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Wichtige Bausteine und Lesarten der jüdischen Tragödie

Als Daniel Mendelsohn loszog, um sechs Menschen seiner weitverzweigten Familie nachzuspüren, sechs Menschen, die im Holocaust umkamen, da antworteten die weltweit verstreuten Zeitzeugen auf Mendelsohns Frage, wie sie denn so waren: "Tja, sie waren ganz normal".

Von Angela Gutzeit | 29.08.2010
    "Die Tragödie des Menschen, der auf Tragödien nicht vorbereitet ist - das ist die Tragödie des Jedermann", sagt Nathan Zuckerman in Philip Roths Roman "Amerikanisches Idyll". Als Daniel Mendelsohn loszog, um sechs Menschen seiner weitverzweigten Familie nachzuspüren, sechs Menschen, die im Holocaust umkamen und kaum noch erkennbare Lebensspuren hinterließen, da antworteten die weltweit verstreuten Zeitzeugen auf Mendelsohns hartnäckige Frage, wie sie denn so waren, sein Großonkel Shmiel und seine Familie: Tja," sie waren ganz normal". "Sie führten ein normales Leben!"

    Die Jägers waren im galizischen Bolechów seit rund 350 Jahren ansässig und überwiegend im Fleischhandel tätig. In den 30er-Jahren lebten dort 12.000 Polen, Ukrainer und Juden einträchtig Seite an Seite. Nachbarn eben, Geschäftspartner. Auch Freunde fand man bei den jeweils anderen. Wie sollte man sich vorbereiten auf die Tragödie, die 1941 mit dem Einmarsch deutscher Truppen in Ostpolen hereinbrach? Und wie sollte man wissen, wer von den Polen und Ukrainern noch Freund und wer plötzlich Feind war? Am Ende waren von den rund 4000 Bolechówer Juden noch 45 übrig, von Shmiel Jäger und seiner Frau Esther und ihren vier Töchtern Frydka, Ruchele, Bronia und Lorka keiner mehr.

    Der amerikanische Altphilologe Daniel Mendelsohn, Jahrgang 1960, hat ein Buch geschrieben über das Leben und die Tragödie des Untergangs von Menschen, die er nicht kannte und von denen er lange Zeit nichts wusste. Er mutet uns Lesern zu, über 633 Seiten an seiner besessenen Recherche teilzunehmen, an diesem wahnwitzigen Unternehmen, die Welt abzusuchen nach vereinzelt noch existierenden steinalten Bolechówern, die sich teilweise an kaum noch etwas erinnerten oder ihre Gründe hatten, nichts zu sagen.

    Wir sind Zeugen seiner Verzweiflung, wenn eine Spur im Sande verläuft, und an seiner Begeisterung, wenn zufällig mal ein Detail zum anderen passt. Mendelsohn, an der griechischen Tragödie geschult, gleicht selbst einem tragischen Helden, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, mit der Pinzette aus Millionen Aschepartikeln wieder das Haus nachzubilden, das es einmal war. So etwas kann nicht gelingen und gelingt auch nicht. Aber mit welcher Unbeirrbarkeit, Akribie und Ehrfurcht dieser Autor Details zusammenfügt und mit welcher Wucht und Intensität er Geschichte auf Geschichte türmt - das hat Größe und weist letztendlich weit über das Schicksal dieser einen jüdischen Familie im fernen Bolechów hinaus.

