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Wider das Vergessen

Nach den Nürnberger Prozessen dauerte es einige Jahrzehnte, bis die Völkergemeinschaft beschloss, nie mehr Kriegshetzer und Völkermörder ungeschoren davon kommen zu lassen. Jahrtausende lang galt der Grundsatz: Schwamm drüber. Der Historiker Christian Meier hat sich in einem Essay damit beschäftigt.

Von Niels Beintker | 18.10.2010
    Nur wenige Worte, aber eine große Wirkung. "Alles sei in ewiger Vergessenheit begraben." Mit dieser Formel wurde das Ende eines der blutigsten europäischen Kriege besiegelt: des Dreißigjährigen Krieges. Im Westfälischen Frieden vereinbarten die europäischen Mächte juristisch, das große Leid der Vergangenheit zu vergessen, aus ihrer Sicht eine wichtige Voraussetzung für die künftige politische Ordnung auf dem Kontinent. Ein weiterer zentraler Begriff des Vertragstextes war der der Amnestie. Die Kriegsverbrechen sollten nicht geahndet werden. Damit stand der Friedensschluss von Münster und Osnabrück in einer langen Tradition des Umgangs mit schlimmer Vergangenheit, zeigt Christian Meier. Das Leid von Kriegen und Bürgerkriegen sollte um des Friedens willen vergessen werden, sagt der Althistoriker und erklärt den Sinn dieser aus der Antike stammenden Überzeugung.

    "Wenn der Unterlegene nicht vergisst, dann wird er Rache nehmen. Genau das soll vermieden werden."

    In seinem neuen Buch "Das Gebot zu vergessen" – hervorgegangen aus einem Vortrag über Erinnerungskulturen in Europa – spannt Christian Meier einen großen zeitlichen Bogen. Er führt weit zurück in die griechische Antike, wo die Auseinandersetzung mit schlimmer Vergangenheit – Krieg, Verfolgung, Ermordung – erstmals theoretisch reflektiert und dann auch praktisch behandelt wurde.

    494 vor Christus entfachte eine Tragödie über die Zerstörung der Stadt Milet durch die Perser eine so große Diskussion unter den Bürgern Athens, dass sie umgehend von der Bühne genommen wurde. Das Leid von Milet sollte auf gar keinen Fall öffentlich memoriert werden. Am Ende des Jahrhunderts, nach der Niederschlagung der sogenannten Tyrannis der Dreißig in Athen, wurde das Gebot zu vergessen dann erstmals rechtskräftig. Nach zeitgenössischen Berichten wurden damals zweieinhalbtausend Menschen ermordet, unter ihnen 1500 Bürger im rechtlich-politischen Sinn, das entsprach fünf Prozent der Athener Bürgerschaft. Mit dem Beschluss, diese Vergangenheit ruhen zu lassen und nicht mehr öffentlich an sie zu erinnern, sollten mögliche Rachefehden verhindert werden. Und damit neue Bürgerkriege. Dieses Rechtsverständnis hat die europäische Geschichte mehr als zwei Jahrtausende lang geprägt. Es findet sich in der römischen Antike, etwa bei Cicero, im Mittelalter, in der Neuzeit und schließlich noch im frühen 20. Jahrhundert. Erst die Verbrechen des Dritten Reiches, so zeigt Christian Meier in seinem nachdenklichen Essay, führen zu einer zentralen Zäsur in der Geschichte der Erinnerung. Das liegt an der unvorstellbaren Dimension des begangenen Unrechts.

    "Ich glaube, dieses Verbrechen verfolgt die Leute immer wieder bis in den Schlaf. Unabhängig davon, ob sie mitgemacht haben – inzwischen gibt es ja kaum noch jemanden am Leben, der da mitgemacht hat. Deswegen braucht man sich darum, glaube ich, keine Sorgen zu machen, dass es vergessen werden könnte. Eine andere Frage ist natürlich, wie man auf Dauer damit umgehen will. Wir müssen eigentlich Wege finden, um das einer Gesellschaft, auch einer deutschen Gesellschaft, die inzwischen durch die Urenkel derer bestimmt wird, die das gemacht haben – für die das irgendwie tragbar zu machen."

