichelhaften Worten beschrieben Kritiker um die Jahrtausendwende die heruntergekommenen Forste der Kaskadengebirge Nordamerikas. In Oregon, wo einst stolze Ponderosakiefern in den Himmel ragten, führte der industrielle Kahlschlag der 1930er-Jahre und die Wiederaufforstung ab den 1970er-Jahren zur heutigen Ausbreitung der Drehkiefer.
Diese anspruchslosen Nadelbäume, die auf zerstörtem Boden gedeihen können, haben sich mittlerweile zu eng stehenden, dickichtähnlichen Waldungen ausgewachsen. Eine leichte Beute für Krankheiten und Schädlinge, dazu ist das Gehölz leicht entzündlich – oftmals genügt ein einziger Funke, um es lichterloh in Brand zu setzen. Willkommen im Anthropozän, im Zeitalter der menschengeprägten Umwelt! Willkommen in den Ruinen des Kapitalismus!

Menschengemachter Kahlschlag als Lebensgrundlage

Ausgerechnet in dieser von Verwüstung gezeichneten Landschaft stößt die amerikanische Anthropologin Anna Lowenhaupt Tsing auf den Protagonisten ihres Buches: Den Matsutake-Pilz, der in Japan als Delikatesse gilt und nach dem Rückgang der japanischen Vorkommen seit den 1970er-Jahren zu Höchstpreisen aus der ganzen Welt importiert wird – auch aus dem US-amerikanischen Oregon. Bis heute konnte Matsutake nicht unter Laborbedingungen kultiviert werden, der Pilz gedeiht nur wild in Regionen, in denen durch vergangene Eiszeiten, Vulkanausbrüche oder eben menschengemachten Kahlschlag der organische Boden zerstört wurde.
Die im kalifornischen Santa Cruz lehrende Anthropologin hat Matsutake-Regionen in den USA, Japan, China und Finnland bereist und in ihrem fast 450-Seiten starkem Buch, das zwischen Essay, wissenschaftlicher Feldforschung und Kapitalismuskritik changiert, die prekären Landschaften mit einem prekären Wirtschaftskreislauf abseits der großen Warenströme verknüpft. Die Dramaturgie des Buchs folgt den wild wuchernden Trieben des Matsutake, mal fliegen Pilzsporen in der Stratosphäre durch die Luft, mal folgen wir dem unterirdischen Geflecht der Mykorrhiza-Netzwerke, die Pilze mit benachbarten Bäumen und ihrer organischen und anorganischen Umwelt verbinden.

Pilze setzen Nährstoffe für andere Lebewesen frei

Matsutake wächst niemals alleine, sondern in symbiotischen, artenüberschreitenden Verbindungen. Von seinen Wirtsbäumen bezieht der Pilz Nahrung, doch die aufgebrochenen Nährstoffe kommen allen Lebewesen zugute. Da Pilze selbst Gestein zerlegen können, haben sie im Laufe der Erdgeschichte Nährstoffe für andere Lebewesen zugänglich gemacht, gemeinsam mit Bakterien bereiten sie den Boden, auf dem Pflanzen gedeihen. Die Autorin nennt diese gemeinschaftliche Ressource "latente Allmende".
Anna Lowenhaupt Tsing gelingt es virtuos, am Beispiel des globalen Matsutake-Handels eine fundamentale Kapitalismuskritik zu formulieren. Zugleich zeigt der japanische Edelpilz die Möglichkeit einer nicht-skalierbaren, von unvorhersehbaren Begegnungen mit seiner Umwelt geprägten Wertschöpfungskette inmitten tiefgreifend zerstörter Landschaften auf. Ein absolut lesenswerter Streifzug durch prekäre Lebenswelten, die zeigen, wie neues Leben in postapokalyptischen Ruinen jenseits des Fortschrittsdenkens entsteht.

Anna Lowenhaupt Tsing: Der Pilz am Ende der Welt: Über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus
Übersetzt von Dirk Höfer
Matthes & Seitz, Berlin 2018
448 Seiten, 28 Euro

Mehr zum Thema