    Wenn man eine Geschichte erzählen will, muss man einen Anfang finden und das ist bekanntlich schwierig. "Es ist kompliziert", sagen Mendelsohns Interviewpartner nicht selten, wenn er sie zum Erzählen bringen möchte. Um seine eigene Methode des Recherchierens und Erzählens transparent zu machen, beginnt Mendelsohn mit einer prägenden biografischen Reminiszenz. Der Großvater Abraham Jäger, dessen Familie bereits Anfang des 20. Jahrhunderts das damalige Galizien, die heutige Ukraine verließ, um in die USA auszuwandern, war nach der Aussage seines Enkels ein begnadeter Erzähler:

    "Wenn mein Großvater eine Geschichte erzählte - beispielsweise die, die mit 'aber sie starb eine Woche vor ihrer Hochzeit' endete -, tat er nichts so Naheliegendes wie am Anfang anzufangen und am Ende aufzuhören; vielmehr erzählte er in weiten, kreisenden Schleifen, sodass jedes Geschehen, jede Figur, die er erwähnte, wie er so dasaß und sein Leierkastenmannbariton dahinschrammelte, seine eigene Minigeschichte hatte, eine Geschichte in der Geschichte, eine Erzählung in der Erzählung, sodass die Geschichte, die er erzählte, nicht (wie er es mir einmal erklärte) wie ein Dominospiel war, dass also eine Sache nach der anderen passierte, sondern wie ein Set chinesischer Schachteln oder eine russische Puppe, sodass jedes Ereignis wieder ein anderes enthielt und das wieder eines und so weiter ..."

    Vorgeführt wird hier ein Erzählduktus voll suggestiver Kraft, mäandernd wie die Arme eines Flussdeltas. Sich immer weiter verzweigend, trägt er Erzähler wie Zuhörer davon. Aber irgendwo in der Mitte, das spürte der Enkel, war eine Leerstelle. Über seinen in Bolechów ermordeten Bruder Shmiel und seine Familie wollte der sonst so beredte Abraham nicht sprechen. Nach dem Tod des Großvaters im Jahre 1980 fallen Mendelsohn Briefe von Shmiel aus den Kriegsjahren an die amerikanischen Verwandten und seinen Bruder Abraham in die Hände. Sie beschreiben die zunehmende Notlage, später dann werden sie immer dringender und bittender.

    Die Leerstelle in den Erzählungen des Großvaters scheint sich als Sündenfall zu entpuppen: Hat der Bruder den Bruder in höchster Not im Stich gelassen? Hat er ihm die Hilfe verweigert, als in Galizien das große Morden begann?

    Daniel Mendelsohn adaptiert die Erzählweise seines Großvaters, die ihn - wie er schreibt - anfangs der griechischen Mythologie viel näher gebracht hat als den hebräischen Bibeltexten. In Homers "Ilias" erkennt er in vorbildhafter Weise die Urform der Annäherung an eine menschliche Tragödie. Immer wieder anfangen, zurückgehen, liegen gelassene Fäden neu verknüpfen. Ein Vor und Zurück oder im auch im Kreise sich bewegen, um das Erzählmaterial nicht eindimensional zu verfolgen, sondern zu verdichten. Daraus ergibt sich auch die Erzählform der ellenlangen Sätze mit schier unendlich vielen Parenthesen und Nebensätzen. Hier wird also eine Erzähltradition zitiert, die in literaturgeschichtlich so bedeutenden Werken wie die "Erzählungen aus tausendundein Nächten" wie auch in moderner Zeit in James Joyces "Ulysses" ihre Fortsetzung fand. Mit diesen Stilprinzipien arbeitet Mendelsohn und behält sie über Hunderte vonseiten seiner eigenen Odyssee bei:

    "...wir beide, zwei Brüder, der Autor und der Fotograf, reisten nach Australien und Prag, nach Wien und Tel Aviv, nach Kfar Saba und Beerscheba, nach Vilnius und Riga, dann wieder nach Tel Aviv und wieder nach Kfar Saba und wieder nach Beerscheba, nach Haifa und Jerusalem und Stockholm, und waren schließlich zwei Tage in Kopenhagen bei dem Mann, der einmal noch weiter als wir gereist war und der ein Geheimnis für uns hatte; verbrachten ein Jahr zusammen, Sommer und Herbst und Winter und einen Frühling, der auch ein Herbst war, und die Zeit selbst schien aus den Fugen geraten, als die Vergangenheit aus den Trümmern und dem Schmutz und alten Papier und Puder und Whisky und dem Veilchensalz auferstand und wieder ans Licht kam wie die fast unentzifferbar schwache Schrift auf der Rückseite einer alten Fotografie, aufstieg, um mit der Gegenwart zu wetteifern und sie zu verwirren; verbrachten ein Jahr damit, Menschen aufzuspüren, die jetzt viel älter sind als die alten Leute, die mir damals in Miami in die Wange kniffen und Stifte geschenkt hatten, Menschen aufzuspüren, die Shmiel nur als den imposanten, eindrucksvollen und ein wenig abgehobenen Vater ihrer Klassenkameradinnen kannten, jener vier Töchter, alle verloren; flogen über den Atlantik und über den Pazifik, um mit ihnen zu sprechen und alle noch verfügbaren Stückchen, jeden noch so gewichtlosen Hauch von Information, die sie mir geben konnten, zu sammeln ..."

    "Wir beide, zwei Brüder", schreibt Mendelsohn, ziehen los, um das Schweigen des Großvaters über seinen Bruder zu entschlüsseln und den sechs Verlorenen eine Geschichte zu geben - und sei sie noch so lückenhaft. Die Bruderschaft wie der Bruderzwist sind Motive, die sich bekanntlich durch die gesamte Bibel ziehen. Und das ist die weitere Ebene, die in Mendelsohns Buch von zentraler Bedeutung ist und der Gesamtkomposition ihre Wirkmächtigkeit über den Recherche-Gegenstand hinaus verleiht: die hebräische Bibel.

    Mendelsohn greift also einerseits den Erzählstil der griechischen Epen auf und verwendet darüber hinaus ihre Motivik, in dem er beispielsweise das Erschrecken von Vergils Helden Aeneas über ein Wandgemälde, das den Trojanischen Krieg darstellt, mit der Bedeutung von Bildern für die Verwandten von Holocaust-Opfern kurzschließt - eine, wie so oft, implantierte Ausschweifung, in diesem Fall eine Reflexion über die Erzählkraft von Bildern und ihre unterschiedliche Rezeption.

    Andererseits, und das ist die weitere Ebene, wird der gesamte hier geschilderte Prozess der Suche und der Erkenntnis gegliedert und inhaltlich gerahmt von den Kapiteln des ersten der fünf Bücher Mose, auf Hebräisch Bereschit, Griechisch Genesis. Hier wird von der Erschaffung der Welt bis zum Wirken der Söhne Jakobs in Ägypten berichtet.
    Wenn also Mendelsohn beispielsweise vom Anfang seiner Suche nach den sechs Verlorenen erzählt, dann ist - kursiv dazwischen geschaltet - in einer Art Bibelexegese von der Schöpfung die Rede, von der Erschaffung der Welt als Scheidungsprozess von Hell-Dunkel, Erde-Wasser, Mann-Frau und vom Sündenfall, der nicht nur das Böse in die Welt brachte, sondern auch die Fähigkeit zur Erkenntnis.

    Ein Bibel-Motiv jedoch, die Geschichte von Kain und Abel, grundiert nahezu das gesamte Buch. Denn sie klingt nicht nur in der Frage an, warum der Großvater seinem Bruder nicht geholfen hat, sondern auch im Verhältnis des Autors zu seinem Reisebegleiter und Bruder Matt, mit dem er lange Zeit eher in Zwietracht lebte, denn in Harmonie. Schließlich wird dieses Bibelthema auch auf die Vielvölkergemeinschaft in Bolechów übertragen, auf Ukrainer, die eilfertig ihre jüdischen Mitbewohner niedermetzelten oder auch auf Juden, die als Mitglieder der jüdischen Polizei ihre eigenen Leute verrieten.