    Damit ist eine Frage angesprochen, die das schmale Buch von Christian Meier allenfalls am Rande berührt – und die sich mit Blick auf moralische Erinnerungs-Diskurse so leicht auch nicht beantworten lässt. Vielmehr zeichnet Meier im zweiten Teil seines Essays die bisherigen Stationen der öffentlichen Auseinandersetzung mit der Geschichte des Dritten Reiches nach: die Verdrängung des von den Deutschen begangenen Unrechts im Zuge der Aufbau-Euphorie und die erst allmählich einsetzende Bewusstseinsbildung und Aufklärung.

    "Das beginnt mit diesem eigentlich merkwürdigen Akt, dass 1957 ein Polizeioberrat, oder was auch immer er gewesen ist, sich eine gleiche Stellung einklagen wollte. Bei der Gelegenheit hat man den Fall untersucht und hat festgestellt, der hat 4000 Juden auf dem Gewissen gehabt. Und alle, die bezeugen sollten, was er für eine schöne Stellung bei der Polizei gehabt hat, saßen mit drin, weil die auch daran beteiligt gewesen sind. Da ist die letzte und zu weit gehende Konsequenz aus der relativ toleranten Wiedereinstellung von Tätern gezogen worden – und das hat zum ersten Mal ein gewisses Aufsehen erregt bei der Presse."

    Die großen Wegmarken dieses Wandels in der Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich sind bekannt: die Auschwitz-Prozesse, die Debatte um Helmut Kohls Besuch auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg, Richard von Weizsäckers Rede zum 8. Mai 1985, der Historikerstreit im folgenden Jahr. Schließlich die kontroversen Diskussionen der 90er-Jahre, etwa um die Wehrmachtsausstellung des Hamburger Institutes für Sozialforschung, um Daniel Goldhagens Buch über Hitlers willige Vollstrecker und um Martin Walsers Rede bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels. Viel Neues ist dabei kaum zu entdecken. Und trotzdem bietet Christian Meiers essayistischer Streifzug durch die europäische Geschichte interessante Einblicke in die Dialektik von kollektivem Vergessen und öffentlicher Erinnerung, von Verdrängung und bewusster wie notwendiger Reflexion über begangenes Unrecht. Am Ende widmet sich Meier der Erinnerung an die DDR. Angesichts vieler nostalgischer Rückblicke plädiert er für eine genaue und intensive Auseinandersetzung mit der realsozialistischen Diktatur.

    "Schon allein, was Lehrer ausmachen konnten, die das Weiterkommen an der Schule verhinderten. Was in der Universität passierte, indem die Leute bestimmten Lehrgängen zugeteilt wurden, ein Medizinstudium zum Beispiel davon abhängig gemacht wurde, dass man drei Jahre Wehrpflicht usw. Es waren überall kleine Diktatoren, die eine Menge angerichtet haben. Indem das übernommen wird von Lehrern, von Professoren, von Polizeileuten, von Meistern usw. Nur dadurch ist ja das Regime überhaupt dazu gekommen, vielen Leuten ihre Lebenschance zu nehmen oder zu beschneiden. Es ist unendlich viel menschliches Unrecht geschehen. Das muss irgendwie bewusst werden. Die Aufgabe besteht. Aber ich weiß nicht, wann sie gelöst werden kann."


    Und angegangen werden sollte sie von den Ostdeutschen selbst. Nicht von den Westdeutschen, betont Christian Meier. Dann verweist er auf mögliche historische Parallelen: Bald 21 Jahre sind seit dem Fall der Mauer vergangen. Geht man vom Jahr 1945 21 Jahre voran, steht man im Jahr 1966, also an den Anfängen der breiten und kritischen Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich und der Shoah. Vielleicht bedarf es auch beim Rückblick auf die DDR einer längeren Zeitrechnung. Eine von vielen wichtigen Fragen, die Christian Meier in seinem anregenden Essay über Vergessen und Erinnern stellt.

    Christian Meier: Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns. Vom öffentlichen Umgang mit schlimmer Vergangenheit. Erschienen bei Siedler, 160 Seiten, 14, 95, Siedler