    Aber die Beschäftigung mit der Tora geht noch weiter: Mendelsohn setzt sich in diesen Einschüben mit zwei Bibel-Kommentatoren auseinander, mit dem französischen Rabbi Raschi aus dem 11. Jahrhundert und mit einem modernen Vertreter der Bibelexegese, mit seinem Zeitgenossen und Landsmann Rabbi Richard Eliot Friedman. Von dem mittelalterlichen Kommentator übernimmt Mendelsohn das Diktum: "Wenn man bereits bei den Details ungenau ist, stimmt auch das Gesamtbild später nicht!" Von Friedman die Focussierung einer Geschichte auf den Einzelfall:

    "Für Friedman erinnert der Beginn von Bereschit an eine Technik, die wir alle vom Film kennen: 'Wie manche Filme, die mit einem weitem Schwenk beginnen, der sich dann verengt', schreibt er, 'schwenkt das erste Kapitel der Genesis von einem Blick auf Himmel und Erde allmählich auf den ersten Mann und die erste Frau. Der Fokus der Geschichte verengt sich weiter: von Universum, zu Erde, zu Menschheit zu bestimmten Ländern und Völkern zu einer einzelnen Familie.' Und dennoch, so mahnt er den Leser, bleiben uns die breiteren, kosmischen Belange der welthistorischen Geschichte, die uns die Tora erzählt (...) im Hinterkopf.(...) Friedmans Beobachtung impliziert, und das ist sicher richtig, dass der Verstand häufig mehr Mühe hat, das Gesamtbild als die kleinen Dinge zu erfassen, dass es beispielsweise für den Leser naturgemäß reizvoller ist, die Bedeutung eines gewaltigen historischen Ereignisses anhand der Geschichte einer einzelnen Familie zu verinnerlichen."

    Der US-amerikanische Film "Holocaust - Die Geschichte der Familie Weiß" von 1978 ist ein Beleg dafür. Er hatte in der Bundesrepublik und in Österreich eine enorme Wirkung und gilt als Wegbereiter der Auseinandersetzung mit den Verbrechen an den Juden in Europa während der Nazizeit. Kritiker bemängelten jedoch die unrealistische Handlung, die jedes relevante Ereignis des Holocausts im Erlebnishorizont der Familie ansiedelt. Auch die Vermischung von Fakten mit fiktiven Versatzstücken, was letztendlich nur der Spannungssteigerung und Emotionalisierung der Handlung dient, wurde unter anderem von dem Schriftsteller Elie Wiesel heftig kritisiert. Letztendlich ging es bei dieser Diskussion um die Frage der Darstellbarkeit des Holocaust und damit um Formen der Erinnerung, die nicht nur die Politik betreffen, sondern auch die Ästhetik. Und diese Diskussion hat bis heute kein Ende gefunden.

    Daniel Mendelsohn kennt diese Diskurse und er weiß auch, dass seine Generation der 1960 Geborenen am Ende eines unumkehrbaren Prozesses steht: Die letzten Zeitzeugen sterben. Verloren geht damit ein wichtiger Faktor der Beglaubigung und der Vermittlung zwischen den Generationen. Bei Mendelsohn ist es noch dazu die eigene Familiengeschichte, die es zu sichern gilt. So ist seine Suche auch eine Auseinandersetzung mit der eigenen Identität als Jude und Nachfahre von Holocaust-Opfern. An diesem historischen Wendepunkt fühlt sich Mendelsohn offensichtlich bedroht von zunehmender Historisierung und undifferenzierter Monumentalisierung des Holocaust. Er schreibt:

    "Auschwitz ist inzwischen zu einem gigantischen Symbol der groben Verallgemeinerung, dem Kürzel dessen geworden, was mit Europas Juden geschah. (...) Ich hatte diese merkwürdige und beschwerliche Reise unternommen, um meine Verwandten vor Verallgemeinerungen, Symbolen,Abkürzungen zu bewahren, um ihnen ihre Besonderheit, ihre Eigentümlichkeit zurückzugeben. (...) Die schreckliche Ironie ist, wie mir klar wurde, als wir durch die berühmten Räume voller Menschenhaare, Prothesen, Brillen und Gepäck, dessen Ziel das Nichts war, schritten, dass das Ausmaß dessen, was einem da vorgeführt wird, so gewaltig ist, dass das Fabrikmäßige und Anonyme, die schiere Dimension des Verbrechens, unablässig und paradoxerweise auf Kosten noch der kleinsten Spur von individuellem Leben demonstriert werden."

    Und genau deshalb mutet Mendelsohn in seinem Buch "Die Verlorenen" dem Leser den Nachvollzug einer akribischen Spurensuche zu. Er betreibt Genealogie, vervollständigt Stück für Stück den Familienstammbaum. Er führt Interviews, deren Wortlaut er teilweise komplett übernimmt. Er greift kleinste Stichworte auf, um den im Buch abgedruckten Fotografien der sechs ermordeten Familienmitglieder Eigenschaften zuordnen zu können. Er verifiziert Hinweise auf ihre Wohnstätten in Bolechów, auf ihre Tätigkeiten, auf Verstecke vor den Mördern, auf den genauen Platz ihrer Ermordung.

    In der Verlagsankündigung der deutschen Ausgabe von "Die Verlorenen" ist zu lesen, dass Mendelsohn hier eine alternative Geschichtsschreibung betreibe. Diese Deutung ist nicht überzeugend. "Die Verlorenen" ist kein wissenschaftliches Buch, sondern eine persönliche Aufarbeitung, die der Forschung allerdings wichtige Bausteine und Lesarten der jüdischen Tragödie hinzufügt, ohne die sie wirkungslos wäre.

    So wäre aber noch die Frage zu klären, was Daniel Mendelsohn eigentlich mit seinen Recherchen erreicht hat? Sicher ist, gegen Ende des Buches kann der Autor eine Fülle von Erzählfäden miteinander verknüpfen. Besonders Frydka, eine der vier Töchter von Shmiel Jäger, gewinnt Konturen. Ihre Liebschaft mit einem polnischen nichtjüdischen Jungen, der sie unter Lebensgefahr zu verstecken sucht und dabei schließlich selbst exekutiert wird, gehört zu den geschlossensten und eindrücklichsten Geschichten innerhalb dieses gewaltigen Erzählwerks.

    Dabei eröffnen sich immer wieder Nebenschauplätze, die ein interessantes Licht werfen auf das Verhältnis von Polen, Ukrainern und Juden im damaligen Galizien, auf das Wirken der jüdischen Polizei in Bolechów - und eben auf die Tragödie, dass diese Menschen, die ihrem Beruf nachgingen, ihre Kinder versorgten, in den benachbarten Geschäften einkaufen gingen wie alle anderen auch, dass diese Jedermanns nicht vorbereitet, waren auf das, was sie schließlich heimsuchte.

    Daniel Mendelsohn vermittelt eine Ahnung davon, wer diese Menschen einmal waren und wie sie lebten. Entscheidend ist allerdings, dass er Lücken lässt, da, wo es nichts mehr zu erinnern gibt. Eine Fiktionalisierung der Familiengeschichte, wie sie der amerikanische Film "Holocaust" betrieb, lehnt Mendelsohn strikt ab, ja, er hält überhaupt die Überführung dieses Themas in Kunst für äußerst fragwürdig.

    Das Problem ist jedoch, dass der Autor sich leider dann doch selbst in Widersprüche verfängt, wenn er an wenigen, aber doch entscheidenden Stellen plötzlich seiner Vorstellungskraft freien Lauf lässt. In einem Akt der überschießenden Empathie imaginiert der Autor den Augenblick des Sterbens seiner fernen Verwandten, zum Beispiel auf den Brettern einer Grube, die zum Massengrab wird. So wie er einerseits mit seiner Sammelwut von Fakten, Details und genealogischen Verbindungen bis an die Grenzen der Erträglichkeit geht, so gerät er auch in diesem Momenten der Einfühlung in die letzten Augenblicke der Opfer an eine bedenkliche Schmerzgrenze.

    "Wie erzählt man eine Geschichte?" Dies ist die alles beherrschende Frage in diesem Buch. Und gerade weil Mendelsohn in dieser Familiengeschichte, die ihn so berührt, immer wieder neu ansetzt, immer wieder eigene Irrtümer reflektiert, dem Zweifel Raum lässt, sich selbst und anderen beim Erzählen zuhört und das Gehörte und Erzählte immer wieder kritisch kommentiert. Und gerade weil er immer wieder andere Zugänge ausprobiert, andere Perspektiven zulässt und noch dazu diesen großartigen Wurf wagt, das Schicksal der kleinen menschlichen Existenz geradezu gleichnishaft in die großen Menschheitserzählungen einzuordnen, deshalb sind auch die Widersprüchlichkeiten in diesem Buch ein zwar kritikwürdiger, aber doch nachvollziehbarer Bestandteil dieser Odyssee, dieser Irrfahrt zu den eigenen Wurzeln.

    Es ist übrigens eine grandiose Leistung des Übersetzers Eike Schönfeld, dass er diesem monumentalen Werk mit seinen vielen Facetten, Sprachebenen und sprachlichen Charakteristika der hier zitierten Personen eine so überzeugende Form gegeben hat.

    Sei noch hinzugefügt, dass im letzten Kapitel des "Ersten Buch Mose", der "Paraschat Wajera" unter anderem die Geschichte von "Sodom und Gomorrha" erzählt wird, Städte, die nach Gottes Plan wegen ihrer Sündhaftigkeit der Vernichtung anheimfallen sollen. Abraham kann Gott überreden, Lot und seine Familie zu retten. Die Bedingung ist, dass keiner von ihnen zurückblicken darf auf den Ort der Zerstörung. Als Lots Frau dem nicht widerstehen kann, erstarrt sie zur Salzsäule. Daniel Mendelsohn interpretiert diese Bibelstelle folgendermaßen:

    "..betrachtet man Sodom als schön - als was es zweifellos desto mehr erscheinen wird, weil es verlassen und auf immer verloren sein wird, genauso, sagen wir, Verwandte, die tot sind, immer irgendwie schöner und besser sind als die noch lebenden -, dann erscheint klar, dass es keine Strafe ist, wenn Lot und seiner Familie befohlen wird, nicht darauf zurückzublicken, sondern einem praktischen Grund dient: weil Trauer um das, was wir verloren haben, um die Vergangenheiten, die wir aufgeben müssen, oftmals alle Versuche vergiftet, sich ein neues Leben zu schaffen, (...) Für diejenigen, die ihrer Natur nach gezwungen sind, immerzu auf das Gewesene zurück statt nach vorn in die Zukunft zu schauen, liegt die große Gefahr in Tränen, in dem unaufhaltbaren Weinen, das, wie die Griechen wussten, wenn nicht auch der Autor der Genesis, nicht nur Schmerz ist, sondern auch narkotische Lust: eine trauervolle Kontemplation, die so makellos, so kristallin ist, das sie einen letztlich bewegungsunfähig machen kann."

    Damit widerspricht Daniel Mendelsohn am Ende seines beeindruckenden Buches "Die Verlorenen" einer Erinnerungspolitik, die immer nur aus der schrecklichen Vergangenheit ihre Nahrung zieht. Es könnte der Zeitpunkt kommen, so könnte man Mendelsohn interpretieren, wo der Bann seine Wirksamkeit verliert und der zunehmende Abstand zu dieser Vergangenheit heilsam wirkt.

    Daniel Mendelsohn: Die Verlorenen.
    Kiepenheuer & Witsch.
    633 Seiten. 24,95 Euro

    Mehr zum Autor:
    Homepage von Daniel Mendelsohn (engl.)